Max
A ls Max mit Lenyo wieder in Grunewald ankam, stand die Sonne tief hinter den Baumwipfeln und die alten Fichten und Buchen malten lange Schatten auf den Rasen und die Fassade des Hauses seiner Großmutter.
»Warum lächelst du so versonnen?«, fragte Lenyo unvermittelt.
Max strich mit der Hand über den rauen Stein der Gartenmauer. »Mir ist nur gerade eingefallen, dass Robin und ich um diese Tageszeit hier besonders gern gespielt haben. Wir haben versucht, möglichst schnell von einer Seite auf die andere zu kommen, ohne dabei auf einen Schatten zu treten.«
»Wie lange kennt ihr euch bereits?«
»Seit der fünften Klasse. Sie lebt nur ein paar Häuser weiter.«
Er steckte den Schlüssel in die Haustür und öffnete. Drinnen war es verdächtig still.
»Hallo?«, rief er in der gleichen Sekunde, in der er bemerkte, dass Lenyo sich neben ihm anspannte.
»Wohnzimmer«, erklang die inzwischen vertraute Stimme von Janus.
Lenyo atmete erleichtert auf.
Der Dschinn hatte es sich auf der Couch bequem gemacht und las einen der alten Romane seiner Großmutter. Robin stand an der Glasvitrine und betrachtete die kleinen Kristallfiguren darin.
»Wo habt ihr die Jägerin gelassen?«, fragte Lenyo.
»Dusche«, antwortete Janus knapp.
»Gute Idee.« Max wischte sich über das Gesicht, an dem noch immer Pollen klebten.
Der Dschinn murmelte etwas Unverständliches, Robin drehte sich zu ihnen um.
»Sie nimmt keine Dusche. Er hat sie dort angekettet«, sagte sie.
Janus klappte das Buch zu und setzte sich auf. »Sie wollte einfach keine Ruhe geben. Und zufällig hatte ich noch ein paar Handschellen dabei.« Er klopfte sich auf die Brusttasche seiner Jacke. »Ich hatte den Eindruck, es hat ihr gefallen.«
Lenyo schnaubte und setzte sich neben ihn. Er zog das kleine Fläschchen aus der Hosentasche, das er von der Dryade erhalten hatte, und stellte es auf den Couchtisch.
Janus beugte sich vor und Robin kam zum Tisch und ging davor in die Hocke. Beide blickten neugierig auf das Gefäß aus braunem Glas. Als der Dschinn die Hand danach ausstreckte, schlug ihm Lenyo auf die Finger.
»Was machen wir jetzt damit?«, fragte Robin.
Lenyo verschränkte die Finger ineinander, drückte sie nach außen und ließ die Gelenke knacken. »Wir suchen im Haus nach einer Stelle, an der der Illusionszauber besonders stark ist. Die beträufeln wir mit der Tinktur.«
»Und wie finden wir diese Stelle?«
Lenyo ließ den Blick durch den Raum und zum Durchgang in den Flur schweifen. »Vermutlich dort, wo es am wenigsten altmodisch aussieht.«
»Das schließt das Wohnzimmer schon mal aus.« Janus stand auf. »Das Bad sieht allerdings ziemlich modern aus.«
»Die Küche«, schlug Max vor. »Großmutter hat sie erst vor ein paar Jahren renovieren lassen.« Er schnappte sich das Fläschchen. »Das nehme ich.«
Lenyo sagte nichts, nickte Max aber mit einem Lächeln zu. Dieser drehte sich um und führte die drei durch den Flur in den hinteren Teil des Hauses in die große Wohnküche, die von einer blau lackierten Kochinsel in der Mitte dominiert wurde.
»Und jetzt?«
»Ich finde zwar, dass die Handschellen ihr hervorragend stehen, aber vielleicht sollten wir Kalinda holen. Vielleicht wittert sie mit ihren Jägerinneninstinkten etwas«, sagte Janus.
Lenyo schüttelte den Kopf. »Versuch’s hier«, sagte er zu Max und deutete auf einen Zinnteller an der Wand, der die Silhouette von Berlin zeigte. Max hatte den Teller schon als Kind geschmacklos gefunden, und eigentlich hatte er nicht zum Stil seiner Großmutter gepasst, aber er war an der Wand geblieben, egal wie oft sie die Küche umdekoriert hatte.
