19 . Kapitel

Kalinda

K alinda betrachtete die plappernde Andersseiterin und stellte sich vor, ihren Hinterkopf zu packen. Der Klang, wenn das Gesicht gegen die Wand knallte, wäre wunderbar beruhigend.

»Denk nicht mal dran«, sagte Janus.

»Ach«, patzte sie zurück, »soll euer Sklavenring mir nun auch das Denken verbieten?«

»Es sind sowieso nur Träume, die niemals in Erfüllung gehen, Schätzchen.« Er zwinkerte ihr zu. »Ein paar davon hättest du im Berghain sicher besser ausleben können.«

»Tamyra wird euch einen schmerzhaften Tod bescheren.«

Janus winkte gelangweilt ab, woraufhin sie sich direkt daranmachte, eine neue Todesart für ihn zu ersinnen. »Was wird sie wohl mit dir machen?«, gab er zurück. »Versagen kommt nicht so gut bei unserer hochwohlgeborenen Superbitch.«

Zugegeben, da hatte er recht. Kalinda musste sich eingestehen, dass ihre Arbeit für Tamyra eher suboptimal verlief.

»Tamyra ist in ihrer Weisheit unfehlbar«, stellte Kalinda klar.

»Die ist ja echt total durch«, kommentierte diese Robin.

Testweise tat Kalinda einen Schritt mit der deutlichen Vorstellung, die Andersweltlerin zu packen und … Ihr Körper stoppte. Dann werde ich sie eben nur ordentlich verdreschen. Keine Chance. Sie fokussierte sich auf einen sanften Schlag gegen die Nase. Noch immer hielt die Bindung sie davon ab.

Kalinda seufzte.

In ihren Gedanken sah sie sich selbst, wie sie Robin sanft streichelte.

Prompt funktionierte ihr Körper wieder und sie taumelte nach vorn. War ja klar.

Janus sprang sofort in Abwehrhaltung.

»Ist da jemand überängstlich und vertraut seinen eigenen Zaubern nicht?« Kalinda verzog die Lippen zu einem höhnischen Lächeln. »Glaub mir, sobald ich diesen Zauber los bin, hast du allen Grund, für den Rest deines Lebens wachsam zu sein.«

»Dann verkürzen wir doch einfach deines, schon kann ich wieder friedlich Orgien feiern.«

»Leute, könnt ihr jetzt mal damit aufhören?«, rief Robin.

Verblüfft sah Kalinda sie an. Hatte diese Andersseiterin es gerade gewagt, sie anzubrüllen? »Du wagst es …«, krächzte sie.

»Schnauze!«

Kalinda schwieg. Was eigentlich absolut undenkbar war. Dafür hasste sie alle noch mehr.

»Mein bester Freund ist gerade irgendwo unterwegs und holt ein seltsames Kraut bei einem magischen Wesen«, sagte Robin. »Und wir sitzen hier an dem Ort, den diese Tamyra unbedingt finden will. Ich brauche nicht noch mehr …« Sie fuchtelte mit der Hand in Richtung von Kalinda und Janus. »… davon.«

»Wovon?«, hakte der Dschinn zuckersüß nach.

»Janus.« Die Drohung war deutlich.

»Ist ja gut, ich bin für ein paar Minuten der good Dschinn. Obwohl mir der bad Dschinn immer viel mehr Spaß macht.«

Ob die Andersseiterin eine Kriegerin war? Kalinda hielt das durchaus für möglich. Ihr Mut war beeindruckend. Kaum jemand wagte es, eine Jägerin anzuschreien. Und bei Lydic hatte sie auch ihre Frau gestanden. »Ich bin Kalinda die Großjägerin, niemand befiehlt mir!«

Robin zog lediglich die Augenbraue in die Höhe.

»Niemand befiehlt mir, wenn ich nicht versklavt bin«, ergänzte Kalinda schnell. »Auch keine Andersseite-Kriegerin.«

»Bitte was? Wovon redest du da?«

Janus seufzte. »Sie versucht sich einzureden, dass du eine Kriegerin bist. Dann kann sie später, wenn sie den Ring los ist und uns alle umgebracht hat, eine großartige Schlacht daraus machen. Sie hat böse Andersseiter besiegt, Krieger der Dunkelheit, die das Licht von Tamyra … jada, jada, jada.« Er wedelte mit der Hand.

Sie würde dem Dschinn genau diese Hand brechen.

»Also mit der Kriegerin liegst du falsch«, sagte Robin und verschwand in die Küche.

Janus hatte seine Position auf der Couch – liegend – sowieso nie verlassen. Kalinda stand mit verschränkten Armen an der Wand des Wohnzimmers und dachte nicht daran, sich irgendeine Blöße zu geben.

»Was zu trinken?« Robin kehrte mit einem Tablett zurück, auf dem drei Gläser standen.

Kalinda würde sie mit dem Tablett verprügeln. »Ja.« Frau musste schließlich hydriert bleiben, um alle am Ende zu töten.

