N achdem sie sich alle frisch gemacht hatten – die Dusche bestand aus einem lindgrün gekachelten Raum in einem heruntergekommenen Gebäude –, verließen sie das Libertinage durch die Hintertür. Lenyo führte Robin und Max durch schmale Seitenstraßen und kleine Innenhöfe.
»Verhaltet euch unauffällig«, hatte er ihnen eingeschärft. Max bezweifelte, dass ihm das gelang – zumal er keine Ahnung hatte, wie er das anstellen sollte.
An diesem Vormittag erkannte er deutlich, dass es sich bei den Passanten nicht ausschließlich um Menschen handelte. Ja, die meisten unterschieden sich nicht von Robin und ihm. Daneben flanierten allerdings auch andere Wesen: gedrungene Kreaturen, die Max ihrer Körpergröße wegen zunächst für Kinder hielt, deren runzelige Gesichter jedoch deutlich machten, dass sie das nicht waren; Frauengestalten, die eine Spur zu groß und zu dünn waren und deren Haut wie Baumrinde aussah. Auf der Schulter eines weit ausschreitenden Mannes saß eine Kreatur, die Max an einen Marder erinnerte. Sie diskutierte lautstark mit dem Mann, der sie trug.
Robin stieß ihm den Ellenbogen in die Seite. »Mund zu.«
»Dich lässt das wohl alles kalt«, flüsterte er ungläubig zurück.
»Wie würde es dir gefallen, angestarrt zu werden?«
Max setzte gerade zu einer Antwort an, als sie um die Ecke bogen und sein Blick auf die seltsamsten Fahrzeuge fiel, die ihm jemals untergekommen waren: Sie erinnerten ihn an Rikschas, bestanden nur aus ein paar Stangen, zwei großen Rädern und einem breiten Fahrersitz. Statt von Pferden oder Eseln wurden die ungewöhnlichen Kutschen von Tieren gezogen, die wie Straußenvögel aussahen. Max blieb so abrupt stehen, dass Robin in ihn hineinlief.
»Was ist das denn?«
»Die Straußenkutschen?« Lenyo grinste. »Keine Angst. Mit denen fahren wir nicht.«
»Aber …« Max beobachtete, wie eine der Gestalten mit runzeliger Haut neben eine Kutscherin auf den Sitz des Gefährts kletterte. Die Frau ließ die Zügel schnalzen und der Strauß rannte mit irrsinniger Geschwindigkeit los.
»Ich meine«, stammelte Max, »ich kenne diese Fotos, die in den Zwanzigerjahren gemacht worden sind. Von dieser Revuetänzerin. Aber ich dachte immer, die waren alle gestellt.«
Lenyo trieb sie mit einer Handbewegung zum Weitergehen an. »Waren sie auch. Auf eurer Seite würde das nicht funktionieren. Die Tiere hier sind keine gewöhnlichen Strauße. Ich vermute, Josephine Baker hat ein paar unserer Kutschen gesehen und sich davon inspirieren lassen.«
Max nickte, obwohl er kein Wort verstand. »War die etwa auch eine von euch?«
»Nein, aber sie galt als Freundin der Feenwesen.«
Statt mit einer Motordroschke oder einer Straußenkutsche fuhren die drei mit der U-Bahn. Max konnte kaum glauben, wie sehr einerseits alles nach dem Berlin aussah, das er kannte, und wie unterschiedlich es zugleich war. Die Untergrundbahn wirkte auf ihn altmodischer, aber auch sauberer und eleganter. Von der Station Reichskanzlerplatz, an der sie ausstiegen, hatte er bisher nie gehört. Die Decke der Eingangshalle bestand aus prächtig lackierten Keramikfliesen, die ein Vermögen gekostet haben mussten, und erst als Robin, Lenyo und er wieder auf der Straße standen, erkannte Max, wo sie waren. »Das ist ja der Theodor-Heuss-Platz.«
Lenyo überquerte eine gepflasterte Straße. »Die Station wurde auf eurer Seite in den vergangenen Jahrzehnten ein paar Mal umbenannt.«
»Warum nicht auf dieser?«, wollte Robin wissen. »Feenwesen haben keinen Reichskanzler, oder?«
»Nein«, antwortete Lenyo abweisend. »Haben wir nicht.«
Ehe einer von ihnen weitere Fragen stellen konnte, beschleunigte er seine Schritte. Max und Robin mussten sich beeilen, um ihn nicht zu verlieren. Sie eilten durch ein Gewirr aus Gassen bis in ein Wohnviertel, in dem sich ein stuckverzierter Altbau an den nächsten reihte.
