13 . Kapitel

Lenyo

W as ist denn mit dir passiert?«, fragte Lenyo misstrauisch, als Lydic ihm die Tür öffnete. Er deutete auf die Schläfe des Sylphen, wo ein daumennagelgroßer Blutfleck klebte.

Lydic runzelte die Stirn und betastete die Stelle. »Oh«, murmelte er. »Da muss der Kristall mich erwischt haben.«

Lenyo betrat den Hausflur und schloss die Tür hinter sich. »Der Kristall? Was habt ihr bitte gemacht, als ich weg war?«

Die Fahrt vom Hauptquartier hierher war ohne Zwischenfälle verlaufen. Allerdings hatte Lenyo durch die Fenster der Droschke gesehen, dass Tamyras Häscher noch immer die Stadt durchkämmten. Den ganzen Weg über hatte er sich Sorgen gemacht, dass ihr Versteck beim Archivar aufgeflogen sein könnte.

Wie es aussah, war zumindest diese Befürchtung unbegründet. Der Archivar hob vom Boden ab, seine Flügel flatterten aufgeregt. »Du wirst es nicht glauben! Max –«

»Hast du diese Tränen bekommen?« Robins Stimme schallte den Flur entlang. Sie stand in einer Türöffnung und blickte ihm erwartungsvoll entgegen.

Lenyo nickte. »Wo ist Max?«

»Hier«, hörte er dessen Stimme. Er klang ein bisschen neben der Spur.

Lenyo setzte sich in Bewegung. Im Wohnzimmer erwartete ihn die nächste Überraschung: Es sah aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Einige Möbel und Lydics Sammelsurium von Gegenständen aus dem Berlin der Menschen lagen zerfetzt oder zersplittert im Zimmer verstreut. Aus der senfgelben Couch quoll Polstermaterial, ganz so, als habe man sie aufgeschlitzt. Daneben saß Max und drückte sich einen Eisbeutel auf den Kopf. Lenyos Herz machte einen erschrockenen Hüpfer.

Max’ Miene hellte sich auf, als sich ihre Blicke trafen. »Hi«, sagte er.

Lenyo stürzte zu ihm. »Geht es dir gut?« Er nahm Max den Eisbeutel ab und begutachtete seinen Hinterkopf. Keine Wunde, kein Blut. Nur eine Beule. Sanft drückte er ihm den Eisbeutel wieder in die Hand. »Dich kann man auch keine Stunde aus den Augen lassen.«

Max lächelte schwach. »Als gestern Nacht auf mich eingestochen wurde, hast du direkt danebengestanden.«

»Punkt für dich.« Lenyo fischte die weiße Schatulle aus der Hosentasche und zeigte sie Max. »Wird Zeit, dass ich euch nach Hause bringe.«

»Nicht so schnell!« Lydic flatterte zu ihnen. »Es gibt da etwas, das du wissen solltest.«

»Wie es aussieht«, fügte Robin hinzu, die sich zu ihnen gesellte, »ist Max zu Hause. Jedenfalls in gewisser Weise.«

Die Geschichte, die die drei Lenyo daraufhin abwechselnd erzählten, klang genauso abenteuerlich wie unwahrscheinlich. Max sollte Feenblut in sich tragen? Und nicht nur das – er sollte ein Mitglied der königlichen Familie sein?

»Nein«, sagte Lenyo tonlos. Er starrte Max ins Gesicht, um sich davon zu überzeugen, dass der keinerlei Ähnlichkeiten mit dem Monster Tamyra hatte. »Das kann nicht sein.«

Prinzessin Imgard war tot, das wussten alle. Dass der Widerstand sie umgebracht hatte, bezweifelte er zwar, ausschließen konnte er es allerdings nicht. Aber dass die Kronprinzessin überlebt hatte und Max’ Großmutter sein sollte … Und dann traf er zufällig in einer Bar auf ihn, in die ebenso zufällig Jäger stürmten? Das war doch vollkommener Unsinn!

Und doch. Da war die Fotografie, die an der Wand vor ihnen hing und die wie durch ein Wunder keinen Kratzer vom explodierenden Kristall abbekommen hatte. Und ja, Max’ Kinnpartie. Seine Nase. Da bestand eine gewisse Ähnlichkeit. Aber die konnte Zufall sein.

Lenyos Magen zog sich zusammen. Inzwischen saß er ebenfalls auf der Couch und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.

»Und jetzt?«, fragte er Max und legte ihm die Hand auf das Knie. Max konnte nicht hierbleiben. Auch wenn er selbst, Lenyo, das vielleicht sogar gewollt hätte.

»Du bringst die beiden über die Grenze«, antwortete Lydic, der vor ihnen hin und her flatterte. »Und ich begleite euch.«

»Was?«, fragten Lenyo, Max und Robin wie aus einem Mund.

Der Archivar nickte entschlossen. »Ich komme mit. Wenn die Prinzessin tatsächlich auf der Andersseite gelebt hat, gibt es in ihrem Zuhause vielleicht Dinge, die Aufschluss darüber geben, warum sie damals geflohen ist.« Seine Miene wurde ernst, fast feierlich. »Dinge, die von unschätzbarem Wert sein könnten. Für den Widerstand.«

Lenyos Puls beschleunigte sich. Lydic hatte recht. Allerdings sollten sie, bevor sie aufbrachen, den Widerstand informieren. Diese Offenbarung, wenn sie denn stimmte, konnte wichtig sein.

