Lenyo
W oher hast du das?«, fragte Lenyo entsetzt, als sein Blick auf die Waffe in Robins Hand fiel.
Der Zauber des Butz hatte seine Wirkung verloren, kurz bevor es Janus und ihm gelungen war, ihre letzten Gegner auszuschalten.
Sie waren die Treppe zum Dachboden hinaufgehechtet, auf das Schlimmste vorbereitet, und hatten Kalinda vorgefunden, die ein Stück Stoff auf Robins Schulter presste, Max, der neben ihr kniete und leise auf sie einsprach, und Robin, die auf dem Boden saß und ein Schwert in der Hand hielt, das aus Silber und Ebenholz bestand.
»Es lag da hinter der Kiste.« Robin klang völlig erschöpft.
Lenyo und Janus wechselten Blicke.
»Deine Großmutter hat ein Ebenholzschwert auf dem Dachboden gelagert?«, wandte sich der Dschinn ungläubig an Max. »Weißt du, wie selten die sind?«
»Nein, das weiß ich nicht. Ich weiß überhaupt kaum etwas über das, was hier vor sich geht.« Max klang erschöpft und genervt.
Lenyo klopfte dem Dschinn auf die Schulter und ging zu ihm.
»Der Butz?«, fragte er, als er die Näh- und Stecknadeln in seiner Schulter und dem Oberarm entdeckte.
»Du bist ja von der ganz schnellen Sorte«, sagte Kalinda und bestätigte damit seine Vermutung.
Max blickte ihn erstaunt an. »Ein Butz? Wie in dem Kinderlied? Du weißt schon. Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann in unserm Haus herum. «
»Im Grunde genommen schon«, antwortete Janus. »Nur, dass ein echter Butzemann sich nicht fröhlich schüttelt und rüttelt und alle sich freuen, sondern dass er alles im Haus kräftig ins Rütteln bringt.«
»Und fliegen lässt«, warf Robin ein.
»Und fliegen lässt«, bestätigte Janus. »Die Grimms sind schuld. Sie haben aus diesen echt fiesen Gesellen lustige kleine Kobolde gemacht. Aber die haben ja ohnehin einiges falsch verstanden.«
»Butze sind auch auf unserer Seite unbeliebt.« Lenyo ging hinter Max in die Hocke. »Halt still, du menschliches Nadelkissen. Ich zieh die Dinger raus.«
»Zuerst Robin«, verlangte Max. »Immerhin hat sie uns gerettet.«
»Lass mal sehen.« Janus hob den Stofffetzen an, den Kalinda auf Robins Schulter drückte. Blut quoll hervor. »Autsch. Das sieht nicht gut aus.«
Bei seinen Worten versteifte sich Robin.
»Im Badezimmer unten ist Verbandszeug.« Max versuchte, sich aufzurappeln, doch Lenyo hielt ihn zurück. »Dauert zu lange und geht auch anders. Janus?«
Der Dschinn ging um Robin herum und blickte ihr ernst ins Gesicht. »Ich kann die Blutung stoppen. Wird aber wehtun.«
Robin lächelte bitter. »Jetzt mach schon.«
Während Lenyo Stecknadel um Stecknadel aus Max’ Rücken zog, beobachtete der, wie Janus sich hinter Robin stellte und ihr die Hand auf die Schulter presste. Es zischte, Robin schrie auf. Max zuckte zusammen und der süßliche Gestank nach verbranntem Fleisch verbreitete sich auf dem Dachboden.
»Erinnert ein bisschen an Grillgut«, kommentierte die Jägerin.
Niemand ging darauf ein.
»Wir sollten zu den Undinen«, schlug Lenyo vor, nachdem er die letzte Nadel aus Max’ Haut gezogen hatte.
»Undinen?« Kalinda klang, als habe er den Verstand verloren. »Ihr seid nicht nur wahnsinnig, sondern auch lebensmüde.«
»Wir müssen ohnehin hier weg, bevor Tamyra uns einen zweiten Trupp Jäger auf den Hals hetzt oder die anderen unten aufwachen. Und in das Refugium der Undinen kommt sie nicht, wenn die sie nicht lassen.«
»Wir allerdings auch nicht«, gab Janus zu bedenken.
Lenyo stand auf. »Ich weiß, wie man sie ruft. Und sie könnten sich um Robins verbrannte Schulter kümmern.«
Er reichte Max die Hand, um ihn hochzuziehen. »Dann los, bevor Kalindas Freunde aufwachen.«
Max blickte sich unschlüssig um. »Und was ist mit dem Haus? Wird die Feuerwehr nicht auftauchen? Und die Jäger und das Chaos –«
»Das wird nicht passieren«, erwiderte Janus leichthin. »Die Jäger weben einen Schutzzauber. Vor jedem Angriff. In der Umgebung hat garantiert niemand etwas mitbekommen. Und der Schutzzauber bleibt so lange bestehen, bis hier alles in Ordnung gebracht wurde.«
»Die Menschen sollen nicht mitbekommen, dass es uns gibt«, fügte Lenyo hinzu. »Das hat schon einmal zu viel Blutvergießen geführt.«
Mit Imgards dunkelgrauem VW Golf fuhren sie in die Innenstadt. Max saß hinter dem Steuer. Die rosafarbene Dose mit den Silbertränen hielt Lenyo auf dem Beifahrersitz auf dem Schoß. Auf der Rückbank drängten sich Janus, Kalinda und Robin, wobei Letztere als menschlicher Schutzschild zwischen der Jägerin und dem Dschinn fungierte. Das Ebenholzschwert lag im Kofferraum. Es war zu wertvoll und zu gefährlich, um es zurückzulassen, und vielleicht konnten sie es gebrauchen, um die Undinen zu bestechen.