Lenyo führte sie bis zur breiten Eingangstür eines mehrstöckigen Eckhauses, das einst prächtig gewesen sein musste, seine besten Tage aber lange hinter sich hatte. Als er den Klopfer betätigte, regnete Putz auf sie herab.
Ein älterer Herr riss die Tür nach innen auf. Er trug einen dunkelgrauen Anzug mit abgewetzten Ärmeln, marineblaue Hosenträger über einem hellen Hemd und hatte die schlohweißen Haare zu einem strengen Seitenscheitel gekämmt. Seine blauen Augen blitzten begeistert hinter den runden Gläsern seiner Nickelbrille, als sein Blick auf Max und Robin fiel.
»Kommt rein, kommt rein. Nicht dass euch noch jemand sieht.«
Kaum standen alle drei im Hausflur, warf ihr Gastgeber die Tür so fest ins Schloss, dass die darin eingelassene Butzenglasscheibe klirrte, und legte einen Riegel vor. Dann fuhr er in einer eleganten Drehung zu ihnen herum.
»Wie schön, dass alles geklappt hat«, sagte er. »Yelna hat mich bereits grammofoniert.«
»Lydic.« Lenyo schloss ihn in die Arme. »Danke.«
Der Alte klopfte ihm verlegen auf den Rücken, löste sich aus der Umarmung und konzentrierte sich erneut auf Robin und Max. »Seid ihr wirklich Andersseiter?«
»Ich schätze schon«, antwortete Robin, und Max nickte vorsichtig.
Lydic klatschte in die Hände und sprang in die Luft. Statt von der Schwerkraft wieder nach unten gezogen zu werden, blieb er eine Handbreit über dem dunkelroten Teppich. »Echte Menschen! Hier! Dass ich das noch erleben darf.«
Als er sich in der Luft umdrehte, erkannte Max die durchsichtigen Flügel, die aus zwei schmalen Schlitzen in Lydics Anzug lugten. Er und Robin wechselten einen Blick.
»Komm mal wieder runter, Lydic«, bat Lenyo ihren Gastgeber und lehnte sich an den Rahmen einer der vielen Durchgänge, die vom langen Flur abgingen. »Wir müssen jetzt alle einen kühlen Kopf bewahren.«
Lydic räusperte sich, klappte die Flügel ein und ließ sich auf den Boden fallen. »Ich weiß, Junge. Freilich. Es ist nur: echte Menschen! Aus Fleisch und Blut! Hier!«
»Genau das ist ja das Problem. Ich nehme nicht an, dass du noch goldene Tränen besitzt?«
Ihr Gastgeber schüttelte bedauernd den Kopf.
»Dachte ich mir schon. Können Max und Robin bei dir bleiben, während ich welche besorge?«
Lydic sagte so überschwänglich zu, dass man meinen könnte, sie täten ihm einen Gefallen und nicht umgekehrt. Max blickte Lenyo bedauernd nach, als er aus der Wohnung verschwand, doch der aufgeregt schwatzende Lydic bestürmte sie mit so vielen Fragen, dass er schnell abgelenkt war. Lydic wollte wissen, wie alt sie beide waren, wo in Berlin sie lebten – Grunewald – und welchen Berufen sie nachgingen – Sozialarbeiterin und Marketingassistent.
»Marketing? Das ist ein anderes Wort für Absatzwirtschaft, nicht wahr?«, hakte Lydic nach, während er sie durch den langen Flur führte. Er schwebte wieder eine Handbreit über dem Boden. Max fragte sich, wie die papierdünnen, an eine Riesenfliege erinnernden Flügel sein Körpergewicht tragen konnten.
»Was für ein Feenwesen sind Sie?«, fragte er, statt auf die Frage ihres Gastgebers einzugehen.
