16 . Kapitel

L enyo warf einen misstrauischen Blick auf die Jägerin, während Janus die geöffnete Schatulle direkt neben sie auf das Parkett stellte. Ihre Augen waren noch immer geschlossen und sie atmete gleichmäßig. Ein paar Strähnen hatten sich aus ihrem Haarknoten gelöst und hingen ihr ins Gesicht.

Der Dschinn hantierte mit den unterschiedlich geformten Glasphiolen aus dem Kästchen. Einige davon waren mit buntem Pulver gefüllt, andere mit Flüssigkeiten, die an geschmolzene Bronze, an Blut oder an gewöhnliches Wasser erinnerten.

Seit Lenyo für den Widerstand arbeitete, war er ein paarmal Wesen begegnet, die gebunden worden waren. Wie man dies bewerkstelligte, hatte er noch nicht beobachtet. Vor Jahrhunderten, lange vor Erschaffung der Spiegelstadt, hatte das Feenvolk Bindungen oft benutzt, um sich Menschen als Diener gefügig zu machen. Inzwischen zählten sie jedoch zu den Verbotenen Zaubern.

»Was ist das?«, fragte Max angespannt, als der Dschinn eine großzügige Portion kalkfarbenes Absinth-Pulver in eine bronzefarbene Schale schüttete. »Tamyra hat es benutzt, und Lenyos Körper war plötzlich wie aus Stein.«

Janus verkorkte die Phiole und blickte Lenyo überrascht an. »Ihre Scheußlichkeit hat dich erwischt? Wie seid ihr davongekommen?«

Lenyo deutete auf Robin. »Sie hat den Bilderrahmen an Lydics Wand zerschmettert, den Tamyra in ein Portal verwandelt hatte.«

Janus pfiff durch die Zähne. »Good Girl!« Er hob die Hand und Robin klatschte ab. Dann schüttete er ein paar Tropfen der bronzefarbenen Flüssigkeit auf das Pulver. Er deutete auf die Jägerin. »Ich brauch von ihr ein paar Haare.«

»Ich mach schon«, bot Lenyo an und hockte sich neben die bewusstlose Gestalt.

»Hier.« Janus reichte ihm eine Kosmetikschere.

»Wie viel«, fragte Lenyo, während er sich vorsichtig über die Jägerin beugte.

»Eine Strähne oder zwei«, antwortete der Dschinn leichthin.

»Was?!«

»Du kannst ihr auch gern die Schuhe ausziehen und ihre Fußnägel schneiden. Die tun’s ebenso.«

»Igitt!«, beschwerte sich Max.

Lenyo schob kurzerhand eine der silbernen Scherenschneiden unter die Strähnen, die der Jägerin ins Gesicht fielen, und schnitt sie ab. »Reicht das?«

Janus nickte und griff mit spitzen Fingern nach dem ebenholzfarbenen Haar. Vorsichtig ließ er es auf das klebrige Gemisch in der Bronzeschale fallen, beugte sich darüber und murmelte ein Wort in einer fremden Sprache.

Mit einem Zischen gingen die Strähnen und die Bronzepulver-Emulsion in Flammen auf und der durchdringende Geruch von verbranntem Haar und heißem Metall verbreitete sich im Raum.

Max und Robin wichen gleichzeitig einen Schritt zurück.

Janus lächelte zufrieden und stand vom Boden auf.

Die orangerot lodernde Flamme erhob sich in die Luft, verharrte auf Brusthöhe und begann sich um sich selbst zu drehen. Jetzt erkannte Lenyo deutlich einen filigranen Bronzering, um den winzige Flammen züngelten.

Trotz des Geruches trat Max wieder einen Schritt näher. »Und jetzt?«

»Jetzt warten wir, bis er abgekühlt ist.« Janus schloss die Schatulle, legte die Schale auf den Deckel und stellte beides auf einen Tisch, ohne den Ring weiter zu beachten. »Ihr könnt euch in der Zwischenzeit schon mal überlegen, wer das Teil tragen will.«

»Ich«, antwortete Lenyo sofort.

»Warum du?«, fragte Robin neugierig.

Janus fuhr sich durch den dunkelblau gefärbten Haarschopf. »Wer den Ring trägt, an den ist die Bitch gebunden.«

Max schnaubte. »Mit diesem Ring nehme ich –«

»Sprich es nicht aus«, unterbrach ihn Janus grob.

