Max
M ax blinzelte. Das hereinfallende Morgenlicht hatte ihn geweckt. Das Bett, auf dem er lag, war überraschend breit für das schmale Pensionszimmer. Trotzdem kuschelte sich Lenyo eng an ihn. Seine Atemzüge gingen ruhig und gleichmäßig. Jetzt erinnerte Max sich daran, wie er sich in der Nacht an den anderen geschmiegt hatte. Ein schönes Gefühl. Im Schlaf mussten sie sich gedreht haben, er wandte Lenyo jetzt den Rücken zu. Max spürte Lenyos Kopf an seinem Schulterblatt und den kräftigen Arm um seine Hüfte. Kurz versank er in dem angenehmen Gefühl, das die Umarmung in ihm auslöste. Wann hatte er das letzte Mal eine ganze Nacht mit einem anderen Mann als Stefan im gleichen Bett verbracht?
Vorsichtig, um ihn keinesfalls zu wecken, drückte er sich etwas enger an Lenyo. Dann schob er die Hand unter die Bettdecke und tastete nach der Wunde. Seine Finger strichen über glatte Haut. Und jetzt, wo er in sich hineinhorchte, spürte Max auch keinen Schmerz mehr, nicht den geringsten.
Das war unmöglich. Aufgeregt schlug er die Bettdecke zurück und richtete sich auf. Lenyo murmelte etwas in das Kissen, doch alles, was Max tun konnte, war, auf seinen unversehrten Oberkörper zu starren. Nicht einmal eine Narbe zeugte von der Stichverletzung, die ihm der Jäger zugefügt hatte.
Lenyo richtete sich neben ihm auf und grinste ihn verschlafen an. »Guten Morgen. Geht es dir besser?«
Er beugte sich vor, vermutlich um einen Blick auf die nicht mehr vorhandene Wunde zu werfen, und die Spitzen seiner schulterlangen Haare kitzelten Max’ nackte Haut.
»Das sieht gut aus.« Lenyo klang zufrieden.
Max öffnete den Mund, doch da klopfte es an der Zimmertür.
»Kann ich reinkommen?«, fragte eine Frauenstimme vom Flur aus. »Oder müsst ihr euch erst etwas anziehen?«
Bevor einer von ihnen antworten konnte, wurde die Tür aufgestoßen und Lenyos Schwester trat ein. Sie balancierte ein rundes Tablett in der Hand, das mit Croissants, Marmelade und dampfenden Kaffeetassen beladen war.
»Sehr gut, ihr seid wach«, sagte sie, bevor sie das Tablett Lenyo in die Hand drückte und weiter zum anderen Ende des Raums ging, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Sie öffnete es einen Spalt und drehte sich zu ihnen um. »Dann könnt ihr ja jetzt etwas essen und danach verschwinden.«
»Dir auch einen wunderschönen guten Morgen, Schwesterherz.« Lenyo stellte das Tablett auf dem Boden ab, griff nach einem Croissant und schnupperte daran. »Die sind ja sogar noch warm.«
Neugierig blickte Max von Yelna zu Lenyo und wieder zurück. Es war unübersehbar, dass sie miteinander verwandt waren. Beide besaßen die gleichen warmen, braunen Augen, markante Wangenknochen und langes, dunkles Haar, das ihnen bis auf die Schultern fiel. Selbst ihr Lächeln war identisch.
»Seid ihr Zwillinge?« Er griff nach einer Kaffeetasse.
Yelna schnalzte mit der Zunge. »Der Sabbelkopp und ich? Bei der grünen Fee, nein! Das hätte gerade noch gefehlt.«
»Diese bezaubernde Dame ist meine ältere Schwester«, ergänzte Lenyo. Er betonte das Wort mit Genuss. »Zwillinge sind auf dieser Seite selten.«
»Auf dieser Seite …« Max stellte die Tasse wieder ab, ohne einen Schluck genommen zu haben.
»Ein gutes Stichwort.« Yelna verließ den Platz am Fenster, kam zum Bett und schnappte sich Lenyos Croissant. »Wann bringst du die beiden zurück?«
Sofort bekam Max ein schlechtes Gewissen. »Robin!«
»Schläft noch«, beruhigte ihn seine Retterin. »Ich habe gerade nach ihr geschaut.«
Lenyo hielt einen Schlüssel in die Höhe und blickte seine Schwester fragend an. Die zog einen purpurfarbenen Stein aus der Tasche ihres Hosenanzugs und drehte ihn hin und her.
