11 . Kapitel

Max

G roßmutter?«, echote Lydic.

»Ist das irgend so eine Art Seelenmagie?«, fragte Max und blickte auf das Bild. »Die Fotografie nimmt die Gestalt der Person an, die man am meisten vermisst?«

»Echt komisches Ding.« Robin berührte den Rahmen und ließ die Finger langsam darübergleiten.

Lydics gerunzelte Stirn nahm die Antwort vorweg. »Seelenbilder? Ihr habt lustige Ideen. Das hier ist eine Fotografie, die mit einem Maisenbach-Brockworth-Gerät angefertigt worden ist. Es zeigt die königliche Familie. Von diesen alten Aufnahmen gibt es meines Wissens gar keine mehr, das Bild ist mit Magie imprägniert, allerdings scheint die Schicht ihre Wirkung verloren zu haben. Das dachte ich zumindest, bis eben.«

»Warum ist meine Großmutter darauf?!«

Lydic schüttelte den Kopf. »Das hier ist die Prinzessin Imgard. Wie habt ihr diese Veränderungen hinbekommen?« Er runzelte die Stirn. »Angeblich hat der Widerstand sie vor vielen Jahren entführt und getötet. Alle glauben, dass Tamyras Grausamkeit an jenem Tag gesät wurde, an dem ihre Schwester starb. Heute führt sie die Sicherheitsbehörde.«

»Ich verstehe gar nichts mehr.« Max sank in einen der Sessel, konnte den Blick nicht von dem Bild wenden. »Meine Großmutter hieß Irmgard …«

»Dein Smartphone«, sagte Robin. »Hat es noch Saft?«

»Was?«

»Jetzt hör auf zu grübeln.« Sie schnippte mit dem Finger. »Dein Smartphone.«

»Gute Idee.« Er pfriemelte es aus der Tasche. »Meine Neuronen sind heute etwas langsam.«

»Das tut mir leid«, sagte Lydic. »Passiert das oft?«

»Äh.«

»Ihm?« Robin deutete grinsend auf Max. »Ständig.«

Er griff nach einem Kissen und warf es in Richtung ihres Gesichts. Bedauerlicherweise wich sie aus, was die unschuldige Vase hinter ihr nicht konnte. Es klirrte.

Lydics Antlitz nahm die Farbe von heraufziehendem Nervenzusammenbruch an.

»Entschuldige«, sagte Max. »War die wertvoll?«

»Kaum. Sie gehörten einem König. Einem alten König.« Er tapste zu den Scherben. »Das bekomme ich wieder hin.«

Schnell zog Max sein Smartphone hervor. Der Akku war fast leer. Er entsperrte den Bildschirm und rief ein Bild von seiner Großmutter auf. »Hier, sehen Sie.«

Lydic blickte auf. Er nahm das Gerät und betrachtete die digitale Aufnahme, eindeutig unschlüssig, was er faszinierender fand: das Smartphone selbst oder die Abbildung darauf. »Unmöglich.«

Die Scherben waren vergessen.

Robin nutzte die Gelegenheit und schob mit ihrem linken Fuß die Überbleibsel der verunglückten Vase hinter einen Sessel.

»Du hast ein Bild der Prinzessin Imgard«, hauchte Lydic. »Und dieser kleine Kerl neben ihr, das bist du?«

»Das ist unser Wonneproppen«, sagte Robin. »Das breite Grinsen und die Zahnlücke verrät uns aber, dass er … wie alt warst du da?«

»Acht oder so.« Max zuckte mit den Schultern. »Großmutter hatte mir ein Album gemacht, in das sie Polaroids aus meiner Jugend geklebt hatte. Ich habe sie abfotografiert, damit sie erhalten bleiben. Deshalb ist die Qualität auch eher mittelmäßig.«

Lydic hatte mittlerweile herausgefunden, dass er durch Wischgesten zum nächsten Bild wechseln konnte. Sie alle zeigten Max und seine Großmutter. »Sie hat überlebt.« Seine Stimme war so leise, dass Max sie kaum verstand.

»Leider nicht, sie ist vor einigen Tagen gestorben«, erklärte er.

