Schlaglichter
S owohl durch das zerbrochene Wohnzimmerfenster als auch durch die zersplitterte Haustür katapultierten sich schwarz verhüllte Gestalten.
»Die Wicked Bitch of the West scheint ultrapissig auf euch zu sein«, rief Janus Lenyo zu, während er sich in einer fließenden Bewegung auf den Boden fallen ließ und die Fäuste auf den Dielenboden donnerte. Flammen loderten auf. Fauchend rasten sie in verschiedene Richtungen und erhoben sich als prasselnde Feuerwand vor den Angreifern.
»Das wird sie nicht aufhalten«, prophezeite Kalinda gelassen.
»Das weiß ich auch«, schnauzte der Dschinn zurück und sprang wieder auf die Füße – nur um von einem Angreifer umgerissen zu werden, der durch die Feuersbrunst gesprungen war. Der Jäger schlug Janus zu Boden, legte ihm brutal die Hände um den Hals und drückte zu. Die Flammen wurden zischend kleiner.
Lenyo wollte seinem Freund zu Hilfe eilen, doch da tauchten zwei weitere Jäger durch die Feuerwand. Er stürzte sich auf einen und versuchte, ihm die Faust gegen die Schläfe zu donnern. Sein Gegenüber wehrte den Angriff jedoch mühelos ab und versetzte ihm einen Boxhieb in den Bauch.
Ungläubig blickte Max auf die prasselnden Flammen, die an den Wohnzimmermöbeln seiner Großmutter leckten, und auf die Angreifer aus einer anderen Welt.
Lenyo prügelte sich neben ihm mit einem Jäger, ein weiterer drückte Janus die Luft ab, und ein dritter, der durch das Feuer direkt auf ihm zustürmte, wurde von Kalinda zur Seite gerissen.
Max selbst fühlte sich vor Schreck wie gelähmt. In seiner Linken hielt er die Dose mit den Silbertränen. Robin bückte sich und pflückte den Plauener Schlägel vom Boden, den Lenyo achtlos dort abgelegt hatte.
»Der funktioniert nicht mehr«, murmelte Max, dem es so vorkam, als sei er von dem Chaos um sich herum durch eine dicke Glasscheibe getrennt.
Wie um seine Worte Lügen zu strafen, holte Robin aus, als sei der Schlägel ein Hockeyschläger, und donnerte das massive Holzende mit voller Kraft gegen den Kopf des Jägers, der auf Janus saß.
Ein schreckliches Geräusch ertönte, etwas Warmes spritzte Max ins Gesicht – und riss ihn aus seiner Lethargie.
Kalinda kannte die Jägerin, mit der sie gerade über den Boden rollte. Gylse hatte sich schon immer für etwas Besseres gehalten. Tja, hätte Gylse mehr Zeit für das Training aufgewendet statt mit ihrer Aufschneiderei, hätte sie jetzt vielleicht eine reelle Chance gehabt.
Kalindas Schulter stieß gegen etwas Festes, wahrscheinlich den Wohnzimmerschrank, doch sie achtete nicht darauf. Ebenso wenig wie auf Gylses Knie, das diese ihr in den Bauch rammte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die andere an ihre Seite griff und einen Dolch aus der Beinscheide zog.
Mit einer schnellen Armbewegung stieß sie die herabstoßende Hand mit dem Dolch beiseite. Seine Spitze kam nur wenige Zentimeter neben ihr auf dem Boden auf.
Wut kochte in Kalinda hoch. Sie griff nach vorn, packte Gylses Kragen mit beiden Händen und zerrte ihren Oberkörper nach unten, während sie selbst die Zähne zusammenbiss, das Kinn an die Brust zog und den Kopf nach oben stieß. Mit einem befriedigenden Krachen hörte sie Gylses Kiefer brechen.
Der brutale Tritt des Jägers in seine Eier ließ Lenyo Sterne sehen. Sein Magen zog sich zusammen, doch er verdrängte alle Schmerzen. Er riss sich von dem anderen los und machte einen Ausfallschritt zur Seite, um der Faust zu entgehen, die nun in die Wand hinter ihm donnerte.
Sein Angreifer stöhnte noch nicht einmal auf. Er drehte sich einfach um und stürzte sich erneut auf Lenyo. Der nutzte den Schwung des Jägers und ließ sich von ihm ein Stück nach vorn schieben. Dabei krallte er eine Hand in den Kragen seines Gegners, die andere in den Stoff seines Oberteils.
Hitze schlug ihm entgegen, als die Flammenwand zu seiner Linken bis zur Decke loderte. Perfekt! Janus hatte es geschafft.
