Tamyra
M it einer schwungvollen Bewegung warf Tamyra ihren Houdini-Mantel Konstanze zu. »Am Ende findet sich eben doch noch alles.«
Sie wedelte mit der Hand und wartete.
Der lavendelfarbene Nebel verflüchtigte sich nur langsam, Silhouetten zeichneten sich darin ab. Irgendwo wurde gekämpft, Wesen hetzten von links nach rechts. Ihre Garde hielt Schaden von ihr ab, die Jägerinnen und Jäger schwärmten bereits aus.
Als sich die Schwaden endlich verzogen hatten, lag Lydic vor ihr. Sonst war niemand zu sehen.
»T… Tamyra«, krächzte er. »Welch eine Überraschung.«
»Nicht wahr?« Sie schenkte ihm ihr bestes falsches Lächeln. Was gar nicht schwer war, immerhin hatte er sie hierhergeführt.
Das Geräusch von schmiedeeisernem Metall erklang, das nachgiebige Haut zerfetzte.
»Ich ergebe mich«, sagte Lydic.
Wie goldig er doch war. »Natürlich tust du das. Während meine Leute hier aufräumen, lass uns ein wenig plaudern. Das habe ich auch mit Yelna bereits getan.«
»Du …« Lydic erbleichte. »Was ist mir ihr?«
Tamyra winkte ab. »Das tut jetzt nichts zur Sache. Und lass mich dir sagen, dass du dich nicht in der Position befindest, Fragen zu stellen. Antworten sind da deutlich wichtiger, sie verlängern dein Leben.«
Sie gab einem der Jäger – sie nannte ihn Nummer drei, weil sein Name … nun, sie wollte ihn sich einfach nicht merken – einen Wink. Dieser öffnete eine Holztruhe, die er mitgeschleppt hatte.
»Nein, oh, nein. Bitte nicht.« Lydic wich zurück, wurde aber von einer Front aus Jägern gestoppt.
»Umlegen«, sagte Tamyra und ergänzte auf den fragenden Blick von Nummer drei: »Den Kragen. Nicht Lydic.«
Er wimmerte natürlich und bettelte, versprach vom wertvollsten Artefakt bis zur geheimsten Information alles.
Während ihm der Guillotine-Kragen umgelegt wurde, sah Tamyra sich um. Gewundene Treppen führten in die Höhe und endeten vor einer Wand. Halbe Gemälde schmückten die Tapete. Fenster zeigten grauen Stein.
»Gestohlene Räume.« Tamyra schnippte mit dem Finger. »Oh, das ist gut. Da werden mir einige Sucher etwas zu erklären haben. Derartige Muster hätten sie sehen müssen. Sag mir Lydic, ist der Erlkönig hier?«
»Nein«, sagte der Archivar mit zittriger Stimme. »Ich habe ihn nicht gesehen.«
»Was nichts heißen muss.« Tamyra wandte sich an Konstanze. »Das Nebelzimmer hat oberste Priorität. Ich will den Erlkönig. Und den Tresor, von dem unser Agent berichtet hat.«
»Ich gebe das weiter.«
»Liebster Lydic.« Tamyra nahm das Klingeneisen entgegen und berührte damit den Guillotine-Kragen. »Du weißt, was geschieht, wenn ich mit den Fingern schnippe?«
Er schloss für eine Sekunde die Augen. Seine Flügel entfalteten sich, sein Körper hob sich einen Zentimeter in die Luft.
»Jetzt drehen wir hier aber nicht gleich durch, ja?« Tamyra legte die Hand auf seine Schulter und schob ihn wieder hinunter. »Also?«
»Ja, ich weiß es.«
»Ich will …« Der Boden erzitterte und riss ihr die Worte von den Lippen. »Was ist hier los?«
Sie warf einen Blick zurück. Die Tür war geschlossen, das Wasser der Spree floss noch immer darunter hindurch, doch das konnte nicht der Auslöser sein. Dafür war der Riss zu klein.
Sie trat an das Guckloch und sah hinaus. Die Risse verästelten sich, wurden zahlreicher. »Die Zauber kollabieren. Waren wir das?«
Der angesprochene Hauptmann zuckte zusammen. »Meines Wissens nach nicht.«
In diesem Augenblick kam der Oberste Jäger des Palastes zurück. »Sie haben den Diebstahlzauber umgekehrt. Das Nebelzimmer ist direkt vor meinen Augen mit einer Frau darin verschwunden, bevor ich es betreten konnte.«
Mehr musste Tamyra nicht wissen. All das hier wurde auseinandergerissen, die Räume an ihren Ausgangspunkt zurückgeschleudert. Da es schnell gehen musste, würde dabei einiges zerbrechen, Zauber entarten, Körperteile den Transfer nicht überstehen. Und natürlich hatte die Stellvertreterin des Erlkönigs zuerst das wichtigste Zimmer weggeschafft, mit dem Tresor und sich selbst. »Das wird unangenehm.«
»Wir müssen hier raus, Euer Hoheit«, schaltete sich ihre Leibgardistin ein. »Euer Schutz …«
Tamyra winkte ab. »Oberster Jäger, verteilt eure Leute, so weit es geht. Ich will, dass sie den Transfer mitmachen und so viele Widerständler wie möglich von ihrem sinnlosen Dasein befreien.«
Der Mann erbleichte, nickte aber und rannte los.