Max wurde rot. »Sorry. Hätte ich damit den Zauber zerstört?«

Der Dschinn winkte ab. »Nein. Aber das Eheversprechen ist heilig. Ich mag es nicht, wenn man darüber Scherze macht.«

Lenyo hob eine Augenbraue. »Dein Ernst? Seit wann?«

Janus funkelte ihn an. »Ich mag vielleicht nichts von der engstirnigen Vorstellung halten, dass eine Ehe immer nur von zwei Personen eingegangen werden kann oder dass sexuelle Treue mit emotionaler gleichgesetzt wird. Aber ansonsten finde ich diesen Menschenbrauch wirklich schön. Man verspricht sich, füreinander da zu sein in guten wie in schlechten Zeiten. Und …«

Lenyo hob abwehrend die Hände. »Schon gut, ich hab’s kapiert.«

Der Dschinn räusperte sich. »Deshalb mag ich es nicht sonderlich, für diesen Zauber einen Ring zu beschwören. Aber ich kann sie ja schlecht permanent an dich binden.«

Ein Schauer lief Lenyo das Rückgrat hinunter.

»Das geht?« Robin trat neben Max und betrachtete fasziniert den Ring.

»Es geht, ist aber nie eine gute Idee«, sagte Janus. »Mit einem Ring ist das einfach: Die Jägerbitch muss demjenigen gehorchen, der ihn trägt. Und wenn ihr die Bindung aufheben wollt, müsst ihr den Ring nur einschmelzen. Wenn ich die Pestbeule regulär an einen von euch gebunden hätte, dann wäre das Brechen des Zaubers deutlich schwieriger. Und unappetitlicher.«

»Wie –«, begann Robin.

Janus schnitt ihr das Wort ab. »Das willst du gar nicht wissen.«

»Wie lange dauert es denn, bis der Ring abgekühlt ist?«, wollte Max wissen. Er streckte vorsichtig den Zeigefinger danach aus, zog ihn jedoch zurück, als er den Flammen zu nahe kam. »Immer noch ziemlich heiß.«

Der Dschinn grinste. »Schätzchen, alles hier bei mir ist ziemlich heiß.«

»Janus«, mahnte Lenyo.

»Schon gut, schon gut. Die Sahneschnitte ist off Limits«, erwiderte er und beobachtete mit einem zufriedenen Grinsen, wie Max das Blut ins Gesicht stieg. »Auch wenn mir neu war, dass du auf Andersseiter stehst.« Der Dschinn wandte sich an Robin. »Dann fangen wir am besten mit dir an. Lust, mit mir in mein Schlafzimmer zu kommen und deine Kleider loszuwerden?«

»Entschuldigung?!«, protestierte Robin, während Max loshustete. Lenyo streckte bereits die Hand nach der Schulter des Dschinns aus, als dieser laut loslachte. »Eure Gesichter! Herrlich! Das war kein anzügliches Angebot. Ich meinte doch nur wegen eurer Klamotten.« Er deutete auf die Anzüge, die sie seit der Goldglanz-Party trugen. »Ich habe da hinten eine ganze Schrankwand voller … na ja, nicht unbedingt unauffälligerer Outfits, aber definitiv passenderer für diese Seite Berlins. Da ist definitiv auch was für euch dabei. Denn wenn ihr die Fetzen weitertragt, nehmen Tamyras Spürhunde garantiert sofort eure Fährte auf.«

Lenyo wollte widersprechen, musste sich dann allerdings eingestehen, dass ihr Gastgeber recht hatte. Selbst wenn Max und Robin den Zauber der goldenen Manschetten deaktivierten, haftete der Geruch eines kürzlichen Grenzübergangs noch an ihnen. Und er trug noch nicht einmal Manschetten. Die Jäger konnten hier zwar nicht in Massen herumschwirren wie auf der anderen Seite, aber falls ein paar von ihnen in der Gegend nach drei altmodisch gekleideten jungen Menschen fragten …

Ein hoher Pfeifton ließ alle bis auf den Dschinn zusammenzucken.