Ehe sein Gegner begriff, was er vorhatte, stemmte Lenyo die Füße in den Boden, übte Druck auf dessen Schulter aus und zwang ihn so zu einem Ausfallschritt. Noch in der Bewegung riss er ihn wieder nach vorn und gleichzeitig zur Seite und trat ihm die Beine weg. Der Jäger segelte durch die Luft und klatschte wie ein nasser Sack auf. Ehe er richtig aufkam, war Lenyo bereits über ihm, presste ihn zu Boden und klemmte ihm die Arme mit den Knien ein. Die massive Gestalt bäumte sich auf wie ein Bulle beim Rodeo.
Jetzt musste er schnell sein. Lenyo legte einen Handballen gegen das Kinn des Jägers und drückte dessen Kopf auf die Flammenwand zu. Das würde hässlich werden.
Er sah, dass ein weiterer Jäger durch die Flammenwand sprang und – oh shit! Eine kleine Gestalt, nicht größer als ein Meter, schritt durch das Feuer. Sie war von Kopf bis Fuß in schmutzige Lumpen gehüllt und hatte eine Kapuze tief ins Gesicht gezogen.
Wo hatte Tamyra einen Butz aufgetrieben?
Der vermummte Kobold breitete die Arme aus, die Möbel im Zimmer begannen zu klappern und kleinere Gegenstände erhoben sich von ihren Plätzen in die Luft.
Dem Jäger unter ihm gelang es, seine Hand zu verschieben und die Fingerkuppen brutal in die Innenseite von Lenyos Oberschenkel zu graben. Der unterdrückte ein Stöhnen und mobilisierte seine Kräfte. Millimeter um Millimeter schob er den Kopf des Jägers nach hinten, doch die Flammen waren zu weit weg.
Der Butz schritt zwischen den Kämpfenden hindurch auf Max zu.
Das Wesen, das seelenruhig durch die Flammen geschritten war und nun auf ihn zukam, sah harmlos aus.
Yoda, ging es Max durch den Kopf, auch wenn dessen Kleidung nie so heruntergekommen ausgesehen hatte.
Der ist auch gefährlich gewesen, dachte er, während er fasziniert beobachtete, wie Blumentöpfe, Bücher und andere Alltagsgegenstände durch die Luft wirbelten und um sich selbst drehten, bis sie auf eine Handbewegung des Zwergs hin wie Wurfgeschosse in verschiedene Richtungen flogen: Eine Vase traf Robin am Kopf und ließ sie taumeln, ein hölzernes Schachbrett schlug Janus gegen die Hand, mit der er Feuerkugeln wie Tennisbälle auf die angreifenden Jäger warf.
»Hau ab!«, brüllte Lenyo ihm zu.
Max schaute von ihm auf die Dose in seiner Hand und spürte, wie sie sich in seinem Griff zu winden begann wie etwas Lebendiges.
Er hob den Kopf und blickte dem Yoda-Zwerg auf das verhüllte Gesicht.
»Gib sie mir«, hörte er eine Stimme in seinem Kopf.
Die Dose zuckte heftiger. Der Zwerg streckte beide Hände danach aus.
Eine dunkle Gestalt schob sich zwischen sie, Kalinda. Sie pflückte eines der flatternden Bücher aus der Luft und warf es in Richtung der seltsamen Kreatur.
»Bring die Dose in Sicherheit!« Das war wieder Lenyo.
Entschlossen drückte Max die Tränen an sich, wirbelte herum und stürzte aus dem Raum.
Wohin? Nach draußen konnte er nicht, Janus’ Flammen schnitten ihm den Weg ab.
In den Keller? Dumme Idee.
Weil ihm nichts Besseres einfiel, stürzte er die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Er machte im ersten Stock nicht halt, sondern hetzte nach oben, Richtung Dachboden.
Hinter ihm ertönten Schritte.
»Schneller«, erklang Robins Stimme.
Er riss die Tür am Ende der Treppe auf und taumelte in den Dachboden. Staub wirbelte auf. Und nun? Sollte er sich hinter einem der abgedeckten Möbelstücke verstecken? Oder zumindest die Dose mit den Tränen? Nein. Die Angreifer würden vermutlich alles hier auseinandernehmen – inklusive ihn.
Robin warf die Tür ins Schloss und lehnte sich dagegen. Sie starrten sich an. Haarsträhnen klebten ihr im schweißnassen Gesicht. Ihre Augen waren geweitet.
