Lenyo
D ie Angst war allgegenwärtig.
Die Leute eilten schweigend die Straßen entlang, zogen den Kopf zwischen die Schultern, machten sich kleiner. Als wollten sie den Blicken der omnipräsenten Überwachung aus Jägern, Magie und Königshaus entgehen. Ein hoffnungsloses Unterfangen.
Und dabei mussten sie gar keine Angst haben. Die Häscher suchten lediglich Lenyo, Max und Robin. Wie es schien, wusste Tamyra, dass zwei Andersseiter hier waren. An jedem zweiten Block gab es Straßensperren. Es war nicht Lenyos erstes Hasch-mich-Spiel und bis heute war er stets entkommen.
Er kannte diesen Kiez wie seine Westentasche.
Im Gehen zog er ein Haarband aus der Tasche und band sich damit einen Knoten. Die Haarfarbe konnte er ohne Merilyn-Pulver nicht so schnell ändern. Die Jacke zog er aus und drehte sie auf links, schon war sie blau. Auf diese Art stach er zumindest nicht mehr aus der Menge.
Bei einer solch engmaschigen Suche konnte er die Hussitenstraße nicht begehen, sie war zu belebt. Die Strelitzer hingegen war ungefährlich. Er hatte den Zeitplan auswendig gelernt, wie jedes Mitglied im Widerstand. Die aktuelle Anbindung war in der Bernauer Straße. Er musste sie irgendwie erreichen, ohne von den Fängern erkannt zu werden.
Die Jäger hielten sich im Hintergrund, pirschten umher, waren aber nicht so zahlreich wie die simplen Fänger – normale Feenwesen, die in Uniformen gesteckt worden waren, um die »Ordnung aufrechtzuerhalten«. Beinahe hätte Lenyo laut gelacht.
Von Weitem sah er eine der verdammten rot-schwarzen Uniformen. Schnell bog er nach rechts.
»Hallo!«, erklang eine Stimme hinter ihm.
Glücklicherweise lag die nächste Straßenecke schon in Sichtweite. Er überhörte den Ruf und bog links ab in die Brunnenstraße. Hier waren Leute in Grüppchen unterwegs, dazwischen hier und da eine der verhassten Uniformen.
Sobald der Fänger hinter ihm aufgeholt hatte, würde er die anderen aufmerksam machen. Rennen konnte Lenyo trotzdem nicht. Zu gefährlich.
Er zog seine Taschenuhr hervor und spürte einen heißen Schreck. Die Verbindung wechselte in zehn Minuten. Wenn er bis dahin nicht im Versteck war, würde er in einen anderen Stadtteil gehen müssen. Er beschleunigte seine Schritte.
»Hallo?!«, erklang es wieder hinter ihm, dieses Mal drohender.
Lenyo startete einen Sprint.
Hinter ihm erscholl der hohe Ton der Stimmgabel, die jeder Fänger mit sich trug. Alle anderen ringsum wurden informiert und durch unsichtbare Tonwellen, die Träger der Gabel als gelbes Gespinst sehen konnten, hierhergerufen. Er bog die nächste rechts ab, dann wieder links. Straßennamen hatten keine Bedeutung mehr, nur noch die Zeit.
Rufe wurden laut, Schritte kamen näher.
Feenwesen sprangen beiseite, duckten sich weg oder kauerten sich auf den Boden. Niemand wollte mit dem, was hier geschah, in Verbindung gebracht werden. Pranken, feingliedrige Hände und Flügel wurden über die Augen geschlagen, damit man nicht als Zeuge vorgeladen werden konnte. Manchmal reichte das schon aus, um in einer Zelle zu landen.
Vor Lenyo tauchte die Litfaßsäule auf.
Noch während er sich näherte, suchte er das Plakat. Wo war es? Da! Die große Ankündigung eines Kabaretts am Prenzlberg. Er kam zum Stehen, pfriemelte Pickford-Tinktur heraus und tröpfelte sie sich in die Augen. Jetzt konnte er das magische Symbol auf dem Plakat erkennen.