»Ich gehöre der Spezies der Sylphen an.« Lydic zog den Kopf ein und flog durch den Durchgang zu seiner Rechten. Als Max und Robin ihm folgten, kamen sie in ein vollgestopftes Zimmer, in dem eine Couch und zwei Sessel um einen kniehohen Beistelltisch aus Mahagoni drapiert waren. Sowohl auf der Tischplatte als auch auf den Sitzgelegenheiten türmten sich die absurdesten Gegenstände. Auf einem Stapel Zeitschriften befand sich ein altmodischer Eierkocher, der in Farbe und Ästhetik an die 1970 er-Jahre erinnerte. Daneben standen eine Zinnvase, eine tannengrüne Flasche, in der ein zusammengerolltes Pergament steckte, sowie ein metallener Münzwechsler, wie ihn Schaffner im öffentlichen Personennahverkehr verwendet hatten, zumindest in Max’ Kindheit. Lydic flog zu einem edel aussehenden Radioschrank und begann, sich durch die Magazine und Taschenbücher zu wühlen, die sich dort stapelten.
Max trat zu einem Sessel und hob eine goldlackierte Winkekatze an.
»Vorsichtig, bitte«, rief ihm Lydic zu. »Dieses Kunstobjekt ist unglaublich wertvoll.«
Max sah zunächst verdutzt zu Lydic, dann auf die Plastikkatze und setzte sie wieder auf ihren Platz.
»Da ist es ja!« Lydic hielt ein großes, gelbes Taschenbuch in der Hand. Er landete und reichte es Max.
»Marketing für Dummies«, las der vom Umschlag ab.
Der alte Mann nickte feierlich. »Hat eine gute Freundin für mich über die Grenze geschmuggelt. Leider bin ich nicht so recht schlau daraus geworden. Aber vielleicht kannst du mir das eine oder andere erklären?«
Um Zeit zu schinden, blätterte Max durch das Buch.
»Ich bin Archivar«, erklärte Lydic stolz. »Vor allem interessiere ich mich für die menschliche Kultur. Wie ihr seht, habe ich ein stattliches Sammelsurium an Schätzen in meinen Besitz bringen können. Leider kenne ich mich nicht so recht mit allem aus.« Er deutete auf einen Zauberwürfel, von dessen Seiten bereits einige Farbaufkleber verschwunden waren. »Das hier zum Beispiel. Das scheint eine Art winziger Tresor zu sein. Ich konnte seinen Mechanismus allerdings noch nicht knacken.«
»Das ist …«, begann Max, überlegte es sich jedoch anders, »hochinteressant. Und all diese Dinge gibt es nicht in Ihrem Berlin?«
»Nicht seit der Großen Teilung.«
»Der Großen Teilung?«
»Der Zeitpunkt, an dem die Spiegelstadt erschaffen wurde.«
Max’ Puls beschleunigte sich.
Lydic rückte sich die Nickelbrille zurecht. »Hat euch Lenyo nichts davon erzählt?«
Robin gesellte sich zu ihnen. »Nein.«
»Oh.« Ihr Gastgeber begann erneut mit den Flügeln zu flattern. »Nun … Das Ganze ist jetzt rund hundert Jahre her. Unser Zusammenleben mit den Menschen wurde immer schwieriger. Und nach … gewissen Zwischenfällen … beschloss der Hohe Rat, dass sich eure und unsere Wege besser für immer trennen sollten.«
»Zwischenfälle?«, erkundigte sich Max, während Robin fragte: »Der Hohe Rat?«
Lydic schwankte in der Luft hin und her. »Das ist eine lange Geschichte.«
Als weder Robin noch Max etwas erwiderten, fuhr er fort: »Die kurze Antwort ist: Ende der 1920 er erschuf die königliche Familie ein zweites Berlin, eine Art Spiegelbild des ursprünglichen. Beide Städte sind miteinander verbunden, aber durch den Wall getrennt, versteht ihr? Die eine Seite wurde den Menschen überlassen, auf die andere haben sich die Feenwesen zurückgezogen. Und eigentlich ist der Übergang von einem Berlin in das andere streng verboten.«
»Sie meinen, Feenwesen und Menschen haben einmal zusammengelebt?« Max’ Gedanken rasten. Die Märchen und Sagen, die ihm seine Großmutter immer erzählt hatte, fielen ihm ein: die Heinzelmännchen von Köln und die sieben Zwerge, die Schneewittchen Unterschlupf gewährt hatten.