Sie trank in kleinen Schlucken, nachdem auch der Dschinn ein Glas geleert hatte. Es gab Hunderte geruch- und farblose Gifte. Hier schien keines enthalten zu sein. Weichlinge.

»Man kann wohl sagen, dass ich das Gegenteil einer Kriegerin bin«, erklärte Robin. »Ich habe vor fünfzehn Jahren einen Blog aufgezogen, auf dem ich Artikel geschrieben habe. Aufrüttelnde, regierungskritische … ihr wisst schon, Gesellschaft hinterfragen und so was.«

»Eine Revoluzzerin«, sagte Janus. »Nice.«

»Pff«, kommentierte Kalinda.

Robin lachte bitter auf. »Wohl kaum. Ich hab ein paar Jahre später damit angefangen, meine Artikel größeren Zeitschriften anzubieten. Einige davon wurden sogar genommen. Dann sind die falschen Leute auf mich aufmerksam geworden.« Sie schluckte. »Sie haben mir aufgelauert.«

Kalinda wollte etwas Gemeines sagen, doch die Worte drangen nicht über ihre Lippen. Sie erinnerte sich nur allzu gut an jene Kindertage, in denen sie im Dreck gelebt hatte. Kampf um Essen, Kampf um frisches Wasser. Kaum jemand hatte eine Ahnung, wie gnadenlos Kinder und Jugendliche unter sich sein konnten. Es waren fünfzehn gewesen, die ihr aufgelauert hatten, nachdem sie an einem Stand erfolgreich einen Laib Brot gestohlen hatte. Stöcke, Peitschen, rostige Klingen. Irgendwann hatte Kalinda nur noch ihr Messer geschwungen, war ausgewichen und hatte zugestoßen. Der Tag endete damit, dass Kalinda in Blut stand und ihr Brot aß. So hatte die Oberste Jägermutter sie gefunden. Kalinda war ausgebildet worden, hatte den Weg jener bestritten, die die Mächtigen verteidigten.

»Ich habe mich gewehrt, aber am Ende lag ich verkrümmt am Boden«, sprach die Andersseiterin weiter. »Sie haben mir zwei Rippen gebrochen und die Hämatome haben dafür gesorgt, dass ich ausgesehen habe wie ein aufgequollener Hamster.«

»Wurden sie erwischt?«, fragte der Dschinn.

Die Andersseiterin schüttelte den Kopf. »Danach habe ich aufgehört, Artikel zu schreiben.«

»Du hast aufgegeben?«, fragte Kalinda fassungslos.

Aufgeben war gleichbedeutend mit dem Tod. Die Schule für Jägerinnen und Jäger duldete kein Versagen und nicht wenige Schüler starben bereits im ersten Jahr, wenn die Bestrafungen begannen.

Es gab Aufträge, bei denen Herrenhäuser infiltriert werden mussten. Wurde man dabei erwischt oder löste eine der tödlichen Fallen aus, war es das.

Nur eine Handvoll erreichte mit dem Großen Kampf den Abschluss. Da untereinander eine immense Konkurrenz herrschte, gab es nur eine Bindung: die zur Großen Jägermutter und deren Regeln. Als Tamyra eines Tages gekommen war, um neue Jäger für den Palast zu rekrutieren, hatte Kalinda es geschafft, aufgenommen zu werden. Die Große Jägermutter hatte ihr die Hand auf die Stirn gelegt und in der Erhabenheit des Augenblicks hatte Kalinda den Stolz gespürt, der von der alten Frau ausging.

Es war der glücklichste Moment in ihrem Leben gewesen.

»Was tust du denn jetzt?«, fragte Janus. »Um deinen Lebensunterhalt zu verdienen, meine ich.«

»Ist ja alles schon einige Jahre her«, sagte die Andersseiterin. »Ich arbeite jetzt im sozialen Bereich. Menschen helfen, die abgestürzt sind, Familien wieder zusammenführen.« Bei diesen Worten bekamen ihre Augen einen sehnsüchtigen Glanz. »Es gibt nichts Schöneres.«

Kalinda machte ein würgendes Geräusch. »Deine Schwäche ist ekelhaft.«

Robin zuckte zusammen.

Janus seufzte genervt. »Und da ist sie wieder, die Königin des schlechten Timings und der noch schlechteren Manieren.«

»Ich bin nur ehrlich«, stellte Kalinda klar. »Auf unserer Seite hätten sie dich nicht liegen lassen. Du wärst von Messern aufgeschlitzt worden. Sie hätten deinen blutigen Kadaver am Morgen in irgendeiner Grube verscharrt.«

»Das sagt mehr über euch aus als über mich«, stellte Robin klar. »Ihr habt eine gnadenlose Welt geschaffen, in der nur der Stärkere überlebt. Aber in vielen Wesen, deren Äußeres schwach wirkt, steckt so viel mehr. Kreativität, Tiefgang, Ideen … sie können eine Welt verändern. Stattdessen werden sie weggeworfen, weggesperrt und vergessen. Ich hoffe wirklich, dass du eines Tages deinen Irrtum erkennst, Jägerin. Dann wird der Schmerz eines Lebens voller falscher Entscheidungen dich zerstören, ohne dass eine Klinge dich berührt.«

Kalinda starrte die Andersseiterin verwirrt an. Sie sprach wie eine Kriegerin, gestand aber doch ihre Schwächen ein. Wieso tat sie das?