»Wunderbar«, sagte der. »Er ist abgekühlt.« Er zwinkerte Lenyo zu. »Versteh das jetzt nicht schon wieder falsch, aber darf ich um deine Hand bitten?«

Ehe Lenyo etwas sagen konnte, krachte einer der Fensterflügel gegen die Wand. Die Verglasung hielt, doch ein Windstoß peitschte ins Zimmer.

Diesmal war es Janus, der den spitzesten Schrei ausstieß.

»Der Ring!«, rief Robin erschrocken.

Der Reif fiel zu Boden, hüpfte über das Parkett und verschwand hinter hohen Blumenvasen. Gleichzeitig drehte sich die Jägerin stöhnend auf die Seite.

»Max!«, rief Lenyo, stürzte sich auf Tamyras Schergin und drückte sie zu Boden, ehe sie ganz zu sich kommen konnte. »Den Schlägel!«

Er hob die Hand, doch Max warf ihm die Waffe nicht zu, sondern kam damit direkt auf sie zu und holte aus.

»Du brauchst ihr nicht den Kopf einzuschlagen«, sagte Lenyo schnell.

Die Jägerin begann, gegen seinen Griff anzukämpfen.

Max klatschte ihr mit dem in Spitze eingewickelten Kopf des Plauener Schlägels an die Stirn. Nichts geschah. Die Jägerin begann zu knurren. Shit.

»Noch mal«, wies er Max an. »Robin, wir brauchen den Ring!«

Max schlug erneut zu, fester diesmal. Die Jägerin stieß ein wütendes Zischen aus, wurde jedoch nicht bewusstlos.

Lydic, dachte Lenyo frustriert. Von wegen, der Schlägel war frisch aufgeladen! Der Archivar hatte sich über den Tisch ziehen lassen. Max ließ die nutzlose Waffe fallen und half Lenyo, die Jägerin unten zu halten.

»Hab ihn!«, rief Robin triumphierend und richtete sich hinter den Blumenvasen auf.

Der Dschinn, Max und er selbst stießen erleichterte Geräusche aus. Janus nahm Robin das Schmuckstück aus der Hand und eilte durch den Raum. Während Lenyo noch auf dem Rücken der Jägerin kniete, um den sich stärker windenden Oberkörper nach unten zu pressen, steckte Janus ihm den schmalen Bronzereif an den Finger.

»Hör auf, dich zu wehren, Jägerin«, stieß Lenyo hervor, kaum, dass er das kühle Metall auf der Haut spürte.

Die Jägerin unter ihnen erschlaffte.

Alle atmeten auf.

»Bleib unten«, befahl Lenyo und sie standen auf.

Die Jägerin blieb heftig atmend auf dem Parkett liegen und funkelte ihn wütend aus nachtschwarzen Augen an. Eine von denen war sie also. Jetzt, wo er ihre Pupillen richtig sah, fiel ihm auch ihr spitzes Kinn auf. Unter den straff zurückgebundenen Haaren versteckten sich sicher ausgefranste Ohrmuscheln, die markantesten Erkennungszeichen einer Nachtmahr. Dass ausgerechnet eine wie sie für Tamyra arbeitete …

»Und jetzt?«, fragte sie giftig. »Ihr kommt nicht weit.«

»Du tust besser, was er dir befiehlt«, fuhr Robin sie an. »Lenyo, sag ihr, dass sie die Klappe halten soll.«

»Sei still«, befahl er.

Die Jägerin schien ihn mit einem Blick erdolchen zu wollen, blieb aber stumm.

»Irre«, murmelte Robin. »Sie muss jetzt alles tun, was du ihr befiehlst? Wirklich alles?«

Lenyo nickte. »Jedenfalls fast. Wir können ihr nicht befehlen, sich selbst von einem Hochhaus zu stürzen oder so. Und gerade ist sie geschwächt, das dürfte auch dafür sorgen, dass die gerade so handzahm ist.«

Hinter ihnen ließ sich Janus mit einem Stöhnen auf die Ledercouch sinken.

»Alles gut?«, fragte Max.

»Wenn man von der Tatsache absieht, dass eine Jägerin jetzt weiß, wo ich wohne.« Janus’ Stimme troff vor Ironie.