Er ging darauf zu und entkorkte das Fläschchen in seiner Hand. Vorsichtig ließ er ein Tröpfchen daraus auf den Zinnteller fallen.
Nichts geschah – abgesehen davon, dass sich ein übler Geruch nach toter Ratte im Raum ausbreitete.
»Boah! Das ist ja widerlich!«, beschwerte sich Robin.
»Meine Worte«, stimmte Janus zu. »Und das nennt sich Blumenmagie.«
»Probier es noch mal«, wies Lenyo ihn an. »Zwei Tropfen.«
Max befolgte den Rat und der Gestank intensivierte sich. Gleichzeitig begann seine Sicht zu flackern wie das Bild eines alten Fernsehers.
»Bingo!«, jubelte Janus. »Aber es ist ein verdammt starker Illusionszauber. Benutz am besten den ganzen Inhalt des Fläschchens. Aber schau, dass du Abstand hältst. Wegen der Dämpfe.«
»Alles auf einmal?« Unsicher blickte Max zu Lenyo.
»Nein«, antwortete dieser. »Vielleicht brauchen wir später noch was.«
Robin ging zu einem Küchenschrank und holte ein kleines Gefäß mit Schraubverschluss heraus. »Hier.«
Max begriff und kippte ungefähr die Hälfte der Tinktur aus der Phiole in das Glasgefäß und schraubte es zu. Die Phiole gab er Lenyo zurück, das Gläschen betrachtete er nachdenklich.
»Vermassle es nicht«, neckte Robin ihn.
Max schnaubte und verzog sich hinter die Kochinsel. Die anderen folgten ihm.
»Soll ich es lieber versuchen?«, fragte Robin.
Max sah sie entgeistert an. »Du?! Du wirfst miserabel.«
Sie verdrehte die Augen. »Ich bin keine elf mehr.«
Das überzeugte ihn nicht. Er schob die anderen zur Seite, um mehr Platz zu haben, holte aus und … ließ die Hand wieder sinken.
»Ich habe eine bessere Idee.« Er steckte das Gefäß ein und lief aus dem Zimmer.
»Was hat er vor?«, hörte er Janus noch fragen, als er die Treppe in den ersten Stock nahm.
Aus seinem Zimmer holte er einen Ventilator, den er auf dem Küchenfußboden so aufstellte, dass er direkt zur Tür in den Flur zeigte.
»Clever«, gab Janus zu, der wohl als Erster begriff, was er vorhatte.
Max schaltete den Ventilator auf höchste Stufe und ließ dann etwas von der Flüssigkeit in den Luftstrom fallen. Die stinkende Dryaden-Tinktur vaporisierte sofort. Der furchtbare Geruch wurde überwältigend, der Boden wankte unter ihren Füßen wie bei einem leichten Erdbeben und Max’ Sicht wurde so unbeständig, als würde er ein Daumenkino durchblättern. Gegenstände verrückten, Formen verschoben und Farben veränderten sich. Von jetzt auf gleich standen sie nicht mehr in der heimeligen Küche, sondern in einem Raum, der zwar den gleichen Grundriss besaß, sonst aber nicht mehr viel mit dem Zimmer gemein hatte, das Max kannte. Die Möbel, die Decke, die Wände und der Boden: Alles war in Schwarz und Weiß gehalten, und der Herd, an dem sie jetzt standen, sah aus, als stamme er aus einem Museum.
»Ich glaub’s nicht«, murmelte er.
Lenyo legte ihm die Hand auf die Schulter.
Vorn im Haus klapperte es und jemand fluchte.
»Kalinda«, entfuhr es Janus.
Wie auf ein Kommando drehten sie sich alle um und stürmten aus dem Zimmer Richtung Bad. Auf seinem Weg durch das Haus nahm Max flüchtig wahr, dass sich viele der gewohnten Gegenstände verändert hatten. Die Tinktur verteilte sich im Haus und brach die Illusionszauber. Die Treppe, die im Flur nach oben führte, war noch dieselbe. Der Teppich auf den Stufen leuchtete jetzt aber nicht mehr dunkelrot, sondern blau und sah bei Weitem nicht so abgetreten aus wie zuvor. Die Fotografien an den Wänden hatten sich in goldene Deko-Elemente verwandelt, die riesigen Insekten glichen. Als er hinter Lenyo und Janus ins Bad stolperte, sah er, dass die Dusche verschwunden und die Badewanne direkt daneben nicht mehr eingemauert war, sondern frei im Raum stand und goldene Löwenfüße besaß. Auch der Spiegelschrank über dem Waschbecken war verschwunden. Stattdessen hing dort ein sternförmiger Art-déco-Spiegel mit einem Rahmen mit gold-schwarzem Muster.
