Die Prinzessin
Z wei Wachen beugten sich vor und öffneten die Flügeltür.
Imgard trat über die Schwelle. Sofort verschwand der Lavendelduft, wurde abgelöst von Feuchtigkeit und Schimmel. Ihre Schuhsohlen berührten nicht mehr den täglich gepflegten Teppich, sie stand auf rauem Stein. In die Tiefe führten Stufen, die Oberflächen uneben und rau. Fackeln brannten an der Wand.
Sie runzelte die Stirn.
»Keine Magie im Zwischenbereich«, erklärte ihr Vater. »Es wird klarer, wenn wir das Ziel erreichen.«
Imgard schluckte, nickte. Als Thronfolgerin, Erstgeborene des Königs, wurde sie nun in alles eingeweiht. Sie hatte das Alter erreicht, in dem die theoretischen Vorbereitungen auf die Regentschaft in praktisches Wissen übergingen. Glücklicherweise hatte Tamyra sich angeboten, sie bei allem zu unterstützen.
»Ein richtiges Drecksloch«, sagte ihre Schwester neben ihr.
»Tamyra«, fuhr sie ihr Vater an.
»Entschuldigung, Eure Majestät«, gab diese kleinlaut zurück.
Innerlich lachte Imgard auf. Ihre Schwester war alles, aber sicher nicht unterwürfig. Sie wusste einfach nur, wann man besser schwieg, sich vorgeblich entschuldigte oder mit harten Bandagen kämpfte.
Sie stiegen die Stufen der Wendeltreppe hinab. Imgard hielt sich an der rechten Seite, wo eine Wand aufragte. Linker Hand ging es in eine bodenlose Tiefe.
Minuten des Schweigens vergingen. Während Tamyra und Imgard bald außer Atem waren, merkte man ihrem Vater nichts an. Seine breiten Schultern spannten sich unter der herrschaftlichen Uniform. Das Königssiegel war auf die linke Brustseite gestickt. Er trug einen schmalen Oberlippenbart, wie er aktuell gerade wieder in Mode war.
Am unteren Ende der Treppe ragte eine weitere Tür auf. Sie war schmiedeeisern, Metallsiegel waren daran angebracht. Imgard spürte die Magie, die davon ausging. In einige Eisenornamente waren Edelsteine eingelassen, die die eingewobene Funktion verstärkten oder lenkten.
Zwei Wachen flankierten die Tür.
»Wir verlassen nun den Zwischenbereich«, erklärte ihr Vater. »Imgard, interpretiere den Zauber.«
Mit dem Beginn ihrer praktischen Einführung in die herrschaftliche Tätigkeit hatten auch die ständigen Prüffragen begonnen.
Imgard trat auf die Tür zu, betrachtete mit gerunzelter Stirn die Struktur und ließ ihre Handfläche darübergleiten.
Der Zigarettenrauch der Wachen lenkte sie ab. In Sichtweite war ein Raum, in dem vier weitere Wachleute standen. Sie hatten wohl gepafft, bis sie grammofoniert worden waren.
Auf dem Tisch in der Wachstube erkannte sie einen Bildschirm mit gewölbter Fläche. Das graue Bild zeigte sie selbst, ihren Vater und Tamyra. Über der Tür waren zwei Schragmüller-Apparate angebracht, die ihre Aufnahmen übertrugen.
Imgard hatte viel über die bekannte Spionin gelesen, die vor der Teilung Beziehungen zur Feenwelt gepflegt hatte. Einige ihrer Ideen für magische Apparaturen waren aufgegriffen und verfeinert worden. Die Andersseiter nannten sie »Kameras«.
»Imgard«, sagte ihr Vater seufzend.
Sie hatte schon wieder den Fokus verloren. Schnell konzentrierte sie sich auf die eigentliche Aufgabe.
»Es ist eine Schutzbarriere«, erklärte sie. »Aber sie ist komplex. Magie wird davon vollständig blockiert, kann weder hinein noch hinaus – mit einer Ausnahme.« Sie runzelte die Stirn. »Da ist eine Sache, die hindurch kann.«
»Ausgezeichnet.« Ihr Vater nickte.