»Die Andersseiter wissen das natürlich nicht mehr. Sie haben unsere gemeinsame Vergangenheit vergessen. Dafür hat unsere damalige Königin gesorgt.«
»Aber warum?« Robin klang ebenso aufgeregt wie Max.
Lydic zuckte mit den Schultern. »Dafür gibt es viele Gründe. Der harmloseste ist, dass sich die menschliche Technik auf eine Art weiterentwickelt hat, die es den magischen Lebewesen schwer gemacht hat, weiter zu existieren. Der Rückzug der Feenwesen dauert Jahrhunderte an. Viele von uns zogen sich bereits zu Zeiten der Inquisition mit unseren Königinnen und Fürsten in die Anderswelt zurück.«
»Sie meinen in die Spiegelstadt?«, fragte Max.
Lydic schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Ich spreche von einer anderen Welt. Oder zumindest einer anderen Dimension, keine magische Kopie der menschlichen Welt. Einige allerdings wollten nicht gehen. Uns gefiel es hier in der Welt der Menschen, wo sich die Dinge verändert haben und nicht auf ewig starr geblieben sind. Nicht so wie in der Anderswelt, die im Grunde noch immer im späten Mittelalter festhängt. Außerdem haben wir lange geglaubt, wir könnten mit den Menschen koexistieren. Das war eine bittere Fehleinschätzung.« Lydic seufzte. »Also wurden die Spiegelstädte geschaffen. Berlin ist nur eine davon, doch zu den anderen haben wir keine Verbindung. Ironischerweise hat sich eure Welt weiterentwickelt, während wir in unserem Berlin offenbar den gleichen Fehler machen wie jene Feenwesen, die sich in die Anderswelt zurückgezogen haben: Die Stadt ist in eine Art Dornröschenschlaf gefallen. Seit fast hundert Jahren hat sich hier nichts nennenswert verändert.«
»Deshalb sieht alles so aus wie eine historische Filmkulisse«, murmelte Max. Abgesehen von all dem Ramsch aus den Siebziger- und Achtzigerjahren sah das Zimmer genauso aus, wie er sich einen Salon aus der Zeit des Übergangs vom 19 . ins 20 . Jahrhundert vorstellte: Von der holzvertäfelten Decke hing ein kleiner Kronleuchter, schwere Samtvorhänge säumten die Fenster und die Tapete an den Wänden war mit floralen Mustern überladen. In einer Ecke stand ein Grammofon mit einem gewaltigen Trichter.
»Aber warum?«, fragte er. »Warum ändert sich hier nichts?«
Lydic räusperte sich. »Ich sehe schon, das wird ein längeres Gespräch. Ich würde vorschlagen, dafür brühe ich uns einen Tee auf.«
Er drehte sich um und flog in Richtung Flur. Am Durchgang hielt er inne und warf einen Blick über die Schulter. »Aber wenn ich euch von damals erzählt habe, müsst ihr mir meine Fragen zur Andersseite beantworten, versprochen?«
Max grinste. »Versprochen.«
Nachdem Lydic verschwunden war, wechselte Max mit Robin einen ungläubigen Blick. »Kannst du glauben, was hier gerade abgeht?«
Robin hob beide Hände. »Irre, oder? War doch keine so schlechte Idee, gestern noch auszugehen, oder?«
»Machst du Witze? Das ist das Beste, was mir seit Langem passiert ist!« Er deutete auf die altmodischen Gegenstände. »Ich meine, das ist doch der absolute Wahnsinn! Findest du nicht auch?«
»Schon. Aber wenn sowohl Lenyo als auch Lydic so darauf erpicht sind, unsere Anwesenheit hier geheim zu halten, könnte die Situation noch ganz schön brenzlig werden.« Vielsagend betrachtete sie die Stelle an seinem Bauch, an der er gestern einen Messerstich kassiert hatte.
