Max
D er durchdringende Blick aus den wasserblassen Augen der fünf Undinen verunsicherte Max. Zunächst zögerlich, dann immer rascher hatte er ihnen seine Geschichte erzählt, eine Geschichte, die für ihn ebenso viele Fragen aufwarf, wie sie beantwortete. In den unbewegten Mienen der Feenwesen konnte er nicht ablesen, ob sie ihm glaubten.
»Imgard ist deine Großmutter?«, fragte die mittlere der fünf Frauen mit ihrer hallenden Stimme.
Max nickte. »Ich kann es selbst kaum glauben.«
»Beweise es«, forderte sie.
Er lächelte schwach. »Würde ich ja gern. Ich wüsste aber nicht, wie.«
Als seien sie Darstellerinnen in einem avantgardistischen Theaterstück, drehte sich eine der Undinen nach der anderen um. »Beweise es«, sagte die Letzte von ihnen noch einmal. Dann liefen sie los, ohne sich umzublicken.
Max schaute unschlüssig zu den anderen. Die zuckten mit den Schultern. Lenyo nickte schließlich und der Trupp setzte sich in Bewegung.
»Nur der Erbe der Prinzessin«, befahl eine der Undinen, ohne den Kopf zu wenden.
Max wollte protestieren, doch Lenyo lächelte ihm aufmunternd zu. »Schon gut.«
»Das ist nicht dein Ernst!«, widersprach Robin.
»Nur der Erbe der Prinzessin«, wiederholten die Undinen, diesmal lag eine Spur Schärfe in ihren Worten.
Lenyo legte Robin beruhigend die Hand auf die Schulter, Kalinda verschränkte die Arme vor der Brust. Max hätte nicht sagen können, was sie dachte – abgesehen davon, dass sie sich vermutlich vorstellte, wie sie sie alle möglichst qualvoll umbrachte. Er räusperte sich, verabschiedete sich von den dreien mit einer kurzen Geste und folgte den Undinen tiefer hinein in ihren Unterwasserpalast.
Sie liefen einen langen Gang entlang, in dem Max jedes Gefühl für Entfernung und Zeit verlor.
»Wohin gehen wir?«, fragte er.
»Der Nöck erwartet dich«, antworteten die Undinen.
Das Wort kannte Max aus den Geschichten seiner Großmutter. Wassermänner hatte sie so genannt, die auf dem Grund eines Flusses lebten und dort Schätze bewachten.
Nebel zog auf, waberte erst um seine Füße, dann um seine Unterschenkel und stieg immer höher, bis er ihn ganz umhüllte. Die fünf Wasserfrauen vor ihm waren kaum mehr zu erkennen. Er beschleunigte seine Schritte. Zuvor hatten sie von den Wänden widergehallt, jetzt wurden sie von den grauen Schleiern verschluckt.
Das Nächste, was er verlor, war das Gefühl der Marmorplatten unter sich. Er wusste, dass er die Füße auf Untergrund aufsetzte, aber er spürte ihn nicht mehr. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Wenn er die blassen Silhouetten der Undinen jetzt aus den Augen verlor, würde er auf ewig hier durch dieses Nichts irren?
Das Atmen fiel ihm zunehmend schwerer und als er glaubte, es nicht mehr auszuhalten, keinen Schritt weiter gehen zu können, verzog sich der Nebel und er fand sich in einer winzigen Grotte wieder, die aus grauschwarzem Stein bestand. Wasser tropfte von den Wänden, und auf dem unebenen Steinboden, auf dem er stand, bildeten sich Pfützen.
»Wir sind da«, verkündeten die Undinen und deuteten auf ein Wasserloch, vom Umfang her nicht größer als das Planschbecken eines Kleinkindes. Ein Planschbecken, dessen Wände aus porösem Stein war und in dem Schilf wuchs. Die Luft roch salzig, wie Meerwasser.