Lydic blickte verwirrt auf. »Ich meinte damals. Alle dachten, sie ist tot. Es gab da irgendeinen Vorfall im Ratspalast. Niemand weiß was Genaues. Aber dann … ist sie in Wahrheit geflohen. Wieso hat Lenyo mir das nicht gesagt? Wer ist dein Großvater?«

»Ich habe keine Ahnung.« Max blickte zwischen dem Bild und Lydic hin und her. »Aber wenn sie eine Prinzessin war, wieso hätte sie fliehen sollen?«

»Tja, das ist die große Frage.« Er seufzte. »Dazu gehört es auch, dass niemand auf die andere Seite der Grenze reisen darf. Das destabilisiert die uralte Magie des Zaubers, der unser Berlin erschaffen hat. Gleichzeitig gehen hier aber die Ressourcen zur Neige.«

»Überall das Gleiche«, murmelte Max.

»Die Prinzessin war stets engagiert«, erklärte Lydic. »Immer wieder setzte sie sich für die unteren Schichten ein. Viele erhofften sich von ihr, dass sie die Dinge eines Tages ändern würde. Die Möglichkeit von Gleichstellungsgesetzen machte die Runde. Doch dann ist sie gestorben.«

»Oder auch nicht.« Robin nickte in Richtung Bild. »Sie ist irgendwie davongekommen.«

Max’ Gedanken wirbelten umher. Er hatte seine Eltern niemals kennengelernt, sie waren kurz nach seiner Geburt gestorben. Ein Feuer hatte das alte Haus zerstört, in dem sie gelebt hatten. Nichts war geblieben. Er wusste nicht einmal, wie sie ausgesehen hatten.

Seine Großmutter war für ihn da gewesen. Immer. Jeden Tag seines Lebens. Mit sieben hatte er beschlossen, im Wald nach Schildkröten zu suchen, weil das tolle Tiere waren und es bestimmt auch welche im Grunewald gab. Stunden später hatte sie ihn gefunden: im schlimmsten Unwetter, bedeckt von Schlamm und Dreck, mit aufgeschlagenem Knie. Er hatte bitterlich geweint, weil er keine Schildkröten gefunden hatte.

Doch seine Großmutter hatte ihn in den Arm genommen und nach Hause getragen. Dort hatte es Tee gegeben – wie immer Lavendeltee – und frisch gebackenes Rosinenbrot. Sie hatte sein Knie versorgt, ihn in eine Decke gepackt und ihm aus einem Buch vorgelesen. Am nächsten Tag hatte sie ein Terrarium mit zwei kleinen Schildkröten darin gekauft.

»Ich weiß, wie sie war«, sagte er leise. »Ich konnte es jeden Tag sehen.«

»Ihre Schwester, Tamyra, ist das Gegenteil«, sagte Lydic, »aber das ist jetzt nicht so wichtig. Wir müssen das prüfen.«

»Prüfen?«, echote Robin. »Wie soll das denn gehen? Ein DNS -Test?«

Lydic sprang auf. Euphorisch eilte er aus dem Zimmer. Seine Flügel entfalteten sich, er flatterte in die Höhe. Genau genommen hüpfte er also hinaus.

Kurz darauf kehrte er zurück. In seinen Fingern hielt er einen verschlossenen Holzkasten. Er stellte ihn ab und öffnete ihn.

»Ich kann natürlich nicht sagen, ob hier eine Verwandtschaft besteht«, sagte Lydic. »Obgleich ich jetzt gewisse Gesichtszüge an dir wiedererkenne. Doch ein Indikator wird sein, ob sich Magie in deinem Blut befindet.«

Max starrte Lydic bei diesen Worten fassungslos an. Magie. Er? Und Verwandtschaft zum Königshaus? Er fühlte sich wie von einer Welle überrollt. Einer sehr großen, sehr kalten Welle. Im nächsten Augenblick kehrten seine Gedanken schlagartig ins Hier und Jetzt zurück, als er sah, was Lydic hervorholte.

Eine Spritze in der Größe eines Hammers.

»Das ist jetzt ein Witz.« Max rutschte in dem Sessel zurück.