Die Jägerin stand in der linken hinteren Ecke des Raums, wo einst die Dusche gewesen war. Sie hatte die Arme hoch über den Kopf gehoben, weil sie mit den Handschellen an eine Halterung von cremefarben gestrichenen Heizungsrohren gefesselt war, die Max noch nie gesehen hatte. Sie funkelte sie wütend an. Mit gespreizten Beinen stand sie über einer Toilette, die bis gerade ebenfalls nicht da gewesen war. Ihr linker Schuh und ein Stück ihrer Jeans waren nass, vermutlich weil sie damit direkt in der Kloschüssel gelandet war, als sich die Illusion verflüchtigt hatte.
»Stümper!«, zischte sie sie an, während sie an den Handschellen riss, um sich zu befreien.
»Habe ich dir nicht das Reden verboten?«, fragte Janus ungerührt.
»Du hast ihr gesagt, sie soll sich ruhig verhalten, bis wir wiederkommen«, korrigierte Robin ihn.
Lenyo streckte seine Hand aus. »Gib mir den Ring.«
Der Dschinn zog sich den Goldreif vom Finger und gab ihn zurück. Dann ging er zur Jägerin, um sie loszumachen. Dabei musste er sich auf die Zehenspitzen stellen.
»Gib zu, es hat dir gefallen«, flötete er, als er die Handschellen aufschloss.
»Lös meine Bindung und ich zeige dir mit meinem Messer, wie sehr«, entgegnete sie mit Grabesstimme.
»Reiz sie nicht«, warnte Robin, während Max sich ungläubig im Bad umblickte. Wie hatte seine Großmutter all das vor ihm verborgen halten können?
»Such nach den Tränen«, befahl Lenyo der Jägerin, die Janus von sich stieß, kaum, dass er sie befreit hatte. »Und teile uns mit, wenn du sie entdeckst«, schob er schnell hinterher.
Kalinda knurrte, widersprach jedoch nicht. Missmutig blickte sie sich um, während sie sich die Handgelenke rieb. Sie wollte gerade das Bad verlassen, als sie stehen blieb und laut auflachte.
»Was ist denn bitte so komisch?«, wollte Robin wissen.
»Er steht direkt davor.« Die Jägerin deutete auf Max. Der blickte überrascht hinunter auf den braunen Beistelltisch, der neben dem Waschbecken stand. Bis auf ein Fläschchen mit Raumduftstäbchen war er leer.
Er griff bereits danach, als sein Blick auf die Schublade im Tisch fiel. Er wollte sie aufziehen, doch es ging nicht.
»Was …?«, murmelte er.
Lenyo trat hinzu, doch auch seine Versuche blieben erfolglos.
»Ich sehe gar kein Schloss«, sagte Max und ging in die Hocke, um die Schublade näher in Augenschein zu nehmen.
»Hat deine Großmutter vielleicht einen Permit-Stein besessen?«, fragte Janus.
Das Wort hatte Max schon einmal gehört. Yelna hatte davon gesprochen und es als eine Art Generalschlüssel bezeichnet.
»Wie sieht der aus?«, fragte er.
»Ein bisschen größer als ein Kieselstein«, antwortete Janus. »Purpurfarben. Ziemlich praktisch, denn damit öffnest du jede –«
»Dafür ist jetzt echt keine Zeit.« Lenyo schob Max zur Seite, legte das Beistelltischchen auf den Boden und trat mehrfach fest auf die Schublade, bis sie sich aus ihrer Verankerung löste.
Ein rosafarbener Parfümflakon kam zum Vorschein, an dem ein altmodischer Blasebalg befestigt war, und der Duft des Lavendelparfüms, das seine Großmutter so sehr geliebt hatte, erfüllte den Raum. Daneben lag eine Dose mit einem Deckel im gleichen Pastellton.
Max griff danach. Die Dose fühlte sich glatt und kühl an, aber auch schwer. Sein Herzschlag beschleunigte sich.
