12 . Kapitel

Tamyra

A ufgeladen vom hitzigen Wortgefecht im Melusinen-Salon, stieß Tamyra schwungvoll die Tür zu ihrer Suite auf. Ihr Cousin Rykard erwartete sie im Empfangszimmer, das ihren privaten Räumen vorgelagert war. Er fläzte sich auf einer weißen Ledercouch, einen Kaffee vor sich auf dem Beistelltisch und ein Glas in der Hand, in dem es verdächtig bernsteinfarben schimmerte.

»Ich hatte doch gesagt, keinen Alkohol«, sagte sie und verdrehte innerlich die Augen.

Rykard stellte das Glas ab, zog einen silbernen Flachmann aus der Innentasche seines Jacketts und schwenkte ihn hin und her. »Dir auch einen wunderbaren Tag, liebstes Cousinchen.«

Er stand auf und trat zu ihr. Tamyra ließ es zu, dass er sie umarmte und Luftküsse auf die Wangen warf.

»Gibt es einen Grund für deine gute Laune?«, fragte sie.

Rykard lachte. »Die Sonne scheint. Das Leben ist schön. Und du hast mich zu dir eingeladen.«

Tamyra sog tief Luft durch ihre Nasenlöcher. »Du bist auf einem Trip!« Das durfte doch nicht wahr sein! Schnell schloss sie die Tür zum Flur und versicherte sich, dass die Abschirmzauber hielten.

»Ach komm, Tamyra«, verteidigte er sich. »Es war nur ein bisschen.«

Wütend fuhr sie zu ihm herum. »Und was soll ich mit dir anfangen, wenn du nicht klar denken kannst?«

Obwohl er es hätte besser wissen sollen, war Rykard eine jener bedauernswerten Kreaturen, deren Leben so langweilig war, dass sie sich Kicks mittels verbotener Substanzen holten.

»Du errätst nicht, was ich gestern Abend erfahren habe«, säuselte er jetzt.

»Interessiert mich auch nicht.«

Sie ließ ihn stehen und ging zu der Tür, die vom Vorzimmer in ihr Wohnzimmer führte. Hinter ihr klirrte es leise, vermutlich schnappte sich Rykard sein Cognacglas.

»Kommst du?«, fragte sie, nachdem sie mit einem Händedruck den magischen Schließmechanismus der Tür geöffnet hatte und in ihr eigentliches Refugium trat.

Das riesige Wohnzimmer war dank der deckenhohen Fenster lichtdurchflutet. Zwei dunkle Ledersofas standen sich inmitten des Raums gegenüber, dazwischen befand sich ein niedriger Mahagoniholztisch, über dem ein beeindruckender Kristallleuchter hing.

»Was ist heute eigentlich mit dir los?«, beschwerte sich Rykard, der ihr gefolgt war. »Du bist noch unausstehlicher als sonst.«

Tamyra schnaubte. »Du verstehst auch gleich, warum.«

Sie ging um ein Sofa herum und trat an die leere Staffelei, die Konstanze auf ihren Befehl hin hier aufgestellt hatte. Aus ihrer Hosentasche zog Tamyra ein Tütchen Absinth-Pulver, ihr letztes. Mit einem Ruck riss sie es auf, schüttete sich eine Prise des grobkörnigen, hellrosafarbenen Gemischs auf die Hand und pustete es in Richtung Staffelei. Der Unsichtbarkeitszauber verflüchtigte sich und gab den Blick auf ein mit einem schwarzen Seidentuch verhülltes Bild frei.

Rykard richtete sich auf. »Ich hab mich schon gefragt, was das hässliche Teil hier soll.«

Sie riss das Tuch von der Staffelei. »Das ist das Problem.« Die Seide glitt über das Glas der gerahmten Fotografie, die darunter zum Vorschein kam. Obwohl sie wusste, was sie zu sehen bekommen würde, schnürte sich Tamyras Kehle zu. Hinter ihr stieß Rykard einen Fluch aus.

Eigentlich hatte Tamyra geplant, sich in diesem Moment umzudrehen und so zwischen ihren Cousin und die Staffelei zu stellen, dass sie die Fotografie wieder verdeckte. Jetzt stellte sie fest, dass sie den Blick nicht vom Gesicht ihrer Schwester nehmen konnte. Sie selbst und ihre Eltern sahen auf dem Bild so aus, als sei es erst gestern aufgenommen worden. Doch über Imgards Haut zogen sich Falten. Die Frau auf der Fotografie war um Jahrzehnte gealtert.