»Nur ein Piks.« Lydic lächelte aufmunternd.

»Das ist keine Spritze«, sagte Robin. »Das ist ein Folterinstrument. Solche Nadeln benutzen wir seit den Zwanzigern nicht mehr. Des vorigen Jahrhunderts. Und das hat seinen Grund.«

»Wir auch nicht«, versicherte Lydic. »Die sind total antiquiert und die Nadel ist viel zu dick.« Er sah Max’ Gesichtsausdruck und haspelte schnell weiter: »Aber seht ihr das hier?« Er deutete auf Zeichen, die in das Messing eingraviert waren, in dem der Glasbehälter ruhte.

»Ist nicht zu übersehen«, sagte Max. »Nichts an dem Teil kann man übersehen.«

»Außer den winzigen Symbolen in der Nadel.« Lydic deutete darauf. »Du wirst den Einstich nicht spüren. Und willst du keine Antworten?«

Max seufzte auf. Er hatte nicht die geringste Lust, sich mit diesem Mörderteil ein Loch in den Arm stechen zu lassen. Andererseits war es wohl die einzige Möglichkeit, eine Antwort zu erhalten. »Und es tut wirklich nicht weh?«

»Da bin ich sicher.« Lydic tätschelte mit der Hand jene Stelle der Couch, auf der Max sich niederlassen sollte.

»Von mir aus.« Er erhob sich aus dem Sessel und plumpste auf das Kissen.

»Wenn du Max damit wehtust«, sagte Robin, »ramme ich dir das Teil anschließend in deinen –«

»Danke, Robin!«, rief Max. »Wir haben das Bild.«

»Immer doch.«

Lydic wirkte bei ihren Worten dezent beunruhigt. Trotzdem nahm er die Spritze und näherte sich damit Max’ Haut. »Endlich kann ich sie einmal benutzen.«

»Was?!«, krächzte Max. Er wollte den Arm zurückziehen, doch es war zu spät. Die Nadel durchstach die Haut. Und tatsächlich, da war kein Schmerz. Erleichtert atmete er auf.

»Siehst du.« Lydic zog die Spritze langsam auf, der Glaszylinder füllte sich mit Blut.

»Das war es auch schon.« Er zog die Nadel wieder heraus.

Seltsamerweise hinterließ sie ein Schmerzecho. Als bliebe ein Teil von ihr noch ein wenig länger zurück und verschwände erst nach und nach. Die Wunde schloss sich von allein.

»Und jetzt?«, fragte Robin.

Lydic hielt die Spritze in der Rechten, mit der linken Hand zog er einen Kristall aus der Holzschatulle. »Das ist der einfache Teil. Ich injiziere das Blut in den Kristall.«

»Sind die nicht ziemlich fest?«, fragte Robin.

»Ihr Andersseiter müsst lernen, in magischeren Bahnen zu denken. Zumindest auf unserer Seite.« Er führte die Nadel zum Kristall und durchstieß damit problemlos die Oberfläche.

Der Kristall wurde durchscheinend, Blutstropfen zeichneten sich darin ab, als hätte jemand Tinte in Wasser getropft. Lydic leerte den gesamten Glaszylinder der Spritze. Das Blut breitete sich aus, der Kristall war Sekunden später vollständig davon ausgefüllt.

»Und jetzt?«, fragte Robin erneut.

»Normalerweise müsste etwas passieren«, erklärte Lydic. »Doch wie mir scheint …«

Der Kristall leuchtete abrupt auf. Getaucht in grünes Licht, schwebte er aus Lydics Hand ins Zentrum des Zimmers, wo er seine Magie verströmte.

Max schluckte. »Das bedeutet dann wohl, dass sich in meinem Blut Magie befindet, richtig?«

»So kann man das sagen«, krächzte Lydic. »Und zwar viel.«

»Wie viel?«, fragte Robin.

»Sehr viel. Und sie ist unfassbar alt.«

Das Licht strömte aus dem Kristall wie ein feines Nebelgespinst. Es waberte durch die Luft, glitt über die Gegenstände, den Teppich, die Lampen, und seine Schwaden sanken herab.