Lenyo griff nach dem Schlägel. Obwohl er vermutlich nichts mehr taugte, bis er mit neuer Spitze bespannt wurde, wollte er ihn nicht in der Nähe seiner Gefangenen liegen lassen – gebunden oder nicht. Falls es ihr gelang, damit zuzuschlagen, konnte sie trotz der verbrauchten Magie eine Menge Schaden anrichten. Dann ging er zum Dschinn hinüber, ließ sich neben ihm auf die Couch sinken und tätschelte ihm beruhigend das Knie. »Ich befehle ihr einfach, dich nicht zu verraten.«

»Dein Befehl wird nichtig, sobald du den Ring einschmilzt«, erwiderte Janus.

»Uns fällt schon etwas ein«, versprach Lenyo. Er blickte zu Max und Robin, die verloren im Raum standen. »Setzt euch.«

Die beiden suchten sich freie Sessel.

Gespannt starrten sie alle zur Jägerin.

»Wie heißt du?«, fragte Lenyo.

»Kalinda«, antwortete sie schroff.

»Wie hast du uns entdeckt?«

»Habe ich nicht.«

Lenyo verdrehte die Augen. »Weißt du, wer wir sind?«

Die Jägerin schob das Kinn vor. »Verräter.«

Er lachte auf. »Wir sind die Verräter? Guter Witz.«

Sie schwieg.

Janus lehnte sich gegen ihn. »Du hast ihr befohlen, still zu sein. Wenn du sie nichts fragst, wird sie stumm bleiben.«

Er nickte grimmig. »Gut.« Dann blickte er Kalinda fest in ihre pechschwarzen Nachtmahr-Augen. »Du kannst aufstehen.«

Sofort schoss die Jägerin in die Höhe.

»Stopp«, befahl Lenyo schnell und sie erstarrte wieder.

»Als wäre sie ein ferngesteuerter Roboter«, murmelte Max.

Lenyo musste ihm recht geben. Ihn hatte ihre Bewegung an die Porzellantänzerin auf der Spieluhr erinnert, die seine Schwester als Kind besessen hatte. Je nachdem, in welche Richtung man den kleinen Hebel an der Seite des Gehäuses drückte, hatte sie sich gedreht oder war in der Bewegung eingefroren.

Nachdenklich betrachtete er den Bronzereif an seinem Finger. Wenn er ehrlich war, gefiel es ihm nicht, solche Macht über ein anderes Wesen zu besitzen.

»Du wirst uns nicht angreifen, Kalinda«, befahl er ihr, ohne den Blick vom Ring zu nehmen. »Du wirst nicht versuchen, uns zu verraten, zu fliehen oder uns Schaden zuzufügen. Im Gegenteil.« Er lächelte versonnen. »Du wirst uns verteidigen, sollte es nötig sein. Du wirst für unsere Sicherheit sorgen und alles dafür tun, damit wir unentdeckt bleiben. Du wirst uns mitteilen, was uns nützlich sein kann, auch wenn wir nicht explizit danach fragen. Unter der Prämisse, dass du all dies befolgst, kannst du dich bewegen und mit uns sprechen. Solange du in unserer Nähe bleibst. Verstanden?«

»Ja. Soll ich euch auch den Arsch abwischen?« Ihre Schultern bebten.

Es war deutlich, dass ihr das alles nicht gefiel. Tja, da waren sie schon zu zweit. Aber eine andere Lösung fiel ihm nicht ein.

»Hab ich etwas vergessen?«, fragte er stattdessen Janus.

Der schüttelte den Kopf. »Es sei denn, du willst ihr das Schandmaul verbieten.«

Die Jägerin schnaubte. »Mauerscheißer!«

Der Dschinn stand auf und ging zu ihr hinüber. »So eine attraktive Frau und so eine hässliche Ausdrucksweise. Und furchtbar in die Jahre gekommen. Also dein Wortschatz, nicht du.«

Kalinda spuckte vor ihm auf den Boden.

Janus lachte nur. »Glaubst du, damit verletzt du mich? Ich hab schon Schlimmeres erlebt.«

»Was habt ihr jetzt mit mir vor?«, fragte sie.

Der Dschinn klatschte in die Hände. »Jetzt wird dir Lenyo befehlen, diese furchtbaren Klamotten gegen etwas weniger Peinliches einzutauschen. Schwarz ist so was von yesterday. Und vielleicht hebt ein bisschen Farbe dein Gemüt.«