27 . Kapitel

D er Aufprall war ein Schock. Luftblasen wirbelten um ihn herum, während sein eigener Schwung ihn nach unten trug, wo die Spree ihn mit eiskalten Fingern umschloss und unbarmherzig weiter in die Tiefe zog. Seine Kleidung saugte sich mit Wasser voll und Lenyo musste sich beherrschen, die Luft in der Lunge zu behalten. Nicht nur die Kälte machte ihm zu schaffen. Aufgewirbelter Schmutz und Abwasserschlieren, vor allem jedoch die für seine Feennatur spürbare Eisenbelastung des Flusses selbst hier im Stadtkern wirkten wie Gift. In seinem Berlin war das anders.

Während Lenyo tiefer sank, zwang er sich, die Sorgen aus seinem Kopf zu verbannen und stattdessen die Magie, die er in sich trug, nach seinem Willen zu beugen. Seine übernatürlichen Fähigkeiten waren ohnehin schwach ausgeprägt und Wasser war nun mal nicht sein Element. Um den Undinen eine Botschaft zu schicken, würde es allerdings reichen. Hoffentlich.

Falls es Undinen in dieser Drecksbrühe gab.

Hör auf damit, Lenyo. Mach einfach!

Er spreizte die Finger der Rechten und schickte Lichtspeere durch das Wasser. Und tatsächlich, zwei Herzschläge später vernahm er den unverkennbaren Gesang der Undinen, der dumpf durch das Wasser hallte. Erleichterung durchströmte ihn.

Während er langsam die Luft aus der Lunge entließ, damit sein Körper weiter dem Flussgrund entgegensank, zwang er sich, die brennenden Augen offen zu halten. In der Ferne leuchteten goldene Lichtkugeln, die sich schnell auf ihn zubewegten.

Der Grünen Fee sei Dank, dachte er.

»Wir brauchen eine Audienz«, sandte Lenyo eine Gedankenbotschaft mit einem weiteren Lichtspeer zu den Undinen. »Die drei anderen gehören zu mir .«

Er hoffte, Max, Robin und Kalinda befanden sich in seiner Nähe. Waren sie gesprungen? Falls nicht, war es jetzt dafür zu spät. Die erste der goldenen Kugeln war fast heran und erhellte das Wasser um ihn herum, als sei in der Spree die Sonne aufgegangen. Aus der Dunkelheit schälte sich überdeutlich der Flussgrund: Schlick, Schlamm, Algen und Berge halb zersetzten Mülls. Weit war er nicht mehr von ihm entfernt. Seine Füße streiften das verrostete Gestell eines Fahrrads, das zur Hälfte aus dem Schlamm ragte. Dann verschluckte ihn die Kugel aus goldenem Licht.

»Bitte, nehmt Max und Robin und Kalinda mit«, dachte er, doch da hatte ihn die Magie der Undinen bereits erfasst und verwandelte alles um ihn herum in ein Nichts aus blendender Helligkeit.

Im nächsten Augenblick sank Lenyo nicht mehr durchs Wasser. Stattdessen stand er mit beiden Füßen auf dem Steinboden einer gewaltigen Kathedrale. Er selbst und seine Kleidung waren so trocken, als sei er nie in die Spree gesprungen, und um ihn herum war Luft, herrliche Luft! Er konnte wieder atmen. Und sehen.

Er befand sich in einem der Unterwasserpaläste der Undinen. Und Max, Robin und Kalinda standen neben ihm.

»Holy Shit«, flüsterte Max und Lenyo musste sich zurückhalten, nicht zu grinsen. Er dachte daran, wie es ihm ergangen war, als er das erste Mal in das menschliche Berlin gekommen war. Wie ein Trottel hatte er die hohen Gebäude aus Glas und Stahl angegafft, mit ihren riesigen Werbeplakaten, während Menschen um ihn herum strömten, die ihn nicht weiter beachteten, sondern konzentriert auf kleine, rechteckige Kästchen in ihren Händen starrten oder in diese hineinsprachen – Smartphones, wie er inzwischen wusste. Während jenes ersten Ausflugs hatte er geglaubt, die Menschen hätten trotz aller Bemühungen der Feenwesen doch einen Weg gefunden, sich Magie nutzbar zu machen.

Jetzt sahen Max und Robin sich in der domartigen Halle um und staunten. Kalinda blickte eher neugierig als beeindruckt hinauf zur Decke, die sich in schwindelerregender Höhe über ihren Köpfen wölbte. Max ging hinüber zu einem der gotischen Fenster, deren Scheiben nicht aus Glas, sondern gehärteter Luft bestanden. Durch sie blickte man in ein düsteres Unterwasserreich, in dem sich schleimige Pflanzen in der Strömung wiegten und graue Fischschwärme schwammen.

»Das ist definitiv nicht die Spree«, murmelte er.