Er drückte noch einmal Max’ Knie und löste sich dann von ihm. »Ich sollte vorher grammofonieren.«

Lydic zuckte bedauernd die Schultern. »Tut mir leid. Ich fürchte, das ist gerade nicht möglich.«

Lenyo starrte auf den Platz, an dem Lydics Grammofon hätte stehen sollen. Von dem Apparat war nicht viel übrig geblieben. Selbst aus dem Schalltrichter war eine Ecke herausgebrochen.

»Verflucht.«

Es gab nicht viele Feenwesen, die Schallplatten besaßen, mit denen man den Widerstand kontaktieren konnte. Und keinen in Lydics unmittelbarer Nähe. Yelna hatte sich geweigert, eine im Libertinage aufzubewahren. Das war ihr zu gefährlich vorgekommen, es hatte ihr schon gereicht, das Lenyo sie gebeten hatte, eine Schallplatte zu behalten, durch die Lydic erreichbar war. In der kleinen Zweizimmerwohnung, die er und Yelna sich teilten, wenn sie nicht im Libertinage übernachtete, lag zwar eine Schallplatte unter einer losen Bodendiele versteckt, dort hinzufahren würde jetzt aber zu lange dauern. Falls Max wirklich ein Nachkomme der Kronprinzessin war, musste er zurück in das Berlin der Menschen. Zumindest, bis Tamyra aufhörte, die ganze Stadt nach Andersseitern zu durchsuchen. Und bis sie sich entschieden hatten, wie sie weiter vorgehen sollten.

»Ich fliege kurz nach oben und packe ein paar Sachen zusammen«, sagte Lydic. Dann wandte er sich an Robin. »Hilfst du mir bitte?«

Robin runzelte die Stirn. »Aber …« Nach einem Blick zu Lenyo und Max ließ sie die abgebrochene Pfote der Wackelkatze auf den Boden fallen und schloss sich dem Archivar an.

Lenyo wartete, bis Robin und ihr Gastgeber im Flur verschwunden waren. Dann griff er nach Max’ Hand. Seine Finger waren etwas zu warm und zitterten leicht. »Wie geht es dir?«

»Ganz ehrlich? Keine Ahnung.«

»Es wird schon alles gut.« Lenyo bemühte sich, zuversichtlich zu klingen.

Max hob trotzdem die rechte Augenbraue. »Ach ja? Wie denn? Ich meine, bei einem Ausflug nach London wurde ich schon mal als fairy bezeichnet, aber dass ich wirklich eine bin. Eine echte …« Er lachte auf, doch es klang bitter.

»He, das ist was Gutes.« Er begann, Max’ Handrücken mit dem Daumen zu streicheln.

Der lehnte sich gegen ihn. »Ist es das?«

»Ich denke schon«, antwortete er leise. »Das bedeutet, dass wir uns ähnlicher sind, als wir zunächst gedacht haben.«

Stumm sahen sie sich an. Über ihren Köpfen hörten sie Dielen knarren: Lydic und Robin. Die Geräusche traten mehr und mehr in den Hintergrund, je länger Lenyo in Max’ Augen blickte.

Wie von selbst schob sich sein Körper näher an den von Max. Lenyo öffnete leicht den Mund und …

»Was meinte Lydic mit dem Widerstand?«, fragte Max plötzlich und rückte ein Stück von ihm weg.

Ein frustriertes Knurren entstieg Lenyos Kehle, ehe er es verhindern konnte. Über Max’ Züge huschte ein verlegenes Lächeln.

»Du willst wissen, was um dich herum vor sich geht. Das verstehe ich. Der Widerstand … Puh … Wo fange ich da an?«

»Wie wäre es damit«, sagte jemand frostig.

Max zuckte erschrocken zusammen und Lenyos Herz machte einen Satz. Blut rauschte in seinen Ohren. Er kannte diese Stimme, gut sogar. Doch er hatte nicht damit gerechnet, sie in Lydics Wohnung zu hören.

Er sprang von der Couch auf, klaubte das gesplitterte Holzbein eines Stuhls vom Boden und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen.

»Der Widerstand ist eine Ansammlung Schmeißfliegen«, fuhr Tamyra seelenruhig fort. »Eine gefährliche Gruppe fehlgeleiteter Terroristen, die nicht einmal begreifen, dass sie dabei sind, alles zu zerstören, worum sie angeblich kämpfen.«

»Du!«, zischte er. »Wo …«

»Lenyo … da … die Fotografie«, stammelte Max.

Und da sah er es auch.

Das Porträt der königlichen Familie hatte sich schon wieder verändert. Genauer gesagt war die Fotografie verschwunden. Der Rahmen hing noch an der Wand, doch das Glas hatte sich in ein Fenster verwandelt.

Lenyo sah durch es hindurch in einen mit edlen Möbeln eingerichteten Raum. Und von dort durchbohrte ihn Prinzessin Tamyra mit eisigem Blick.