Schnell fuhr er es mit dem rechten Zeigefinger nach. »Zu stürzen die falschen Könige.«
Die Gefahr, dass jemand ihn dabei beobachtete, bestand nicht. Ein starker Schleierzauber lag über der Säule. Sobald man in ihren Radius geriet – der leider nur drei Schritte weit reichte –, nahmen Verfolger einen für einige Augenblicke nicht mehr wahr. Ausreichend Zeit, um die Passage zu benutzen.
Der Fänger blickte suchend über die Menge, versuchte herauszufinden, wo Lenyo untergetaucht war. In einem Hauseingang? Einer Ansammlung? Oder hatte er magische Unterstützung erhalten?
Die Litfaßsäule wurde durchlässig. Lenyo taumelte hinein, exakt fünf Sekunden bevor der Durchgang erlosch.
Kurz blieb er am oberen Ende einer Treppe stehen und atmete keuchend ein und wieder aus. Hinter ihm wechselte der Ausgang auf die nächste Litfaßsäule.
Die Stufen waren uneben, in der Luft lag der Geruch von Feuchtigkeit. Hier unten war die Spree allgegenwärtig. Am Ende der Treppe wartete ein langer Gang, der auf der rechten Seite von Erde begrenzt war. Linker Hand schwappte Wasser. Eine unsichtbare magische Barriere hielt es davon ab, den Gang zu überfluten. Eine Sicherung. Falls es den Fängern oder Jägern jemals gelang, die Litfaßsäulen zu entdecken und den Schutz zu durchbrechen, konnte die Magie gelöscht werden, und innerhalb von Sekunden wäre jeder Zentimeter überflutet.
Lenyo fühlte sich immer unwohl in dem Gang. Als würde das Wasser im nächsten Augenblick nach ihm greifen, ihn in die Fluten reißen und fortziehen.
Am Ende des Ganges gab es eine schmiedeeiserne Tür mit einseitig blickdichtem Guckloch. Er hämmerte dagegen. Es raschelte, Riegel wurden zurückgezogen.
»Lenyo«, wurde er von Emma begrüßt. »Wir haben uns schon gefragt, wo du bist. Los, komm.«
Er trat ein und die Tür wurde mit einem schnellen Rums wieder geschlossen, die Riegel vorgeschoben.
Mit ihrer Dauerwelle wirkte Emma stets wie aus der Zeit gefallen, aber genau das wollte sie. Immer gegen den Strom. Auf ihrer Nase saß eine Brille mit dicken Gläsern. Ihre Augen wechselten alle paar Minuten die Farbe und sobald sie lächelte, entblößte ihr Mund zwei Reihen nadelspitzer Zähne. Lenyo hatte keine Ahnung, zu welchem Feenwesen-Volk ihre Eltern gehört hatten, sie war eindeutig ein Mischling und schwieg sich darüber aus. Vermutlich stammte sie aus der Zeit, in der der Blutatlas die Vereinigung zwischen unterschiedlichen Völkern noch nicht verboten hatte.
»Ein Wunder, dass ich durchgekommen bin«, sagte er. »Ich muss mit ihm sprechen.«
»Er ist nicht da.« Ein verzweifelter Unterton schwang in Emmas Aussage mit.
»Ist er bei einer anderen Zelle? Kann ich ihn grammofonieren? Oder eine Nebelprojektion?«
»Tut mir leid, aber wir versuchen gerade alle, ihn zu erreichen«, sagte Emma. »Du weißt doch, wie er ist; er verschwindet ständig. Vielleicht versucht er wieder, einen Pakt mit den Undinen zu schmieden. Allerdings sind die Fänger schon lange nicht mehr alle aktiviert worden und die Häscher durchkämmen gerade die Stadt. Wir mussten einige Gefährdete in sichere Häuser evakuieren und Operationen zurückstellen.«
Sie winkte ihm, ihr zu folgen.
Das Hauptquartier des Widerstands wirkte auf den ersten Blick gewöhnlich. Auf den zweiten sah man, dass es aus gestohlenen Räumen unterirdisch zusammengesetzt worden war. Mittels Magie hatten findige Feenwesen einzelne Räume aus Häusern hierher versetzt, was naturgemäß ein Loch in den Gebäuden zurückgelassen hatte. Deshalb hatten sie es auch sehr sorgfältig, zeitlich voneinander getrennt und nur bei den Wohlhabenderen getan.