»Du hast einen Permit-Stein?« Lenyo klang überrascht.
»Frau hat so ihre Quellen«, erwiderte sie.
»Was ist ein Permit-Stein?«, fragte Max.
Die Geschwister blickten ihn an.
»So eine Art Generalschlüssel«, sagte Yelna. »Kommen wir jetzt zum Wesentlichen.«
Sie biss vom Croissant ab, gab es ihrem Bruder zurück und fixierte ihn mit verschränkten Armen, während sie kaute.
»Ist nicht so leicht.« Lenyo klang verlegen. »Ich habe keine Tränen mehr.«
Yelna schloss kurz die Augen, schluckte und blickte dann erst entschuldigend Max und anschließend entschlossen ihren Bruder an. »Hier können sie jedenfalls nicht bleiben, das weißt du.«
»Wir waren vorsichtig«, entgegnete Lenyo.
»Spielt keine Rolle, falls Monsieur heute ins Libertinage kommt …«
»Ist damit zu rechnen?«
Yelna strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Damit ist immer zu rechnen. Er ist überfällig. Normalerweise kommt er jeden Tag, um zu überprüfen, dass in seinem Etablissement alles läuft. Also?«
Lenyo nickte ergeben. »Gut. Ich bringe sie nachher zu Lydic.«
»Der wird sich freuen.«
»Moment mal«, unterbrach Max das Zwiegespräch. Die Party gestern. Der Jäger. Der Sprung. Die unzerstörte Gedächtniskirche. »Wovon redet ihr eigentlich? Ich denke, es ist Zeit für ein paar Antworten.«
Lenyo neben ihm versteifte sich, während Yelna tief seufzte. »Dann wecke ich wohl mal deine Freundin.«
Sie ging nach draußen, um Robin zu holen. Max drehte sich zu Lenyo. »Du hast mich gestern Andersseiter genannt. Ich nehme an, damit hast du nicht gemeint, dass ich auf Männer stehe.«
Lenyo schmunzelte. »Nein. Dann wäre ich auch ein Andersseiter.«
»Und das bist du nicht.«
»Nicht von dieser Seite aus betrachtet.« Er kletterte aus dem Bett, fischte Max’ Hemd vom Sessel und reichte es ihm.
Wortlos zog sich Max an. Die Verbundenheit, die er nach dem Aufwachen gespürt hatte, begann zu verblassen und drohte der furchtbaren Leere Platz zu machen, die sich in seinem Inneren einnisten wollte. Einen Herzschlag lang war er versucht, auf Lenyo zuzugehen und die Arme um ihn zu schlingen, wie er es gestern Nacht getan hatte.
»Kann ich mich irgendwo frisch machen?«, fragte er stattdessen.
Lenyo deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Unten im Hof gibt es einen Verschlag mit Sanitäranlagen.«
Max hob die Augenbraue und knöpfte sein Hemd zu. Waschen und Zähneputzen würden warten müssen, bis er wieder zu Hause in Grunewald war. In seinem Haus.
Die Zimmertür wurde aufgerissen und Robin stürzte auf ihn zu. »Geht es dir gut?«
Er hob das Hemd an und zeigte ihr die Stelle, an der keine Wunde mehr war. »Alles in Ordnung.«
»Okay, das ist jetzt mal krass.«
Yelna trat hinter ihr ein, schloss die Tür und lehnte sich dagegen. Langsam wurde es voll in dem schmalen Zimmer.
»Setzt euch«, forderte Lenyo sie alle auf, während er sich selbst in dem mitgenommenen Sessel niederließ, der dem Bett gegenüberstand. »Dann erzähle ich.«
Robin wirbelte zu Lenyo herum. »Du! Was hast du gestern mit mir gemacht?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich habe dir etwas gegeben, das dich beruhigt.«
»Betäubt meinst du wohl!«
Max sah Lenyo an. »Du hast sie betäubt?«
»Sie hat den Schlaf gebraucht.« Er gab sich gelassen, doch in Max’ Ohren klang es so, als täte es ihm ein bisschen leid.