»Was jetzt?«, fragte sie zwischen zwei heftigen Atemzügen. In der Rechten hielt sie den Plauener Schlägel, dessen heller Spitzenbesatz dunkelrot verfärbt war.
Max versuchte zu überlegen. »Aus dem Fenster«, schlug er vor. »Über das Dach bis zur Garage.«
Von dort konnten sie in den Garten springen.
Aber was war mit Lenyo und Janus?
Etwas donnerte von der anderen Seite gegen die Tür.
»Wo ist der verdammte Schlüssel?«, fragte Robin.
»Gibt keinen«, gab Max kleinlaut zu. Nachdem er sich einmal versehentlich eingeschlossen hatte, war seine Großmutter der Meinung gewesen, es sei besser, die Schlüssel der meisten Türen einzusammeln.
»Verdammt!«
Zuerst glaubte Max, Robin spräche von dem fehlenden Schlüssel, doch dann folgte er ihrem Blick und sah, dass durch den Türschlitz eine teerartige Flüssigkeit in den Dachboden drang.
Mit einem Satz brachte sich Robin neben der alten Schneiderpuppe in Sicherheit.
Immer mehr Teer floss von draußen in den Raum. Langsam verdichtete er sich und nahm menschenähnliche Form an. Wie eine Plastikstatue, die schmolz, nur umgekehrt. Und genauso schlimm stank es jetzt in der Dachkammer.
Die Tücher auf den Möbeln um sie herum flatterten wild, als sei Wind unter sie gefahren.
Robin griff nach seiner Hand. »Wir müssen hier weg.«
In diesem Moment stach die Schneiderpuppe auf ihre Schulter ein.
Kalinda war eine Einzelgängerin und nicht sonderlich beliebt bei ihren Kampfgefährten. Jetzt mussten die anderen Jägerinnen und Jäger denken, sie habe den Verstand verloren. Nach Gylse hatte sie einen weiteren Kameraden ausgeschaltet – und das auch noch gegen ihren Willen. Aber wie sollte sie ihren Leuten klarmachen, dass die Magie sie zwang, mit den Verrätern gegen sie zu kämpfen?
Lenyo schien zurechtzukommen. Er hatte eine Jägerin, die sie nur vom Sehen kannte, in den Schwitzkasten genommen und versuchte offenbar, sie bewusstlos werden zu lassen. Janus war mit zwei Gegnern beschäftigt. Der Butz war verschwunden, doch noch immer flogen Gegenstände an ihnen vorbei.
Kalinda selbst blutete aus einer Platzwunde an der Stirn, wo der hässliche Porzellanübertopf einer noch hässlicheren Buntnessel sie getroffen hatte. Sie tauchte unter einem Holzscheit hindurch, das aus dem offenen Kamin in der Ecke stammte, schnappte sich einen vorbeifliegenden Kerzenhalter und schlug damit einem der beiden Jäger auf die Schulter, die den Dschinn gegen die Wohnzimmerwand drückten, seine Arme festhielten und so verhinderten, dass er weitere Feuerbälle warf.
Der Jäger zuckte zusammen und stieß ein wütendes Knurren aus, Janus konnte sich aus seinem Griff befreien. Sie sah, dass seine Hand zu glühen begann wie eine heiße Herdplatte. Mit dieser griff er in die kurzen Locken der Jägerin, die ihn noch festhielt, und riss ihren Kopf zurück. Der Geruch von versengten Haaren wallte auf.
Mehr bekam Kalinda nicht mit, weil der von ihr getroffene Jäger herumfuhr und sich anschickte, sich auf sie zu stürzen. Ehe es dazu kam, packte sie seinen Kopf mit beiden Händen und drückte ihre Lippen auf seine.
Schweiß tropfte Lenyo in die Augen. Die Jägerin in seinen Armen zappelte wild und röchelte verzweifelt, doch ihre Bewegungen wurden langsam schwächer. Er drückte fester zu. Mit ihren Fingernägeln hatte seine Gegnerin ihm die Haut am Arm aufgerissen. Er hoffte, sie waren nicht vergiftet.
Erleichtert sah er, dass Janus im Begriff war, seine Gegnerin ebenfalls niederzuringen, und Kalinda – küsste den Jäger, den sie an die Wand gedrückt hatte!
Das Licht schien plötzlich von ihr abzuprallen. Dunkelheit legte sich um sie wie ein Mantel. Sie drängte sich dichter an ihren Gegner, der eine Sekunde später zusammensackte wie eine Marionette, deren Fäden man durchschnitten hatte.
Nachtmahr, ging es ihm durch den Kopf. Energievampire, die ihren Opfern Kraft aussaugten und sie dann in das Reich der Träume schickten. Oder eher ins Land der Albträume.