»Dort lebt der Nöck?« Max warf einen Blick auf die spiegelnde Oberfläche, die zu brodeln begann, als würde sie kochen. Blasen zerplatzten mit lautem Knallen und zwischen den Schilfhalmen schob sich ein glänzender Kopf hervor. Zuerst glaubte Max, es handele sich um einen riesigen Frosch. Die Glupschaugen des Wesens saßen weit oben auf seinem Kopf und seine grasgrüne Haut war von Blasen und Pusteln überzogen. In den Geruch von Salz mischte sich der Duft von Seetang und Algen.
Der Kopf des Wesens – des Nöcks – saß auf einem kurzen Hals, der in einen flachbrüstigen Oberkörper überging. Die Lippen seines breiten Froschmauls verzogen sich zu einem Lächeln, bei dem Max sich nicht entscheiden konnte, ob es freundlich oder bedrohlich wirkte.
»Besuch«, sagte der Nöck mit leicht quäkender Stimme.
»Wir brauchen deine Hilfe, alter Freund«, teilte eine der Undinen mit, die sich elegant neben ihn ans Ufer setzte.
Der Nöck blinzelte mit seinen Glupschaugen und musterte dann Max eingehend. »Mit ihm?«
Die Undine faltete die Hände. »Er behauptet, der Nachkomme einer alten Freundin zu sein.«
»Und ihr wollt wissen, ob er die Wahrheit spricht?«
»Das tue ich!«, protestierte Max.
Der Nöck grinste ihn an. »Reich mir die Hand.«
Max trat an den Tümpelrand und das Wesen streckte ihm seine Finger entgegen. Schwimmhäute spannten sich dazwischen. Misstrauisch beäugte Max sie, griff dann jedoch zu. Das Froschwesen umfasste seine Hand fest und eine Sekunde lang glaubte Max, es wolle ihn zu sich in den Tümpel ziehen, hinunter auf den kalten Grund zu seinen Schätzen. Stattdessen beugte der Nöck sich vor, presste die kalten Lippen auf sein Handgelenk und saugte daran. Max spürte scharfe Zähne seine Haut durchstechen und riss mit einem Protestschrei den Arm zurück.
Ein Oval aus acht kleinen Einstichen zierte seine Haut. Winzige Blutstropfen perlten daraus hervor. »Was soll das?!«, fuhr er das Froschwesen und die Undinen an.
Sie achteten gar nicht auf ihn. Der Nöck hatte die Augen geschlossen und war zurück in den Tümpel geglitten. Nur sein Kopf war noch zu sehen.
»Er spricht die Wahrheit«, sagte er endlich. »Er ist von Imgards Blut. Ich schmecke es stark in ihm.«
Max ballte die Hände zu Fäusten. Er verstand ja, dass die Undinen nicht einzig und allein auf sein Wort vertrauten, aber zumindest hätten sie ihn vorwarnen können.
Der Nöck war noch nicht fertig. »Und er ist einer von uns. In ihm fließt auch das Blut der Sirenen.«
Eine Gänsehaut überzog Max’ Arme und Rücken. Durch seinen Kopf zuckten Bilder aus der Tränenerinnerung seiner Großmutter: der seltsame Kerker unter dem Hotel, die gefangenen Wesen, mit denen die Prinzessin solches Mitleid hatte.
In ihm fließt das Blut der Sirenen.
Bedeutete das …
»Imgard muss schwanger gewesen sein, als sie zu uns kam«, sagte eine der Undinen.
Max starrte sie an. »Meine Großmutter war bei euch? Hier?«
Die Undine blickte ihn ernst an. »Was glaubst du, wie sie aus der Spiegelstadt entkommen ist?«
Seine Knie wurden weich und er setzte sich. Prompt fraß sich Feuchtigkeit durch den Stoff seiner Hose.
»Ihr habt ihr geholfen?« Bisher hatte er angenommen, seine Großmutter habe mithilfe einer goldenen Träne die Grenze überwunden.
Die restlichen Undinen setzten sich um ihn herum. Wie sehr er sich jetzt wünschte, in ihren Gesichtern lesen zu können.
»Es war eine dunkle Sommernacht«, begann eine von ihnen und er fand, es klang wie der Anfang eines Märchens.