»Das –«, begann Robin, doch Yelna unterbrach sie: »Dafür haben wir jetzt keine Zeit. Du kannst ihm gern den Kopf abreißen, wenn er euch nach Hause gebracht hat.«
Robin warf Lenyo noch einen wütenden Blick zu, dann jedoch öffneten sich ihre Fäuste und sie machte es sich neben Max auf dem Bettrand bequem. Sie verschränkten ihre Finger miteinander und Max drückte kurz zu, um sie zu beruhigen.
»Ihr seid nicht mehr in eurem Berlin«, begann Lenyo endlich. »Ihr seid in unser Berlin gewechselt, als ihr durch das Portal gesprungen seid.«
Robin schob ihr Kinn vor. »Was bedeutet das?«
Lenyo lächelte, aber es wirkte traurig. »Erinnert ihr euch daran, wie ihr mich gestern gefragt habt, ob wir in die Vergangenheit gereist sind?«
Max’ Herzschlag beschleunigte sich. »Du hast gesagt, dass wir das nicht sind.«
»Sind wir auch nicht.«
Yelna löste sich von der Tür und ergriff eine der Kaffeetassen, die sie mitgebracht hatte. »Was mein Bruder euch mitteilen möchte, ist, dass es zwei Berlins gibt.«
»Zwei?«
Lenyo nickte. »Das Berlin der Menschen, also eures. Und die Spiegelstadt, das Berlin der Feenwesen.«
Max traute seinen Ohren nicht. »Feenwesen?!«
Lenyo verzog seine Miene kein bisschen. »Feenwesen. Altes Volk. Nennt uns, wie ihr wollt. Ihr Menschen habt uns im Lauf der Jahrhunderte viele Namen gegeben.«
Max begann vor Aufregung zu schwitzen. Was Lenyo da behauptete, war völliger Unsinn. Feenwesen gab es nicht. Das galt aber auch für Magie, die Stichwunden verschwinden lassen konnte, als seien sie nie da gewesen, oder für Risse aus Dunkelheit, die vor einem in alten U-Bahn-Stationen auftauchten.
»Feen?« Robin klang ebenfalls ungläubig. »Ihr wollt damit sagen, ihr seid Feen? Aber müsstet ihr dann nicht winzig klein sein? Und Flügel haben und so?«
Yelna verzog die Lippen zu einem spöttischen Lächeln und setzte sich auf die Lehne des Sessels. »Du meinst Blütenelfen. Davon gibt’s in Berlin leider nicht mehr viele. Also weder hier bei uns noch bei euch.«
Max stieß mit dem Fuß beinah das Frühstückstablett um. »In unserem Berlin gibt es auch Feen?«
»Feenwesen «, korrigierte Lenyo. »Wir sind keine homogene Spezies. Feenwesen ist der Oberbegriff für sämtliche magische Lebewesen: Sylphen, Kobolde, Tierwandler, Undinen und so weiter. Es gibt auch eine Untergattung, die wir tatsächlich als Feen bezeichnen, aber das zu erklären würde jetzt viel zu lange dauern. Aber um auf deine ursprüngliche Frage zurückzukommen: Ja, auch in eurem Berlin leben einige von uns, allerdings inkognito.«
»Es halten sich hartnäckige Gerüchte, dass sich im Botanischen Garten auf eurer Seite ein kleiner Stamm Blütenelfen versteckt«, ergänzte Yelna.
Max sah auf die goldenen Manschettenknöpfe. »Dann waren die Gäste auf der Party gestern alles Feen? Ich meine: Feenwesen?«
Lenyo schüttelte den Kopf. »Nur ein paar. Die meisten Besucher waren Menschen. Unter den Gästen gab es außer mir aber noch weitere Feenwesen. Meist sind das solche, die auf eurer Seite leben, aber Sehnsucht nach zu Hause haben.«
Robin ließ Max’ Hand los. »Warum feiern sie dann nicht hier? In eurem Berlin?«
»Das ist nicht so einfach.« Yelnas Stimme klang dunkler. »Die Sache ist die …« Sie suchte nach Worten.
»Es sind Geflüchtete«, nahm Lenyo den Gesprächsfaden auf. »Feenwesen, die der Spiegelstadt den Rücken gekehrt haben und auf die Andersseite geflohen sind, um sich dort ein Leben aufzubauen. Und das sieht unsere Regierung gar nicht gern.«
Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Für eine Sekunde stahl sich so deutlich Trauer in seinen Ausdruck, dass Max die Hand ausstreckte und sein Knie berührte. Ihre Blicke trafen sich.