Als sie sich zu Lenyo umdrehte, sah er, dass alles Weiße aus ihren Augen verschwunden war. Sie waren jetzt komplett schwarz.
Sie blickte zwischen ihm und Janus hin und her, offenbar unschlüssig, wen sie als Erstes unterstützen sollte.
Lenyo machte eine Kopfbewegung zur Treppe. »Der Butz«, keuchte er, während die Jägerin in seinem Griff sich noch einmal aufbäumte. »Hilf Max und Robin!«
Robin brach mit einem Schmerzensschrei in die Knie. Die Schneiderpuppe besaß keine Arme, nur einen Torso aus hellem Stoff, doch um diesen waren mehrere lange Borten und Bänder geschnürt, mit denen Max’ Großmutter so gern gearbeitet hatte. Sie bewegten sich wie Schlangen durch die Luft. Eines der Bänder, aus mintgrüner Seide, schwang die große Schneiderschere. Gerade holte die Puppe damit wieder aus.
»Hilfe!«, brüllte Robin.
Max griff zu. Er bekam die Schneiden der Schere zu greifen, die, dem Himmel sei Dank, zugeklappt waren. Mit einem Ruck zog er sie zu sich. Die Puppe dachte aber gar nicht daran, loszulassen. Ein rotes Band flatterte auf ihn zu und schlang sich um seinen Hals. Ein blaues Band schnappte sich sein Handgelenk.
Verdammt. Jetzt musste er sich entscheiden. Schere loslassen oder die Dose mit den Tränen.
Die Laken, mit denen die alten Möbel hier auf dem Dachboden abgedeckt waren, erhoben sich derweil wie Geister in die Luft und begannen, sie zu umkreisen, verdeckten die Sicht auf die schwarze unheimliche Gestalt neben der Tür.
Robin, vor Schmerzen stöhnend, trat fest gegen den Holzständer der Schneiderpuppe und brachte sie so zum Wackeln. Max wurde nach vorn gerissen, die Dose glitt ihm aus der Hand, schlug auf dem Boden auf – und kullerte außer Reichweite.
Das Band um seinen Hals zog sich fester zu. Er spürte, wie sich das Blut im Kopf staute und ihm das Atmen schwerer fiel. Mit einem verzweifelten Ruck riss er das grüne Seidenband vom Puppentorso und schnitt mit der Schere die beiden anderen durch. Endlich bekam er wieder Luft.
Eines der flatternden Laken begrub Robin unter sich. Sie versuchte, sich zappelnd zu befreien, verhedderte sich dabei jedoch noch mehr, strauchelte und stolperte schließlich samt Laken hinter eine Holztruhe. Ehe Max ihr helfen konnte, sah er sich wieder mit der Schneiderpuppe konfrontiert, die trotz ihrer kurzen Holzbeine viel zu schnell auf ihn zu wackelte.
Entsetzt beobachtete er, wie sich Steck- und Nähnadeln von selbst aus ihrem Torso zogen – und wie Gewehrkugeln auf ihn zuschossen. Er riss einen Arm in die Höhe und drehte sich um, spürte, wie sich die spitzen Gegenstände in Nacken und Rücken bohrten. Ächzend stürzte er zu Boden.
Eines der Bänder schlängelte sich an ihm vorbei und zog ihm die Schere aus der Hand.
Vorbei, dachte er, doch in diesem Moment hörte er, wie die Tür aufflog und jemand zu brüllen begann.
Das Band mit der Schere wurde weggezogen, etwas ging klappernd zu Boden. Max fuhr herum und sah, wie Kalinda die Schneiderpuppe ergriff und sie mit all der ihr zur Verfügung stehenden Kraft auf den Fußboden donnerte. Die Bänder flatterten hysterisch. Eines der fliegenden Laken wollte sich auf die Jägerin stürzen – doch ehe es sie erreichte, fiel es leblos zu Boden.
Auch die Bänder der Schneiderpuppe bewegten sich nicht mehr. Schere, Stricknadeln und Fingerhüte kamen klappernd auf dem staubigen Holzboden auf.
Max stemmte sich hoch und atmete erleichtert auf.
»Was …?«, hörte er Kalinda fragen. Als er sah, wie ihre Augen sich weiteten, drehte auch er sich in die Richtung, in der sich das seltsame Teerwesen formiert hatte.
Die Gestalt lag zweigeteilt auf dem Boden.
Robin stand breitbeinig darüber. In ihren Händen hielt sie ein langes, seltsam gebogenes Schwert.