Max verstand ihren Einwand, trotzdem kribbelte sein ganzer Körper vor Aufregung.
Robin hob einen Stapel Zeitschriften von der Couch, stellte ihn vorsichtig auf dem Boden ab und setzte sich auf die frei gewordene Fläche. »Jedenfalls bin ich froh, dass es dir besser geht.« Sie schnappte sich den Zauberwürfel und spielte damit herum, während Max über den weichen Teppich schritt und die obskuren Gegenstände bewunderte. Als er hinter der Couch vorbeilief, warf er einen Blick über Robins Schulter. Die konzentrierte sich verbissen auf den Zauberwürfel.
»Früher warst du besser darin«, kommentierte er.
Sie ging nicht darauf ein, sondern legte das Spielzeug einfach zur Seite und lehnte sich zurück. Er wollte sich gerade umdrehen, um sich das Grammofon näher anzusehen, als sein Blick auf die gegenüberliegende Wand fiel, genauer gesagt auf die sepiafarbene Fotografie, die dort hing.
Das Kribbeln, das Max auf der Haut spürte, seit sie das Haus des Archivars betreten hatten, verstärkte sich. Etwas an der Fotografie sorgte dafür, dass sich die Härchen in seinem Nacken aufrichteten. Wie in Zeitlupe schritt er auf das Bild zu.
Es handelte sich um ein Familienporträt in einem ovalen Holzrahmen: Ein älterer Herr saß neben einem Ehepaar in mittleren Jahren, hinter ihnen standen zwei junge Frauen. Sie alle trugen teure Kleidung: die Männer Anzüge, die ihn an Gardeuniformen erinnerten, die Frauen elegant fallende Seidenkleider. Kostbarer Schmuck fing blitzend das Licht ein.
»Sieht aus wie das Porträt einer Königsfamilie«, sagte Robin, die plötzlich neben ihm stand.
Still gab ihr Max recht. Um wen es sich bei den Abgebildeten handelte, stand nicht dabei. Wie Mitglieder der englischen Monarchie wirkten sie jedenfalls nicht. Wenn er sich recht erinnerte, war Wilhelm II . der letzte deutsche Kaiser gewesen – und wie dessen Familie ausgesehen hatte, davon hatte er keine Ahnung.
Dennoch lag in den Gesichtszügen der Fotografierten eine gewisse Vertrautheit. Der Mann und die Frau in der Mitte: Das mochten Adelige sein. Zumindest trug sie in ihren aufgesteckten Haaren ein Diadem. Die beiden Frauen, die hinter den Sitzenden standen, sahen sich ähnlich, vielleicht waren sie Schwestern. Der Anblick der rechts Stehenden jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Sie war wunderschön, doch der Blick, mit dem sie den Betrachter zu mustern schien, hätte die Hölle zufrieren lassen können. Die linke Schwester löste dieses Gefühl nicht bei ihm aus. Ihr Lächeln auf der Fotografie wirkte warm und einnehmend. Etwas an ihren Augen … Max verstand selbst nicht, warum ein Impuls ihn dazu zwang, den Arm auszustrecken.
»Was machst du da?«, hörte er Robin fragen.
Mit den Fingerspitzen strich er über das Bild, genau an der Stelle, an der die Hand der linken Schwester den pompösen Stuhl vor sich umfasste.
Das Glas erhitzte sich unter seiner Berührung. Max zuckte zurück, doch es war zu spät. Flüssige Flammen flossen durch seine Adern, ihm wurde schwindelig und im ersten Augenblick glaubte er, dass die Fotografie an der Wand sich veränderte. Er musste sich das einbilden!
Aber das tat er nicht.
Die Gesichtszüge der Frau, die er berührt hatte, alterten. Runzeln überzogen ihre glatte Haut, die Schattierung ihres Haares hellte sich auf. Ihr Gesicht schien schmaler, knochiger zu werden. Doch sie war immer noch schön. Das Einzige, was sich an ihr nicht veränderte, waren die Augen.
Augen, die Max kannte.
»Aber das ist ja …«, begann Robin atemlos und verstummte.
Max beendete ihren Satz: »Meine Großmutter.«