»Der Angreifer!«, sagte Robin. »Deshalb hat er uns verfolgt. Er hat geglaubt, wir sind von hier.«
Lenyos Gesicht verfinsterte sich. »Und er war nicht allein. Unsere Regierung verbietet den Kontakt zu Andersseitern, die Grenzen sind seit vielen Jahrzehnten geschlossen. Die beiden Berlins sollen strikt voneinander getrennt bleiben.«
»Deshalb müsst ihr auch von hier verschwinden«, ergänzte Yelna. »So schnell wie möglich.«
Robin stand vom Bett auf und straffte die Schultern. »Von mir aus können wir sofort aufbrechen.«
»Nicht so schnell«, bat Max.
»Von jetzt auf gleich wird das ohnehin nichts«, sagte Yelna und es klang, als bedaure sie das. »Ihr könnt nicht einfach zwischen eurem Berlin und unserem hin und her springen.«
Sie stand auf, griff nach der Hand ihres Bruders und zog ihn in die Höhe.
Max sah, wie Robins Finger nervös zuckten. »Und was bedeutet das schon wieder?«
»Du kannst nicht mal eben so von einer Seite auf die andere spazieren, wie durch eine Tür. Unser Berlin ist vor euch Menschen geschützt, durch eine magische Grenze.«
»Vor uns?«, fragte Max überrascht und stand ebenfalls auf.
Lenyo nickte. »Die Grenze ist undurchlässig. Eine unüberwindliche Barriere.«
»Und wie kommen wir dann zurück?« Robin schob ihre Hände so tief in die Hosentaschen, dass der Stoff ausbeulte. Sie machte das nur, wenn sie nervös wurde. Als wolle sie nicht, dass fahrige Handbewegungen ihre Unruhe preisgaben.
»So, wie wir hergekommen sind«, antwortete Lenyo gelassen. »Man kann Portale öffnen. Mit dem richtigen Schlüssel.«
Der seltsame Gegenstand, den er in der U-Bahn-Station in die Luft geworfen hatte, blitzte in Max’ Erinnerung auf. Danach war der Riss in der Luft erschienen. »Der Tropfen aus goldenem Glas.«
Lenyo nickte. »Man nennt sie goldene Tränen. Sie öffnen ein Portal zur anderen Seite.« Er räusperte sich. »Das Problem ist: Ich habe keine mehr.«
Robin setzte an, um etwas zu sagen, doch Lenyo hob die Hand. »Ich weiß, wo ich neue bekomme. Das dauert allerdings ein paar Stunden.«
»Kein Problem«, erwiderte Robin. »Dann holen wir uns eben diese Tränen.«
»Geht nicht. Ich meine: Dorthin könnt ihr mich nicht begleiten.« Lenyo blickte zu seiner Schwester, als hoffe er, dass sie etwas sagen würde, doch Yelna senkte den Kopf. Er schaute wieder zu Robin und Max. »Hier könnt ihr leider nicht länger bleiben.«
Max konnte deutlich sehen, dass Robin kurz vor dem Platzen stand. Schnell legte er ihr eine Hand auf die Schulter. »Vertrau ihm, er hat einen Plan.«
»Hat er das?«, zischte sie.
Max bemühte sich, seine Stimme beruhigend und fest klingen zu lassen. »Er bringt uns zu einem Freund.« Jedenfalls hatte das vorhin so geklungen. Er wandte er sich Lenyo zu. »Richtig?«
Lenyo lächelte. »Richtig.«
»Wenn das so ist«, fuhr Max fort, »würde ich mich doch noch frisch machen, bevor wir aufbrechen. Geht das? Ums Eck müsste ich nämlich auch.«
Yelna seufzte. »Ich bringe euch ein paar Handtücher. Aber ihr müsst euch beeilen.«
Sie öffnete die Tür und trat hinaus auf den Gang.
»Yelna«, sagte Max, bevor sie verschwunden war.
»Ja?«
»Danke. Für gestern Abend. Und für das Frühstück.«
Sie erstarrte. »Hat dir mein Bruder nicht gesagt, dass du dich auf unserer Seite besser nicht bedanken solltest? Es gibt Feenwesen, die dir einen Strick daraus drehen könnten.«
»Was für einen Strick?«
»Das kann er dir nachher erklären.« Sie warf Lenyo einen vielsagenden Blick zu. »Der wird dir noch Ärger machen.«