»Wo sind die Undinen?«, fragte Robin.

»Hier«, antwortete jemand und der Geruch nach Salzwasser und Seetang erfüllte die Luft. »Willkommen in unserem Heim.« Die fremde Stimme besaß jenen seltsamen hallenden Klang, der allen Undinen eigen war.

Nur eine Armlänge hinter ihnen, an einer Stelle, die vor wenigen Augenblicken leer gewesen war, standen fünf Frauen, als seien sie aus dem Boden gewachsen. Sie trugen wallende Roben aus einem schimmernden Stoff und besaßen lange weiße Haare. Ihre Gesichter waren seltsam alterslos und etwas langgezogener als die von Sylphen – oder Menschen. Ihre Augen hingegen lagen ungewöhnlich weit auseinander, was sie unheimlich und schön zugleich wirken ließ. Fast alles an ihnen war hell und blass, ganz so, als habe das Wasser über die Jahre die Farbe aus ihnen herausgewaschen. Nur die Fingernägel leuchteten golden. Wie die Lichtkugeln im Fluss, die sie hierhergebracht hatten.

Ehrerbietig legte Lenyo die Handflächen aneinander, führte sie zur Stirn und verbeugte sich kurz. »Wir danken Euch für diese Audienz.«

Die fünf Undinen neigten ihrerseits die Köpfe. Ihre Bewegungen wirkten seltsam synchron und fließend. Sie erinnerten an treibenden Seetang.

Aus den Augenwinkeln sah Lenyo, dass Max und Robin seine Geste imitierten und sich ebenfalls verbeugten. Kalinda hingegen stand mit durchgedrücktem Rücken und verschränkten Armen in der Halle.

»Was führt euch zu uns?« Die mittlere der fünf Frauen sprach.

Ihre Gesichter ähnelten einander so stark, dass man sie für Schwestern halten konnte. Lenyo wusste nicht, ob sie das waren. Die wenigen Undinen, die er bisher getroffen hatte, waren zwar ebenfalls blass und alterslos gewesen, hatten sich jedoch nicht sonderlich ähnlich gesehen.

»Wir brauchen Eure Hilfe«, gab er zu.

Die Wasserfrauen blickten ihn stumm an. Ihre Gesichter blieben unbewegt. Das machte ihn langsam nervös. Was, wenn sie ihnen nicht helfen konnten? Wenn sie ihnen nicht helfen wollten?

»Wir werden verfolgt. Von einer gemeinsamen Feindin«, räumte er ein.

»Und doch habt ihr eine ihrer Dienerinnen mit in unsere Hallen gebracht.« Die Undinen sahen zu Kalinda, die die Hände ballte.

»Ich bin keine Dienerin«, stellte sie klar.

Alle fünf Undinen hoben ihre rechte Augenbraue, als wollten sie die Worte in Zweifel ziehen.

Lenyo räusperte sich. »Wir haben Euch etwas mitgebracht.« Er nahm das Schwert in beide Hände und präsentierte es wie ein Geschenk.

»In der Tat.« Ihre hallende Art zu sprechen und ihre unbewegten Mienen machten es unmöglich einzuschätzen, was in ihnen vor sich ging. Lenyo hasste das!

Max stellte sich zu ihm. Während der Autofahrt hatte er zugestimmt, den Undinen für ihre Hilfe das Schwert seiner Großmutter anzubieten.

»Wir spüren keine Sehnsucht nach Waffen«, sagte die mittlere Undine schließlich. »Sie bringen nichts als Unglück.«

Lenyo ließ das Schwert nicht sinken. »Ich sehne mich auch nicht nach Blutvergießen«, gab er zurück. »Manchmal wählen jedoch nicht wir den Kampf, sondern der Kampf wählt uns.«

Diesmal streckte nur eine Undine die Hand aus und ließ sie über der scharfen Klinge schweben. »Glaubst du das?«, fragten die fünf mit einer Stimme. »Ein Schwert ist für uns ohne Bedeutung, hier in unserem unterirdischen Reich. Behalte du es, wenn der Kampf dich gerufen hat.«

»Wir müssen auf die andere Seite«, drängte Max.

Die Undinen musterten ihn aufmerksam. Eine Spannung lag in der Luft, von der er nicht sagen konnte, woher sie stammte. Der Geruch von Salzwasser und Seetang intensivierte sich.

»Du bist kein Mensch«, sagten sie dann. Es klang überrascht. »Doch du versteckst deine Kräfte, dein Erbe. Wer bist du? Warum bist du zu uns gekommen und warum lässt du ihn für dich sprechen?« Fünf ausgestreckte Finger zeigten auf Lenyo.

Er leckte sich über die Lippen, um zu antworten, doch die Undinen schüttelten die Köpfe. »Nein«, sagten sie. »Wir wollen die Geschichte von ihm hören.«

Alle Augen richteten sich auf Max.