Tamyra verschränkte die Arme. »War’s das oder gehen wir heute noch hinein? Ich habe eine Verabredung.«
»Du wirst deine Party auch mal ausfallen lassen können«, sagte ihr Vater.
»Eine Verabredung zu einer Selbstverteidigungsstunde«, gab sie kokett zurück.
Tamyra liebte es, ihren Vater verbal in eine Falle zu locken.
»Öffnen«, befahl dieser jetzt.
Eine der Wachen nutzte einen Schlüsselstab, mit dem sie in einer festgelegten Reihenfolge die Edelsteine berührte. Es klackte und ratterte, die Flügeltür öffnete sich.
Ein gewaltiger Strom Magie fegte Imgard entgegen. Durch die geöffnete Tür war es klar erkennbar.
Ebenso wie die Gestalten, die in einfacher Kleidung hier unten hausten. Sie sah Kinder und Ältere, Cordhosen und abgetretene Schuhe. Schirmmützen, zottelige Haare. Leere Blicke und solche voller Wut.
»Was ist das hier?«, fragte Imgard entsetzt.
Zwei Wachen hatten mit ihnen den Bereich betreten, doch ihr Vater schien keinerlei Angst zu haben. Ohne ein Wort führte er sie an in Stein gehauenen Höhlen vorbei, die als Behausung dienten. Rohre verliefen an den Decken, es gab eindeutig sanitäre Anlagen, wenn auch auf einem bemitleidenswerten Niveau.
»Es sind Gefangene«, sagte Tamyra.
»Das ist richtig.« Ihr Vater ließ in seinem Schritt nicht nach.
Von einem zentralen Weg, der geglättet worden war, gingen kleinere Gässchen seitlich ab. Es wirkte wie ein verwinkeltes Städtchen, nur ohne den freien Himmel. Und alles fiel schräg ab.
Ein alter Mann schlurfte mit gebeugtem Rücken und gebrochenem Blick an ihr vorbei. Er mochte sechzig sein, ebenso gut neunzig.
Die Hauptwege, das erkannte Imgard jetzt, gingen von einem zentralen Punkt sternförmig ab. Dort ragte ein alter Stein empor, gezackte Felsen mit eingemeißelten Symbolen. Faustgroße Edelsteine waren eingepasst. Wie Stimmgabeln aus Stein, die von oben bis unten mit blauen, roten und grünen Edelsteinen besetzt waren.
»So etwas hätte ich unter dem Ratspalast nicht erwartet«, sagte Imgard.
»Nicht direkt darunter«, korrigierte Tamyra sie. »Wir sind leicht schräg gegangen.« Sie runzelte die Stirn. »Befinden wir uns hier unter dem Purpurschleier?«
Imgard fühlte sich unwohl. Sie konnte die hasserfüllten Blicke kaum ignorieren, ebenso wenig die traurigen.
»Es ist eine uralte Machtstelle«, erklärte ihr Vater. »Die Wesen hier sind Sirenen. Äußerlich mögen sie unauffällig wirken, doch in ihnen steckte gewaltige Macht. Sie spiegelten dereinst Berlin und leiteten damit die Große Teilung ein.«
»Von hier aus –«
In der Ferne erklang ein Schrei. Die Sirenen zogen die Köpfe ein, Wachen brüllten Befehle.
»Es wundert mich nicht. Kommt mit.« Ihr Vater schlug den Weg zurück zur Tür ein.
Dort hatten die Wachen einen jungen Mann überwältigt, der in Imgards Alter war. Aus dem gelockten dunklen Haar lief Blut über die Stirn. Seine Haut war milchig weiß.
»Ein Fluchtläufer?«, fragte der König.