Auf diese Art wuchs das Hauptquartier immer noch an, wenn jemand vergaß, seinen magischen Schutz zu erneuern und ihm ein Raum gestohlen wurde. Die Zusammenstellung wirkte chaotisch: Treppen endeten an Wänden, runde Räume schlossen an eckige an und hinter Glastüren war lediglich Zement sichtbar.
»Habt ihr einen Hinweis im Nebelzimmer gefunden?«, fragte Lenyo hoffnungsvoll.
Emma schüttelte den Kopf.
Er rauchte unablässig Zigarren, wodurch sein Büro ständig von einem grauen Dunst durchzogen war. Lenyo hatte erst spät begriffen, dass dieser Qualm magiedämpfend wirkte. Magische Anschläge wurden so im Keim erstickt. Genau wie die meisten Besucher, die das Zeug zu lange einatmeten. Das beschleunigte den jeweiligen Rapport ungemein.
»Weißt du Bescheid darüber, was los ist?«, fragte Emma.
»Sie sucht mich«, erklärte er mit einem Nicken.
»Du bist nicht immer der Dreh- und Angelpunkt der Welt. Unsere Spione im Palast sagen, dass dort ein Krisentreffen einberufen worden ist. Niemand weiß etwas Genaues.«
Sie stiegen eine gewundene Treppe hinauf, die in einen Raum mit Kuppel führte. Hier waren Kartentische aufgestellt, alle mit Löschzaubern für den Notfall versehen. Männer und Frauen, Geflügelte und Geschuppte betrachteten mit Globen und Wassergläsern Vorgänge an entfernten Orten. Jeder hatte ein Holster umgeschnallt, in dem eine Pistole steckte. Natürlich mit präparierten Kugeln.
»Ich habe Andersseiter hierhergebracht«, sagte er leise.
Emma zuckte zusammen und hielt an. »Bitte was?«
»Es war quasi ein Unfall.«
»Unfall«, echote sie. »Bei der grünen Fee, bist du noch ganz dicht?«
»Ich war nach meinem erfolgreichen Auftrag noch ein wenig feiern«, erklärte er. »Plötzlich sind Jäger aufgetaucht. Auf einer Goldglanz-Party in Friedrichshain!«
»Wechseln die nicht ständig den Ort?«
Er nickte. »Und es waren viele Jäger. Da war nichts mit: Das sind normalerweise Einzelgänger.«
»Ein Leck?«
»Oder einer von ihnen hat eine Eintrittskarte in die Finger bekommen, ich weiß es nicht. Ich wurde angegriffen und dabei hat diese verdammte Jägerfresse einen Andersseiter markiert. Die hätten ihn geschnappt und gefoltert.« Er schluckte. »Du weißt, dass Andersseiter nach der Befragung immer verschwinden.«
Emma atmete schwer aus. »Du und deine verdammten guten Taten. Frivole Schale, samtweicher Kern, sag ich ja immer.«
»Mein Kern ist hart«, stellte er klar.
»Ja, ja.« Sie wedelte mit der Hand. »Die Frage ist, was wir jetzt tun. Ich hätte ihn dazu gerne befragt und die Zellen koordiniert. Wenn wir auf dem Radar des Sicherheitsrates auftauchen, ist das per se schon gefährlich. Aber sollte Tamyra sich einmischen …«
Emma wusste, dass es keine weiteren Worte benötigte, um ihm die Gefahr zu verdeutlichten. Er trug sie mit sich wie einen klebrigen Schatten aus Erinnerungen.
»Ich bringe die beiden heute noch zurück auf die andere Seite«, sagte er. »Bis dahin schaffen wir es. Ich habe sie bei Lydic geparkt.«
»Dein Ernst?«
»Er ist zuverlässig.«
»Und flatterhaft.« Emma stemmte die Fäuste in die Hüfte.
»Hey, sich darüber lustig zu machen, ist gemein.«
Sie verpasste ihm einen Boxhieb auf den Arm.