Den größten Teil der Wegstrecke legten sie über die Stadtautobahn zurück. Zu dieser späten Stunde war sie herrlich leer. Am Westhafen fuhren sie ab und schlängelten sich durch mehrere Straßenzüge bis zur Moabiter Brücke. Dort stiegen sie aus und Max übergab die Schlüssel des Wagens an Janus.
»Kennst du noch mein kleines Atelier in den Hackeschen Höfen?«, fragte der Lenyo. »Dort warte ich auf euch. Zumindest bis zum Morgengrauen.«
Dann fuhr er davon und ließ die vier im unbarmherzigen Licht der Straßenlaterne stehen.
Lenyo räusperte sich und wollte Max und Robin erklären, was als Nächstes geschehen würde, doch Kalinda sagte: »Dir klebt da was am Oberteil«, und deutete auf seinen Hals.
Lenyo senkte den Blick und entdeckte einen verfilzten Klumpen auf dem Kragen seines T-Shirts.
Max trat einen Schritt auf ihn zu. Als er den graubraunen Batzen näher in Augenschein nahm, zuckte er zusammen.
Lenyo griff nach dem Hautfetzen, an dem ein Haarbüschel klebte. Das Blut hatte die hellblonden Haare des Jägers so dunkel verfärbt, dass sie im grellen Laternenlicht fast schwarz wirkten.
»Ach du Sch...«, begann Robin, viel zu laut.
»Still«, unterbrach Lenyo sie schnell. Vermutlich hatte sie sich zusammengereimt, dass sie für dieses kleine Souvenir verantwortlich war, weil sie dem Jäger mit dem Plauener Schlägel den Kopf eingeschlagen hatte.
Ohne länger darüber nachzudenken, warf er den Klumpen über das Geländer, wo er in der Dunkelheit verschwand.
Robin lehnte sich gegen den steinernen Bären, der auf dieser Seite der Grenze die Brücke schmückte. Sie sah blass aus und schien erst jetzt das Blut zu bemerken, das sie alle befleckte.
»Nach unserem Bad im Fluss ist davon nichts mehr zu sehen«, kommentierte Kalinda pragmatisch.
Robin blickte sie an, als hätte sie in einer anderen Sprache gesprochen. »Bitte was?«
Die Jägerin strich sich mit beiden Händen die Haare nach hinten. »Menschen. Wo, glaubst du, leben Undinen?«
Robin zuckte mit den Schultern und gemeinsam mit Max sah sie hinüber zu den Wohnblocks am Ufer. Nur in wenigen Fenstern brannte noch Licht.
»Ihr habt keine Ahnung, was Undinen sind, stimmt’s?« Kalinda bemühte sich noch nicht einmal, die Herablassung aus ihrer Stimme herauszuhalten.
»Es sind Elementargeister. Sie leben unter Wasser«, schaltete Lenyo sich ein.
»Oh.« Max’ Augen weiteten sich. »Ohhh! Okay …«
Lenyo musste ein Grinsen unterdrücken. Der Ausdruck von Verständnis und Schrecken in seinem Gesicht sah süß aus.
»Heißt das, wir sollen in die Spree springen?«
Er schenkte Max ein aufmunterndes Lächeln.
Robin ging zum Brückengeländer und blickte in die Tiefe. Lenyo gesellte sich mit den beiden anderen zu ihr.
Unter ihnen floss das Wasser der Spree träge darin. Der Mond und die Lichter der Stadt spiegelten sich in glitzernden Bahnen auf der Oberfläche des Flusses. Lenyo war sich selbst nicht sicher, ob es eine gute Idee war, sich einfach so in die dunklen Fluten zu stürzen. Anders als auf seiner Seite war die Spree hier verdreckt und mit Schadstoffen belastet. Welche Auswirkungen das auf die Undinen und andere Wassergeister hatte, darüber mochte er gar nicht nachdenken. Janus war sich allerdings sicher gewesen, dass sie sie hier finden würden.
Das wird ein Spaß, dachte er, konnte sich jedoch beherrschen, es nicht laut auszusprechen. Mit Blicken nach allen Seiten überzeugte er sich davon, dass kein nächtlicher Spaziergänger sie überraschte.
»Bereit?«, fragte er dann und stieg auf die steinerne Brüstung. Das Heft des Ebenholzschwertes hielt er fest in der Hand.
»Nein«, antwortete Max sofort, folgte ihm aber, ebenso wie die Jägerin.
Selbst Robin kletterte zu ihnen. »Ihr bringt mich noch ins Grab«, beschwerte sie sich.
»Ich gebe mein Bestes«, erwiderte Kalinda.
Lenyo sah zu, wie Max die Dose mit den Silbertränen in der Tasche seiner Hose verstaute. »Sie ist sicher? Sie kann da nicht rausrutschen?«
Max nickte.
Lenyo blickte in die Tiefe. Er spürte, wie ihm das Blut schneller durch die Adern floss und Adrenalin durch seinen Körper jagte. Und er liebte es. Nichts gab ihm so sehr das Gefühl, lebendig zu sein, wie die Flucht nach vorn, der Weg ins Ungewisse.
»Wir machen das wirklich, oder?«, hörte er Robin noch fragen.
Zur Antwort holte Lenyo tief Luft, schloss die Augen und sprang in die Dunkelheit.