»So ist es, Eure Majestät.«
Ihr Vater schenkte Imgard einen tiefen Blick. »So nennen wir jene, die ihren Dienst für unsere Stadt nicht länger durchführen möchten. Sie fallen der Gemeinschaft in den Rücken, stellen ihr eigenes Glück egoistisch über das von Berlin.«
Der Fluchtläufer spuckte aus. »Ihr seid Sklavenhalter, sonst nichts.«
»Imgard, als Königin musst du zukünftig Entscheidungen treffen, die anderen Schmerzen bereiten.« Ihr Vater verschränkte die Arme. »Wie soll er bestraft werden?«
Panisch blickte sie zwischen den vor Wut funkelnden Augen des Fluchtläufers zu ihrem Vater. »Können wir das Ganze nicht vergessen?«
Neben ihr lachte Tamyra ungläubig auf. »Damit andere es ihm gleichtun?«
»Warum ist es denn so wichtig, dass alle hier unten hausen?«, fragte Imgard.
»Leben«, korrigierte ihr Vater. »Wir versorgen sie mit allem Notwendigen zum Leben. Allein sind sie dazu gar nicht in der Lage.«
»Lüge!«, brüllte der Fluchtläufer.
Der Schlag einer Wache ließ Blut aus seinem Mund spritzen.
»Können wir ihn nicht einfach exekutieren?«, fragte Tamyra. »Als mahnendes Beispiel.«
»Was?« Imgard blinzelte erschrocken.
»Das ist unmöglich«, sagte ihr Vater. »Die Magie der Sirenen ist wichtig. Ich erkläre euch noch die Details, doch ihr Leben darf unter keinen Umständen vergeudet werden. Vielleicht, wenn er mindestens drei Nachkommen gezeugt hat. Davor … nein. Auspeitschen wäre eine Option.«
Imgard schluckte. »Wir ketten ihn drei Tage in seiner Behausung fest. Als Mahnung, dass seine Freiheit noch stärker eingeschränkt werden kann.«
Ihr Vater wirkte verblüfft. »Das ist … eine ausgezeichnete Idee.« Er nickte den Wachen zu, die den Fluchtläufer fortschafften.
Imgard sah ihm nach. Sie hatte verhindert, dass er ausgepeitscht wurde. Doch zu welchem Preis?
»Gehen wir wieder nach oben«, sagte ihr Vater. »Für heute habt ihr genug gesehen.«
Imgard warf noch einen Blick auf die gebrochenen Gestalten ringsum. Ein ganzes Volk war unter dem Purpurschleier eingekerkert. War das nicht paradox? Jene Magie, die ihnen die Überbrückung weiter Entfernungen gestattete, war zugleich ein Joch für jene, die an einem Ort gebunden waren.
Imgard würde die lodernden Purpurflammen nie wieder so sehen wie zuvor.
»Was willst du?«, erklang die brüchige Stimme, in die sich Beiklänge aus Wut mischten.
»Geht es dir gut?«
Ein bitteres Lachen erscholl aus dem Inneren der Höhle. Ein Teppich hing von oben herab und verdeckte den Eingang. »Soll das ein Witz sein?«
»Sie haben dich nicht ausgepeitscht.«
»Das hier ist schlimmer!«, rief der Fluchtläufer.
»Schlimmer?«, echote sie.
»Ich wollte Freiheit«, gab er matt zurück. »Nicht noch mehr Einschränkung.«
Imgard begriff, dass sie ihm den körperlichen Schmerz erspart, ihn aber zu seelischer Pein verdammt hatte. Ein Tag war vergangen, dann hatte sie es nicht länger ausgehalten. Sie war erneut nach unten gestiegen, die Wachen hinterfragten ihre Anwesenheit nicht. Vermutlich gingen sie davon aus, dass ihr Vater weitere Lernprozesse eingeleitet hatte.
Zwei grimmig dreinblickende Männer standen in Sichtweite. Doch vermutlich hätte es niemand hier unten gewagt, sie anzugreifen. Falls doch, wusste Imgard sich zu verteidigen.
»Ich wollte nur, dass du nicht ausgepeitscht wirst«, sagte sie.
»Das hätte ich ertragen.«
»Wie heißt du?«, fragte sie.
