32 . Kapitel

Lenyo

M it einem flauen Gefühl im Magen betrachtete Lenyo den bewusstlosen Max. Nach dem Schlucken der Träne war er aus der Erinnerung nicht wieder aufgetaucht. Stattdessen hatte er unkontrolliert zu zucken begonnen und gutturale Laute ausgestoßen. Sie hatten ihm die Schuhe ausgezogen und auf das Bett gelegt.

Lenyo hatte davon gehört, dass manche Tränen so etwas auslösen konnten, es aber noch nie gesehen.

»Was jetzt?«, fragte er Janus in der Hoffnung, dass der Dschinn sich diesbezüglich besser auskannte.

Gerade als dieser antworten wollte, riss Max die Augen auf, schnappte nach Luft und drückte sich die Hand auf die Brust. Sein Gesicht verzerrte sich, als habe er Schmerzen. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, und die Augäpfel zuckten wild in den Höhlen hin und her.

»Max!« Robin beugte sich besorgt über ihn.

Lenyo griff nach seinen Schultern und hielt ihn fest. »Alles gut«, versicherte er. »Wir sind hier. Du bist in Sicherheit.«

Max’ Blick klärte sich und sein Körper begann sich zu entspannen.

»Was hast du gesehen?«, fragte Robin und setzte sich neben ihn.

»Langsam«, mahnte Janus. »Lass den armen Kerl doch erst mal zu sich kommen.«

Hinter ihnen begann Kalinda fröhlich zu pfeifen. Lenyo verdrehte die Augen, linste auf den Bindering an seinem Finger, sagte aber nichts.

»Auf mich wurde geschossen. Nein, nicht auf mich«, verbesserte Max sich sofort. »Auf meine Großmutter. Ich war bei ihr … Ich war sie, in der Nacht, in der sie geflohen ist. Ich weiß jetzt, wer auf sie geschossen hat. Es war ihre Schwester.«

»Tamyra?«, fragte Robin.

Das Pfeifen hinter ihnen verstummte.

»Und das wundert euch?«, kommentierte Janus trocken.

Lenyo ließ Max’ Schultern los und half ihm, sich aufzurichten. Er setzte sich ebenfalls auf das Bett, damit Max sich gegen ihn lehnen konnte. Er wirkte erschöpft.

»Die dunkle Gestalt am Spreeufer, von der mir die Undinen erzählt haben, war keine Jägerin«, sagte er dumpf und sah hinüber zu Kalinda, die so tat, als würde sie das alles nichts angehen. »Es war meine Großtante selbst. Sie wollte –«

»Die Kontrolle über das Königshaus«, vollendete Lenyo den Satz.

Max nickte und kalte Wut stieg in Lenyo auf. Albiert, Prinzessin Imgard und so viele mehr. Der Hass fraß sich wie Säure in sein Denken.

»Das ist nicht alles, was ich erfahren habe«, fuhr Max fort und klang noch ernster.

Lenyo drängte seine Gefühle für Tamyra beiseite und konzentrierte sich auf ihn. Von Grauen erfüllt, lauschte er der Offenbarung über den Blutatlas und über die Verbindung der goldenen und silbernen Tränen.

Nachdem er geendet hatte, herrschte schockiertes Schweigen. Selbst die Jägerin hatte die Kuchengabel beiseitegelegt und hielt sich mit abfälligen Kommentaren zurück.

»Wenn das stimmt –«, begann Janus.

»Es stimmt«, unterbrach Max ihn sofort. »Meine Großmutter hat geglaubt, was sie über die Tränen erfahren hat. Sie hat nicht gelogen.«

»Das behaupte ich auch gar nicht«, ruderte der Dschinn zurück. »Es ist nur so …«

»… unglaublich«, nahm Lenyo den Faden auf.

»Wenn die Prinzessin das alles gewusst hat, warum hat sie dann selbst Silbertränen benutzt?«, überlegte Janus laut.

Max erschauderte. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Es passt nicht zu ihr. Nicht zu der Frau, die ich mein Leben lang gekannt habe, und auch nicht zu der Frau, deren Erinnerungen ich erlebt habe. Aber wie es scheint, gibt es vieles, was ich von meiner Großmutter nicht wusste.« Er sah aus, als sei ihm schlecht.

Lenyo konnte das nachvollziehen. Je länger Max gesprochen hatte, desto übler war ihm selbst geworden. Sein Magen fühlte sich an, als sei er zu einer kleinen, steinharten Kugel geschrumpft.

»Emma«, murmelte er und sah seine Verbündete vor sich, die Augen verschwörerisch glitzernd hinter den dicken Brillengläsern und die nadelspitzen Zähne hinter einem Lächeln verborgen. Einem falschen Lächeln. »Sie hat es gewusst. Sie hat es gewusst und hat uns alle trotzdem weiter die goldenen Tränen benutzen lassen. Sie hat mir sogar welche gegeben.«

Janus legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du weißt doch, wie sie ist: Nichts ist so wichtig wie der Widerstand.«

Damit hatte er leider recht. Wie oft hatte er Emma diesen Spruch sagen hören. Aber hatte sie ihn tatsächlich so wortwörtlich genommen?

»Meinst du, der Erlkönig hat davon gewusst?«, fragte Janus.

Lenyo lag ein Nein auf der Zunge, aber die Wahrheit war, dass er den Erlkönig nicht wirklich kannte. Emma hingegen …

»Ich muss mit ihr sprechen.« Lenyo stand auf.

»Warte noch ein, zwei Stunden ab«, riet Janus. »Bis zur Morgendämmerung, wenigstens. Versuch, eine Mütze Schlaf abzubekommen.«

Schlaf?! Als hätte er daran jetzt denken können.

Trotzdem ließ er sich von den anderen überreden. Alle suchten sich einen Platz, auf dem sie ruhen konnten: Robin zog eine Decke und ein Kissen vom Himmelbett und legte sich davor auf den Boden. Kalinda rollte sich auf der Couch zusammen.

»Was denn?«, neckte Janus sie, während er es sich in ihrer Nähe auf mehreren Sitzkissen bequem machte. »Kein blöder Spruch darüber, dass du bereits in schlimmeren Betten geschlafen hast?«

Die Jägerin reagierte nicht. Sie hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte hinauf zur Decke des Kellers.

Lenyo öffnete den Gürtel, schlüpfte aus seiner Hose und kroch neben Max unter die Decke.

Tamyras Gifthauch hing über ihnen wie eine Dunstglocke.

Er drehte sich zur Seite und blickte Max direkt in die Augen.

Sie schauten sich eine Weile an, dann sog Max die Luft tief durch die Nase ein, drehte ihm den Rücken zu – und rückte so nah an ihn heran, dass sich ihre Körper berührten. Lenyo spürte, wie die steinerne Kugel in seinem Magen weicher wurde. Er drehte sich so, dass er Max auf den verstrubbelten Hinterkopf blicken konnte, und schob seinen Arm vorsichtig unter dessen Schulter hindurch. Max kuschelte sich an ihn. Lenyo ließ sich in die Umarmung fallen, drückte sich an Max, schloss die Augen und versuchte, das Chaos, zu dem sein Leben zerfallen war, für eine Weile zu vergessen.

 

Als er die Augen aufschlug, war es stockfinster. Irgendjemand am anderen Ende des Raums schnarchte, entweder Janus oder Kalinda. Sein Arm war eingeschlafen.

Lenyo blinzelte. Etwas war falsch. Es dauerte eine Sekunde, bis er bemerkte, was es war.

Max war weg.