»Warum boxen mich Frauen ständig?«
»Darüber solltest du lange und intensiv nachdenken.« Wieder folgte ein schweres Ausatmen. »Du bist also hier, weil du eine Träne benötigst.«
»Vorzugsweise mehrere, ich will ja auch wieder zurückkommen.«
Emma schüttelte den Kopf. »Sind gerade Mangelware, tut mir leid.« Sie schwieg einen Augenblick, knabberte an ihrer Unterlippe – was aufgrund der spitzen Zähne überaus schmerzhaft aussah – und nickte schließlich. »Du bekommst eine Träne und verschwindest mit den Andersseitern über die Grenze. Dort bleibst du einstweilen und hältst dich bedeckt. Wir lassen die Information durchsickern, dass die beiden fort sind. Damit wird die Jagd in den nächsten Tagen enden. Sobald es einigermaßen sicher ist und ich Nachschub an Tränen organisiert habe, schicke ich jemanden, der dir eine Passage öffnet.«
»Klingt nach einem Plan«, sagte er zufrieden. »Und ich halte mich stets bedeckt.«
»Deshalb ist also ganz Berlin in Aufruhr.« Sie schenkte ihm einen hitzigen Blick aus aktuell rot funkelnden Augen. »Wehe ich kriege raus, dass das eine Bettgeschichte von dir war, die irgendwie schiefgegangen ist.«
»Ich schwöre, da gab es bisher keinen Austausch von Körperfl...«
»Ja, ja.« Sie winkte ab. »Komm mit.«
Es ging durch eine schmale Seitentür über mehrere Stufen nach oben. Dort war der Tresorraum, in dem die Tränen aufbewahrt wurden. Komprimierte Magie, aus dem Urzauber geschaffen, der Berlin vor hundert Jahren gespiegelt und die Grenze errichtet hatte.
Lenyo nahm die Schatulle aus weißem Holz entgegen und lugte hinein. Das Kästchen war mit schwarzem Samt ausgekleidet, in der Mitte lag die Träne. Sie schien das umgebende Licht zu schlucken.
»Glänzende Schönheit«, hauchte er.
»Seltsam, nicht wahr?«, sagte Emma. »Man spürt den Hauch der alten Macht, der in ihr verborgen liegt. Und trotzdem genügt eine einzige Anwendung und sie verschwindet.« Sie schnippte mit den Fingern. »Als hätte es sie niemals gegeben.«
»Wäre nicht schlecht, wenn sie uns erhalten bleiben würde«, sagte Lenyo versonnen. »Dann könnten wir die Grenze durchlöchern wie Schweizer Käse: unzählige Durchgänge, niemand würde mehr eingesperrt sein.«
»Eines Tages«, sagte sie.
»Eines Tages«, erwiderte er.
Mit einem Klacken schloss Lenyo die Schatulle und schob sie in die Hosentasche. »Ich nehme die aktuelle Litfaßsäule.«
»Wir haben das Muster geändert«, sagte Emma. »Den neuen Plan kannst du dir ansehen. Die jetzige führt an den Stadtrand. Wir wollten nicht das Risiko eingehen, den Ausgang mitten in einer Wolke aus Fängern zu platzieren.«
Was eine längere Droschkenfahrt bedeutete. Oder Fußmarsch? Untergrundbahn? Lenyo rieb sich die Augen. »Haben wir einen sicheren Fahrer in der Nähe?«
»Alles organisiert«, sagte Emma. »Glücklicherweise haben die neuen Droschken mobile Grammofone eingebaut, allerdings noch nicht alle. Ich grammofoniere einem erreichbaren Fahrer, dass er sich auf den Weg zum aktuellen Ausgang macht. Dort kannst du zusteigen.«
Der Widerstand hatte sein Droschkennetz sehr langsam und vorsichtig ausgebaut. Die Fahrer gehörten zu ihnen, keiner würde die Fänger rufen, sollte etwas Ungewöhnliches geschehen – oder jemand einsteigen, der aktuell in der ganzen Stadt gesucht wurde. Jede Widerstandszelle kannte nur drei Fahrer, nicht mehr, falls sie aufflogen.
Emma trat bereits an ein sicheres Grammofon.
Lenyo atmete tief ein und wieder aus. Hoffentlich ging es Max gut. Und natürlich Robin.
Aber hauptsächlich Max.