Für nicht wenige seiner Leute war dies ein Todesurteil. Auch sie würden bei dem Transfer Blessuren davontragen oder nur teilweise das Ziel erreichen. Glücklicherweise gab es genug davon.
Tamyra griff in ihre Hosentasche und befühlte den Portus. Ein schwarzer Stein, der von innen heraus purpurfarben glomm. Er war mit dem Purpurschleier am Alexanderplatz verbunden. Die Passage damit war schmerzhaft, doch im Notfall konnte sie ihr Leben retten.
Die Anzahl der Personen, die sie mitnehmen konnte, war allerdings begrenzt.
Konstanze räusperte sich und trat einen Schritt näher. Kluge Frau.
»Also, Lydic«, sagte Tamyra. »Wir sollten wirklich darüber sprechen, wie du noch von Nutzen sein kannst. Denn andernfalls müssten wir diese Sache jetzt beenden.«
»Natürlich, natürlich.«
»Wo befinden sich Lenyo und die Andersseiter?«
Lydic schwieg.
Tamyra hob eine Augenbraue.
Als der Archivar weiterhin beharrlich die Lippen zusammenpresste, winkte sie zwei Jäger herbei. »Schnappt euch die Buchmotte und bindet sie so auf einer Schwelle zwischen zwei Räumen fest, dass der Unterleib auf der einen, der Oberkörper auf der anderen Seite liegt.«
»Nein!«, entfuhr es Lydic.
Die beiden Jäger griffen nach dem Archivar, doch sie hielt sie mit einer Handbewegung auf und blickte Lydic streng an. Er erwiderte ihren Blick voller Angst.
»Auf der anderen Seite«, sagte er schließlich.
Tamyra starrte ihn an. »Soll das jetzt witzig sein?«
»Äh, nein, die Andersseiter sind wirklich auf der anderen Seite.«
»Das ist mir klar!«, blaffte sie ihn an. »Wo dort? Was ist ihr Ziel?«
»Der Mann …«
»Ich weiß, wer er ist. Oder eher: von wem er abstammt. Das macht es umso wichtiger.«
»Sie suchen nach Antworten.«
Der dämliche Kerl versuchte allen Ernstes, Zeit zu schinden. War Lydic möglicherweise doch schlauer als bisher angenommen? Opferbereit?
In diesem Augenblick spürte Tamyra ein Ziepen. Verblüfft betastete sie ihre Ohrringe. Die in Glas gegossenen Rosenblätter waren alt und äußerst kostbar. Ihre Zuchtmeisterin lange fort, wodurch sie zu Einzelstücken geworden waren.
»Tamyra«, erklang ein Wispern in ihrem Geist.
»Was …« Sie sah sich verwirrt um. »Wer spricht da?«
»Ich bin es, Klytaimnestra.«
Sie griff nach den Ohrringen, um sie abzuziehen und wegzuwerfen. »Ich hätte es wissen müssen. Deine Geschenke sind stets vergiftete Kelche.«
Was nur zu einem Teil Metapher war.
»Euer Hoheit?«, erklang die Stimme von Konstanze.
Tamyra bedeutete ihr zu schweigen, aber noch näher zu treten. Sie behielt die Umgebung im Auge, war sich der ständigen Beben und des Stroms aus Spreewasser durchaus bewusst. Die Statik dieses verborgenen Hauptquartiers zerbrach mit jedem Raum, der im Nichts verschwand, etwas mehr.
»Ich will zurückkehren. Und dafür bin ich bereit, etwas zu bezahlen. Lenyo war bei mir.«
Tamyra stoppte in der Bewegung, ließ die Ohrringe an ihrem Platz. »Falls das ein Trick ist …«
»Kein Trick«, wisperte Klytaimnestra. »Er hatte einen Andersseiter dabei. Und gemäß ihren Erzählungen möchtest du dich mit beiden unterhalten.«
»Was wollten sie von dir?«
»Eine Möglichkeit, Illusionszauber aufzuheben. Es ging dabei um die Großmutter des Jungen. Sie suchen Aufzeichnungen und Erinnerungen.«
Tamyra schloss die Augen. Ihre schlimmsten Befürchtungen waren also wahr. Sie musste den verdammten Spross der Blutlinie ihrer Schwester finden und ausmerzen. Zusammen mit allem, was sich dort sonst noch fand. »Nun, dann bist du nutzlos. Oder weißt du, wo sie sich befinden?«
»In der Tat«, erwiderte Klytaimnestra.
Risse taten sich im Boden auf, verästelten sich. Beton zerplatzte. Die Tür bog sich. Das Wasser der Spree floss jetzt immer schneller herein, und es waren kaum noch Räume übrig. Der Kampfeslärm war verstummt.