»Wolken hatten sich vor den Mond geschoben und Berlin lag ungewöhnlich ruhig und dunkel da. Nicht einmal Sterne glitzerten auf dem Wasser der Spree. Bereits damals lebten nur noch wenige von uns in der Spiegelstadt. Die Königsfamilie hatte die Jagd auf die Nöck eröffnet, doch egal, wem wir davon erzählten, niemand glaubte uns. Niemand wollte uns glauben. In jener Nacht schwammen einige von uns zur Friedrichstraße, um auf eine junge Nöckfamilie zu warten und sie über die Grenze zu bringen. Sie ist niemals aufgetaucht. Wer jedoch auftauchte, war Imgard – und ein junger Sirenenmann namens Jo-hann.«
»Sirenen sind Feenwesen des Wassers wie die Undinen«, nahm eine der anderen Frauen den Faden auf. »Wie die Nöcke und die Nixen sind sie unsere entfernten Geschwister. Es ist sehr selten, dass Wesen des Wassers und Wesen des Landes Verbindungen miteinander eingehen.«
»Imgard und der Sirenenmann hielten sich jedoch an den Händen und es war deutlich zu sehen, dass sie sich um diese alten Bräuche und Vorurteile nicht scherten«, erklärte die dritte Undine.
»War das mein Großvater?«, fragte Max.
Die Mienen der Undinen verdüsterten sich und der Nöck zog sich blubbernd zurück in die Tiefen des Tümpels.
»Er hat die Nacht nicht überlebt«, sagte die vierte Undine. »Die beiden wurden verfolgt. Von einer Frau in dunklen Gewändern und verhülltem Gesicht.«
»Einer Jägerin«, vermutete Max.
Die Undinen bestätigten dies nicht, widersprachen jedoch auch nicht. »Sie trug eine Waffe bei sich. Kein Feuerdolch und auch kein Ebenholzschwert, sondern eine Pistole. Sie forderte die Flüchtlinge auf, stehen zu bleiben. Die Prinzessin und ihr Geliebter folgten dem Befehl.«
»Sie versuchte, mit der Gestalt zu verhandeln«, berichtete die letzte Undine. »Sie beschwor sie, sie gehen zu lassen.«
Max’ Magen zog sich zusammen. »Aber die Jägerin ließ sich nicht bestechen«, murmelte er.
Die Undine nickte. »Imgard sah, dass die andere auf ihren Geliebten zielte und bereit war abzudrücken.«
»Und dann?!«, fragte er, als die Wasserfrau nicht weitersprach.
»Sie hat sich vor den Sirenenmann geworfen und den Schuss abgefangen«, sagte die erste.
»Sie konnte ihn dennoch nicht retten«, fuhr die zweite fort.
»Die dunkle Gestalt schoss noch vier Mal, und der Sirenenmann verblutete an der kalten Uferpromenade.«
»Wir konnten spüren, wie das Leben aus ihm wich.«
Ein Kloß bildete sich in Max’ Hals. So war sein Großvater gestorben? »Und meine Großmutter? Imgard?«
»Die Spree umfing sie wie ein Leichentuch«, berichtete eine Undine. »Aber sie war bereit gewesen, ihr Leben für einen der Unseren zu opfern.«
»Wir nahmen sie mit uns in unseren Palast. Wir heilten ihre Wunden, wenn auch nicht ihr Herz.«
»Wir halfen ihr hinüber auf die andere Seite, in ein neues Leben.«
»Ohne den Sirenenmann. Ohne die Spiegelstadt.«
»Wir wussten nicht, dass sie schwanger war. Sie muss ihr Kind erst kurz zuvor empfangen haben. Wir konnten das neue Leben in ihr nicht spüren.«
»Meine Mutter«, murmelte Max und dachte an die junge Frau, die er nur von Fotos kannte. Hatte ihre Großmutter ihr von ihrem Vater erzählt? Hatte sie je erfahren, dass sie kein Mensch war?
»Wir bringen dich zurück zu deinen Freunden«, sagten die Undinen, jetzt wieder wie aus einem Mund. »Und dann öffnen wir eine Pforte für euch zurück in die Spiegelstadt.«