»Es ist so schön«, hauchte Robin versonnen.

Max konnte nicht glauben, dass all das in seinem Blut war. Magie. »Was bedeutet das? Wer bin ich?«

»Wenn ich das richtig deute, entstammst du der königlichen Linie«, sagte Lydic. »Unsere Prinzessin war deine Großmutter. Damit bist du ein direkter Nachfahre der Hauptlinie des Lilienthrons. Eine solche Reaktion wie diese wurde in dem Pergament beschrieben, das der Spritze beilag. Deine Großmutter befand sich auf der anderen Seite, sie kann also keine Nachkommen mit einer Nebenlinie ihrer Familie gezeugt haben. Es muss sich um fremdes Blut handeln, möglicherweise sogar menschliches. Doch hätte sie sich mit einem Andersseiter verpartnert, der keine Magie beherrscht, solltest du eigentlich nicht so stark sein.«

»Wenn ich tatsächlich so ›stark‹ bin«, sagte Max, »wieso habe ich davon nie etwas bemerkt?«

»Deine Großmutter hat zweifellos Sicherungsmaßnahmen ergriffen, damit du nicht plötzlich deine Magie benutzt, während du auf der anderen Seite durch die Straßen spazierst«, sagte Lydic. »Es gibt Geschichten, in denen sich in früher Jugend Magie manifestiert hat, die von Eltern gebunden wurde. Du würdest dich vermutlich nicht mehr daran erinnern oder es mit der rationalen Logik eines Erwachsenen als Fantasie abtun. Doch wenn du mit diesem neuen Wissen zurückdenkst, wird dir mit Sicherheit das eine oder andere einfallen.«

»Und wie löst man diese Bindung?«, fragte Robin.

»Hey, wer spricht denn hier von Lösung?« Der Gedanke, dass plötzlich alle möglichen Dinge passierten, die er nicht kontrollieren konnte, ließ einen bitteren Knoten in seinem Magen entstehen.

»Alter, du kannst dich vielleicht auf einen Besen setzen und fliegen, wäre das nicht toll?«

»Besen?«, fragte Lydic. »Wieso sollte er zum Fliegen einen so altmodischen Gegenstand benutzen?«

Robin winkte ab. »Lassen wir das.«

Noch immer schwebte der Bergkristall in der Luft, doch jetzt begann er, im Herztakt zu pulsieren.

Max konnte die uralte Präsenz der Magie spüren. Das hier war er, ein Teil von ihm. Ganz langsam wurde aus Unruhe Faszination. »Also nur theoretisch: Wie lösen wir diese Bindung?«

Wissen wollte er es schon.

»Das dürfte bereits geschehen sein«, sagte Lydic. »Eine Blutbindung erlischt, wenn der wirkende Magier oder die wirkende Magierin gestorben ist. Sobald du also deinen inneren Schlüssel erkennst, wirst du Zugriff auf deine Magie erhalten.«

Ein Riss überzog den Kristall, bevor Max die nächste Frage stellen konnte.

»Was ist das?«, fragte Robin. »Soll es das machen?«

»Äh«, sagte Lydic.

»Interpretiere ich jetzt mal als ›nein‹.« Max sprang auf. »Ist das gefährlich?«

»Auf keinen Fall.« Lydic erhob sich ebenfalls. »Möglicherweise. Ein wenig. Da bin ich ehrlich gesagt unsicher.«

Robin schnaubte. »Irgendeine hilfreiche Idee?«

Die hatte Lydic nicht. Zumindest blieb ihm keine Zeit, sie auszusprechen. Der Kristall zerbarst und eine Schockwelle aus Magie peitschte durch den Raum. Möbel zersplitterten, Gläser klirrten, alles wurde in Grün getaucht. Max, Lydic und Robin wurden erfasst und flogen durch die Luft.

Umgeben von Magie, die etwas in Max aufhorchen ließ.

Ja, es war vertraut. Ein Teil von ihm, seiner Vergangenheit. Ein fernes Echo.

Er prallte auf den Boden.

Der Schmerz fegte sämtliche Gedanken und Gefühle beiseite.