»Trink dein Wasser und erspare uns eine Antwort«, sagte Janus. »Punktesieg für die Andersseiterin in der rechten Ecke, k.o. in der dritten Runde.«

Robin grinste verschmitzt und die Erinnerungen wichen aus ihrem Blick. Nur ein Schatten blieb daran haften. Das Echo von altem Schmerz, der nie ganz gewichen war.

Kalinda nahm es zur Kenntnis. Jede Art von Wesen ließ sich durch Schwäche manipulieren, deshalb hatten sie gelernt, keine zu zeigen. Sie erschufen Geschichten aus Lug und Trug, Vergangenheiten, die nie existiert hatten. Jeder Jäger, jede Jägerin besaß zehn verschiedene Ereignisse aus seiner oder ihrer Vergangenheit. Alles Lügen. Doch sie konnten abgerufen werden, um das Gegenüber zu täuschen. Niemals gab man die Realität preis. Von jenen, die vertraut hatten, jenen, die Wahrheit gesprochen hatten, hatte es keiner bis zum Großen Kampf am Ende der Schulzeit geschafft.

Das Ziel war niemals die Nähe zu anderen. Die Distanz musste ein tiefes Bedürfnis in jedem Jäger sein. Loyalität und Ehrlichkeit gab es nur gegenüber der Großen Jägermutter. Sie allein kannte die Wahrheiten all ihrer Kinder.

»Denkst du, es geht Max gut?«, fragte Robin.

»Ich denke, ihr müsst aufhören, euch alle Sorgen um ihn zu machen«, sagte Janus. »Langsam geht ihm das auf die Nerven.«

»Er ist ein Freund«, stellte die Andersseiterin klar. »Ich mache mir um jeden meiner Freunde Sorgen und möchte, dass es ihnen gut geht. Umgekehrt hoffe ich, dass das genauso ist. Das hat nichts mit Max direkt zu tun.«

»Aber um Lenyo sorgst du dich nicht?«

»Pff. Der hat einmal zu viel am Testosteron geschnüffelt. Pustet der Idiot mir dieses Pulver ins Gesicht und legt mich schlafen, damit ich keine Fragen stelle! Das nächste Mal schick ich ihn auf die Matratze.«

»That’s the spirit.« Der Dschinn klatschte in die Hände.

Kalinda verdrehte genervt die Augen. »Wenn Tamyra euch findet, seid ihr sowieso alle tot.«

»Jetzt geht das wieder los.« Janus schlug in enervierender Gemächlichkeit die Beine übereinander, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und blickte zur Decke. »Gib’s zu, du hast ’nen Crush auf Tamyra. Ist sie deine Mistress?«

Sie würde den Dschinn töten. »Ich werde dich töten, Dschinn.«

»Eben hast du noch gesagt, dass Tamyra das tun wird.«

»Wir töten dich, beleben deinen Körper und wiederholen es.«

»Du hattest echt eine beschissene Kindheit, oder?« Robin schüttelte den Kopf. »Wie kann man nur ständig über töten und sterben sprechen?«

»Ich denke auch gerne darüber nach«, sagte Kalinda. »Möchtest du erfahren, welche Todesarten ich mir für dich überlegt habe?«

»Nein, danke.« Die Andersseiterin winkte ab. »Ich lass mich überraschen.«

»Das ist weise«, sagte Kalinda. »Du könntest andernfalls keine ruhige Nacht mehr verbringen.«

»Wie wäre es, wenn wir für Kalinda ein hübsches leeres Zimmer suchen und sie dort parken?«, sagte Janus. »Dann kann sie weiter ihren Mordfantasien nachgehen und wir müssen nicht ständig das Gefühl bekämpfen, sie zu erwürgen.«

Kalinda überdachte ihre weitere Strategie. Sie arbeitete längst daran, einen Ausweg aus der Gefangenschaft zu finden. Niemand konnte einen Bindungszauber vollständig perfekt weben, die Befehle ohne Schlupfloch formulieren. Auch Lenyo war das nicht gelungen.

Mit jeder verstreichenden Minute kam sie einer Lösung näher. Letztlich ging es darum, die eigene Perspektive perfekt auf die Flucht abzustimmen, ihren Geist zu formen. Man konnte immerhin interpretieren, dass die Gruppe mit einer Stimme sprach.

Janus oder Robin konnten durch hastig ausgesprochene Befehle die Fesseln lockern. So entstand eine Möglichkeit, aktiv zu werden.

Kalinda lächelte nur innerlich.

Sie lächelte grundsätzlich nur innerlich.

Meist wenn sie die Beute längst erwischt hatte, die es aber noch nicht wusste.