Lenyo und Robin traten zu ihm. Seine beste Freundin berührte mit der Fingerspitze das zarte Material. »Sind sie das?« Robin flüsterte fast.
»Finden wir es heraus«, sagte Max entschlossen. Sein bisheriges Leben war eine Lüge gewesen. Vielleicht würde er jetzt erfahren, warum das so war.
Er hob den Deckel.
Robin und Lenyo hielten die Luft an, starrten wie Max in die altmodische Dose. Ihren hellrosa Boden sah man nicht, weil er komplett mit silbernen Tränen bedeckt war.
»Und?!«, fragte Janus ungeduldig.
»Es sind welche drin.« Lenyos Stimme klang entrückt. Max riss den Blick von der Dose los und schaute zu ihm auf. Seine Augen waren geweitet. »Mindestens ein Dutzend Stück«, murmelte er. »Wenn nicht sogar zwanzig oder mehr.«
»No way!« Janus und die Jägerin stürzten ebenfalls zu ihnen und starrten in das Toilettendöschen.
»Silbertränen in der Menschenwelt! Verrat«, knurrte Kalinda.
»Halt die Klappe«, antwortete Janus kurz angebunden und Max sah, dass die Jägerin den Dschinn daraufhin mit ihren Blicken erdolchte.
Gemeinsam gingen sie mit ihrem fantastischen Fund zurück ins Wohnzimmer.
»Und was jetzt?«, fragte Robin. Sie schaltete das Deckenlicht an. Draußen war es inzwischen dunkel geworden.
Lenyo setzte sich neben Max auf die Couch und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Jetzt solltest du vielleicht ausprobieren, ob du durch die Tränen mehr erfährst.«
Die Brust wurde Max eng. Sein Leben lang hatte er sich verloren gefühlt, hatte sich gefragt, was seine Eltern wohl für Menschen gewesen waren. Wie es gewesen wäre, mit ihnen aufzuwachsen. Jetzt hielt er angeblich die Antworten auf einige dieser Fragen in den Händen.
»Sie speichern Erinnerungen, hast du gesagt?«, fragte er leise.
»Wenn deine Großmutter sie hier aufbewahrt hat, müssen sie wichtig sein. Silbertränen sind rar.«
»Wie funktionieren sie?«
Lenyos Griff um seine Schulter wurde fester. »Wenn du sie dir auf die Zunge legst, gibt die Träne die Erinnerung frei. Du tauchst in sie ab, als würdest du sie selbst erleben. Jedenfalls sagt man das.«
»Es stimmt«, schaltete sich der Dschinn ein. »Mach’s dir besser bequem. In eine Erinnerung abzutauchen kann ein ziemlich heftiges Erlebnis sein.«
»Hast du es schon probiert?«, fragte Max neugierig.
Janus zuckte mit den Schultern. »Wer weiß.«
»Widerliches Geschmeiß«, zischte Kalinda noch einmal.
Der Dschinn verdrehte die Augen. »Ich hab dir doch gesagt, du sollst die Klappe halten.«
»Als ob mich das interessieren würde«, ätzte sie zurück.
»Ruhe«, wies Max die anderen an und zu seiner Überraschung breitete sich tatsächlich Stille im Raum aus. Er griff nach einer Träne und hob sie hoch. Sie reflektierte das Licht der Wohnzimmerlampe. »Was geschieht, wenn ich sie in den Mund nehme?«
Lenyo warf einen hilflosen Blick zu Janus.
Der Dschinn ging vor der Couch in die Hocke. »Sie löst sich auf«, erklärte er in überraschend sanftem Ton. »Ein bisschen wie eine Brausetablette. Und dann tauchst du in eine Erinnerung ab.«
Ehe er es sich anders überlegen konnte, schloss Max die Augen, öffnete die Lippen und legte sich die Silberträne auf die Zunge. Sie schmeckte salzig, wie Meerwasser. Oder echte Tränenflüssigkeit.
Dann spürte er, wie sich die Welt um ihn zu drehen begann, schneller und immer schneller. Obwohl er die Augen geschlossen hatte, war er in einem Wirbelsturm aus Farben gefangen, die in atemberaubender Geschwindigkeit an ihm vorbeizogen. Ihr Sog erfasste ihn, wirbelte ihn herum, zog ihn mit sich, nach unten, nach unten, immer tiefer – hinab in eine andere Welt. Hinab in eine andere Zeit.