»Wie finde ich sie?«
»Ich darf zurückkehren auf die andere Seite«, stellte Klytaimnestra ihre Forderung. »Niemand wird mich anklagen, verfolgen, kein ›Unfall‹ wird mich ereilen. Du stellst mir ein Grundstück mit Haus zur Verfügung, wo ich in Ruhe gelassen werde und mich um meine Pflanzen kümmern kann.«
»Wenn du lieferst.«
»Wir treffen uns auf meiner Seite und unterschreiben beide einen Blutseelenvertrag. Danach werde ich dir sagen, wie du Lenyo und die Andersseiter finden kannst. Max trägt Pollen in sich, die aufgespürt werden können.«
»Wir haben einen Deal«, sagte Tamyra.
»Ich melde mich in Kürze mit dem Ort unseres Treffens.«
»Lass dir nicht zu lange Zeit.«
Klytaimnestra erwiderte nichts, die Ohrringe fühlten sich wieder an wie zwei simple Schmuckstücke.
»Dieser Tag wird besser und besser.« Tamyra klatschte in die Hände. »Wie es scheint, benötige ich deine Informationen nicht mehr, Lydic.«
Die Angeln der Tür ächzten.
»Einpacken.« Tamyra deutete auf den Guillotine-Kragen.
Einer der Gardisten machte sich daran, diesen zu lösen.
»Mach dir keine Mühe.« Tamyra winkte ab.
Und schnippte mit dem Finger.
Ein kurzes Twing war zu hören, wie von einer hauchdünnen Gitarrensaite, die durch Fleisch und Knochen schnitt.
Lydic hatte in der letzten Sekunde seines Lebens begriffen, was ihm bevorstand. Seine Augen waren in Entsetzen und Angst weit aufgerissen. Sie verschwanden aus Tamyras Blickfeld, als der Kopf von den Schultern getrennt wurde und zu Boden fiel. Es patschte, als der Körper folgte. Blut schoss hervor und verteilte sich im Wasser.
Jetzt konnte der Guillotine-Kragen aufgesammelt und verstaut werden. Manche Lösungen waren so simpel.
Bedauerlicherweise nicht alle.
»Die Jäger sind fort, damit ist es an der Zeit, dass auch wir verschwinden.«
Sie schätzte kurz den Radius ab, den der Portus erschaffen konnte. Konstanze musste natürlich mit, ebenso die Anführerin der Palastgarde. Da die Jäger alle ausgeschwärmt waren, blieben noch sieben Personen übrig.
»Steht nicht sowieso in Kürze das monatliche Gespräch und die Einschätzung an?« Tamyra wandte sich der Gardistin zu. »Wähle drei aus, die du weiterhin gebrauchen kannst. Sie kommen mit uns.«
Entsetzen ringsum.
»Schnell.« Tamyra wedelte ungeduldig mit der Hand.
Die Gardistin schluckte, handelte aber sofort. Sie deutete nacheinander auf ihre persönliche Bestenauswahl. Diese drei traten mit einem Schritt zu Tamyra, Konstanze und ihrer Chefin.
»Euch anderen viel Glück. Wenn ihr es schafft, findet ihr sicher auch wieder den Weg zum Palast.« Sie hob ihren rechten Zeigefinger. »Und dann solltet ihr lernen, tüchtiger zu sein.«
Einer der Gardisten begann zu zittern, als noch mehr Wasser in den Raum drang. Es war nur dieser Eingangsbereich noch übrig. Hier hatte der Widerstand damit begonnen, die Räume anzubauen. Die Zurückbleibenden konnten sich aussuchen, ob sie die Passage mit diesem Bruchstück machten, was wohl auf Zerquetschen hinauslief. Oder ob sie lieber in der Spree ertranken.
Tamyra aktivierte den Portus.
Flammen leckten über ihre Haut.
Während alle anderen schrien, blieb sie vollkommen still. Schmerz würde sie niemals brechen. Dafür hatte sie im Verlauf ihres Lebens zu viel davon kennengelernt.
Die Purpurflammen umloderten sie, die Umgebung verschwand. Kurz darauf ließ das Brennen bereits nach, als sie Teil des gewöhnlichen Purpurschleiers wurden, der keinerlei Schmerzen bei der Passage auslöste, aber auf feste Punkte fixiert war.
Die Flammen vergingen.
In Sichtweite lag der Ratspalast. Als wäre nichts geschehen, flanierten die verschiedensten Wesen über den Alexanderplatz.
»Konstanze, bereite alles für eine Passage auf die andere Seite vor.«
Ein knappes Nicken genügte.
Sie hatten im anderen Berlin natürlich ein Zimmer in dem Hotel gebucht, das auf dieser Seite der Palast war. Dauerhaft. Auf diese Art konnte Tamyra mit einer Träne problemlos vom Palast dorthin wechseln. Es waren Geld und Kreditkarten deponiert, angemessene Kleidung und der Limousinenservice erwartete jederzeit ihren Anruf.
Sie mochte dort keinem Königshaus entstammen, aber laut ihrem gefälschten Pass und ihrer Geburtsurkunde war sie immerhin eine Gräfin mit von im Namen.
»Ich bin euch schon ganz nah«, flüsterte sie. »Auch wenn ihr mich noch nicht sehen könnt.«