»Was soll das?«, fragte Rykard, der jetzt neben ihr stand. »Ist das ein Scherz?«

Tamyra räusperte sich, bevor sie antwortete. »Wohl kaum. Heute Morgen hat mich die Große Mutter noch vor Tagesanbruch grammofoniert. Ein Schleuser hat zwei Andersseiter über die Grenze zu uns gebracht. Einer ihrer Jäger hatte ihn fast gestellt, doch letztlich ist er mit den beiden entkommen.«

»Was?!«

»Und offenbar hat sich darüber hinaus meine liebe Schwester dazu entschlossen, nach Hause zurückzukehren.«

Rykard fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Er starrte abwechselnd auf sie und das Foto. »Aber wieso …«, murmelte er. »Ich dachte, sie ist tot.«

Tamyra verschränkte die Arme. »Offensichtlich entspricht das nicht den Tatsachen.«

»Und warum sieht sie so alt aus? Ich meine, auch in der Welt der Menschen dürfte sie doch eigentlich nicht ihre Unsterblichkeit verloren haben, oder?«

Darüber hatte sich Tamyra auch schon Gedanken gemacht. »Tarnzauber«, vermutete sie.

Rykard trat ganz nah an die Staffelei. Er starrte Imgard an, als könne er nicht glauben, was er da sah. Nach einem Augenblick hob er das Glas, um sich einen weiteren Schluck zu genehmigen.

Tamyra nahm ihm den Cognac ab. »Genug für heute«, beschied sie. Am liebsten hätte sie selbst den Rest heruntergekippt, aber zumindest einer von ihnen brauchte einen klaren Kopf. Immerhin beschwerte sich Rykard nicht.

»Aber warum hat sich die Fotografie verändert?«, fragte er stattdessen.

Tamyra ging zur Balkontür, schob den Vorhang beiseite und sah nach draußen auf den Potsdamer Platz. »Das Porträt wurde mit einem Maisenbach-Brockworth angefertigt.«

Das Maisenbach-Brockworth-Gerät war eine Erfindung gewesen, mit der man das Fernsprechen ermöglichen wollte. Mit den damit gemachten Fotografien konnte man Verbindung zu denjenigen herstellen, die ebenfalls einen Abzug der gleichen Fotografie besaßen. Die Technik hatte sich nicht durchgesetzt, zum einen, weil sie für Ferngespräche zwar praktisch war, es den Leuten jedoch nicht gefiel, dass sich das Aussehen der Abgebildeten auf den aktuellen Stand brachte, wenn man die Fotografie aktivierte. Zum anderen, weil sie weder gut zu transportieren waren noch sich die Feenwesen Dutzende davon in die eigenen vier Wände hängen wollten, denn man konnte immer nur mit demjenigen sprechen, den die Fotografie zeigte. Letztendlich hatten sich die Schallplatten und die Grammofonie-Technik als praktischer erwiesen. Und seit Neuestem gab es ja auch noch die Nebelprojektion.

Wenn sich die Fotografie von Imgard nun verändert hatte, bedeutete das wohl …

»Du meinst, deine Schwester hat einen Abzug eures Familienporträts ausfindig gemacht und dir so eine Botschaft geschickt?«, vermutete Rykard.

Tamyra verschränkte die Arme. »Letzteres würde mich wundern, aber im Grunde ja: Das glaube ich.«

»Aber ich dachte, sämtliche Abzüge eures Familienporträts, die mit dem Maisenbach-Brockworth-Gerät erstellt wurden, habt ihr schon vor Jahrzehnten vernichten lassen?«

»Das dachte ich auch.« Dem war aber offensichtlich nicht so.

»Was meinst du, was sie vorhat?« Rykard klang beunruhigt. Ihr Cousin und sie waren die Einzigen, die wussten, dass Imgard damals nicht von Widerständlern ermordet worden war. Sie und Rykard hatten dieses Gerücht überhaupt erst in die Welt gesetzt und entsprechende Beweise geliefert. Sie beide waren demnach die Einzigen, die wussten, welche Gefahr vielleicht von Imgard ausging. Ihre Schwester war geflohen. Und sie besaß Wissen, das den brodelnden Vulkan der Stadt zum Ausbrechen bringen konnte: Erinnerungen, die verrieten, wie das gespiegelte Berlin in Wahrheit erschaffen worden war.

Nachdem Tamyra erfahren hatte, dass das Porträt plötzlich eine gealterte Imgard zeigte, war sie kurz versucht gewesen, über die Fotografie Kontakt mit ihr aufzunehmen. Aber das wäre dumm gewesen. Ihre Schwester konnte nichts Gutes im Schilde führen, und wenn sie mit ihr sprach, wäre klar, dass sie von ihrer Ankunft wusste. Nein, besser, die Überraschung war auf Tamyras Seite. Sie würde Imgard kontaktieren. Aber anders, als diese erwartete. Doch dazu brauchte sie Rückendeckung. Und einen kleinen Portalzauber, den nur Rykard mit seinen zwielichtigen Verbindungen ihr besorgen konnte.

»Ich weiß nicht, was sie vorhat«, beantwortete sie endlich seine Frage. »Es ist jetzt wichtig, dass wir nicht die Nerven verlieren.« Sie drehte sich zu ihm um. »Ich habe dich hierher gebeten, weil ich deine Unterstützung benötige.«