»Jo-hann«, sagte er.
Imgard hatte sich informiert und wusste, dass die Sirenen dem magischen Glauben anhingen, demzufolge der Name aus zwei Teilen bestand: einem weltlichen und einem Seelenelement. Deshalb teilten sie ihre Namen auf, verzichteten dafür aber gänzlich auf den Familiennamen.
»Ich bin Imgard«, stellte sie sich vor.
Ein Lachen erklang. »Ich weiß, wer du bist, Prinzessin.«
»Du kannst mich beim Vornamen nennen«, sagte sie.
»Wenn das die Wachen hören, werde ich nach den drei Tagen Gefangenschaft direkt ausgepeitscht, Prinzessin«, sagte Jo-hann.
»Dann sorgen wir dafür, dass sie es nicht mitbekommen«, erklärte sie verschmitzt.
Und weil sie langsam genug davon hatte, schob sie die Decke beiseite. Nur um erschrocken die Luft durch die Zähne zu ziehen. Die Wunde auf Jo-hanns Stirn hatte sich entzündet, offensichtlich kümmerte sich niemand darum.
»Sehe ich so schlimm aus?«, fragte er.
Die ehrliche Antwort wäre gewesen: abgemagert, blutig, mit entzündeter Wunde und blass wie die Nacht. Stattdessen sagte Imgard: »Nicht sooo schlimm. Habt ihr keine Heiler?«
»Unser Körper gehört Berlin«, sagte Jo-hann süffisant. »Wenn wir ihn verletzen, liegt das wohl an einem unzureichenden Gemeinschaftssinn. Dann haben wir Schmerzen verdient. Behandlung erfolgt nur, wenn das Leben in Gefahr ist.«
Imgard verstand diese Grausamkeit einfach nicht. »Warte hier.«
In Windeseile verließ sie den Kerker – und nichts anderes war es Imgards Meinung nach –, besorgte einen Heilkristall und kehrte zurück. Die Wachen spürten wohl ihre brodelnde Wut und sagten keinen Ton.
Als sie Jo-hanns Höhle betrat und der Kristall seine Wirkung entfaltete, entspannte er sich sichtlich. »Danke.«
»Das ist das Mindeste, was ich tun kann«, sagte er.
»Du könntest uns alle in die Freiheit entlassen«, entgegnete er.
»Noch bin ich nicht Königin«, erwiderte sie bedauernd. »Im Palast sitzt mein Vater auf dem Thron.«
Er nickte traurig. »Und wenn du es eines Tages bist, wirst du uns nicht gehen lassen. Alles für Berlin. Wir werden hier unten weiter hausen, auf ewig.«
»Aber warum?«, fragte sie. »Ich meine, mein Vater hat uns erklärt, dass eure Magie die Trennung aufrechterhält. Sonst würden beide Städte kollidieren. Aber das könntet ihr doch auch von oben tun. Wenn ihr einfach jeden Tag hierherkommt.«
Jo-hann lachte bitter auf. »Er hat dir also nicht alles erzählt. Das wundert mich nicht. Weißt du, Prinzessin, unsere Magie wird über die alte Machtstätte in die Trennung geleitet, stabilisiert die Grenze. Aber dabei verlieren wir Lebenskraft. Wir altern bis zu unserem Übergang ins Erwachsenenalter normal. Ab dann beschleunigt es sich. Ich spüre bereits, wie es beginnt. Wenn du dein dreißigstes Lebensjahr erreichst, werde ich sechzig sein. Mit der Pflicht, drei Nachkommen zu zeugen, bevor ich es nicht mehr kann.«
Imgard erschauerte. »Das ist ja schrecklich.«
Sie erinnerte sich an den alten Mann, der gebeugt an ihr vorbeigeschlurft war. Sein Blick war gebrochen und leer gewesen. Er war also nicht sechzig gewesen oder neunzig. Oder zumindest hätte er es nicht sein sollen.
»Und das ist nicht alles«, sagte Jo-hann.
Mit leiser Stimme sprach er weiter.