Die Prinzessin
E twas raschelte hinter ihr im Gebüsch. Imgard versteifte sich und fuhr herum. Doch in der Finsternis konnten selbst ihre Feenaugen wenig erkennen. Als ein Igel sich unter dem Liguster hervorschob, atmete sie erleichtert auf.
Natürlich war es ein Tier gewesen.
Niemand wusste, dass sie hier war.
Und wenn Tamyra ihr nachstellen ließ, nun, die Jäger bewegten sich so lautlos, dass sie sie ohnehin nicht bemerken würde, bis es zu spät war. Sie war keine Kämpferin. Nein, sie musste daran glauben, dass ihre Schwester auch weiterhin annahm, dass sie tot war.
Auf leisen Sohlen huschte Imgard weiter. Sie kam nur nachts auf den Friedhof, zu einer Zeit, in der die meisten Bewohner auf dieser Seite der Grenze in ihren Betten lagen und schliefen. Dann schlich sie sich zwischen den Gräberreihen hindurch, ihr Weg nur beleuchtet vom wenigen Licht der Straßenlaternen, das über die hohe Backsteinmauer fiel, und den Flämmchen in den roten Grablichtern.
Der Friedhof war klein und inmitten eines Häuserviertels gebaut. Imgard war selbst überrascht, wie wohl sie sich hier fühlte. Feenwesen begruben ihre Toten nicht, sondern übergaben sie dem Feuer oder dem Wasser – insofern sie nicht zu jenen finsteren Artgenossen gehörten, die ihre Verstorbenen auffraßen. Auch Jo-hann war dem Wasser übergeben worden, lag nicht in dem schmalen Grab, das sie mehrmals die Woche besuchte, dann, wenn ihr gemeinsames Kind friedlich in seiner Wiege schlummerte, eingelullt und beschützt von ihren Zaubern.
Sie wusste selbst nicht, warum sie diese Ruhestätte für ihn hatte anlegen lassen, und das, obwohl seine Leiche auf der anderen Seite der Grenze zurückgeblieben war. Vielleicht war der Grund ja gerade, dass der Friedhof mit seinen hohen Trauerweiden und den vom Grünspan überzogenen Engelsstatuen genau das Gegenteil vom Glanz, dem Lärm und der Dekadenz ihrer alten Heimat war.
Hier brauchte sie niemand.
Hier beobachtete sie niemand.
Hier konnte sie trauern um all das, was sie verloren hatte.
Hier … Wieder raschelte es. Diesmal aber über ihrem Kopf und nicht in der Hecke. Die Weide. Imgard versteifte sich und tastete mit der Hand nach dem Plauener Schlägel, der in ihrem Stiefel steckte. Gänsehaut bildete sich auf ihrem Rücken, während sie die Ohren spitzte und lauschte.
Jetzt war es wieder still, sah man von dem monotonen Rauschen des Verkehrs ab, das von der nahe gelegenen Stadtautobahn zu ihr schallte. Imgard hätte sich gern eingeredet, ihre Nerven spielten verrückt, aber sie war sich sicher, dass sie nicht allein war. Sie spürte das Brennen eines unsichtbaren Augenpaars zwischen ihren Schulterblättern.
Ihre Fingerspitzen berührten den Kopf des Schlägels. Er war nicht größer als eine Murmel, aber die Spitze, die ihn umspannte, war frisch gewebt. Langsam zog sie ihn aus dem Stiefelschaft und drehte sich um.
Es dauerte eine Weile, bis sie den Baumkobold im Schatten der Weide ausmachte. Zuerst hielt sie ihn für eine Dryade, doch dann erkannte sie im Zwielicht, dass er dafür zu klein und seine Haut nicht borkig genug war.
»Was willst du?«, fragte sie ihn kühl und umklammerte den Schlägel. In ihrer Stimme schwang die Autorität ihres Titels mit, den sie vor über einem Jahr hinter sich gelassen hatte.
»Ich habe dich beobachtet«, antwortete er.
»Das habe ich bemerkt. Warum?«
»Nicht erst heute. Seit ein paar Tagen schon.«
Seine Worte ließen sie erschaudern. Sie hatte nichts bemerkt. Eine Schusswaffe wäre jetzt besser gewesen als ein Miniatur-Schlägel.
»Hat dich jemand beauftragt, mir nachzuspionieren?«
Der Kobold schüttelte den Kopf.
Erleichterung durchströmte Imgard. »Was willst du dann?«
»Was bringt ein Feenwesen dazu, heimlich am Grab eines Menschen zu weinen?«
Imgards Kehle schnürte sich zu. »Das geht dich nichts an.«
Der Kobold löste sich aus den Schatten und trat durch den Weidenvorhang auf sie zu. Imgard hob drohend den Schlägel und ihr Gegenüber hob beschwichtigend die Hände.
»Ich will dir nichts tun«, behauptete er. »Nur reden.«
Sie musterte ihn, senkte den Schlägel jedoch nicht.
»Ich komme von der anderen Seite, wie du«, erklärte er und kam noch einen Schritt näher. »Bin von dort geflohen. Du auch?«
»Warum?«, fragte sie.
Der Kobold verdrehte die Augen und seufzte. »Ich könnte dir hundert Gründe nennen. Die Liebe hat mich vertrieben.«
»Die Liebe?« Imgard spürte, wie sich ihr Herzmuskel schmerzhaft verkrampfte.
»Dich auch, was?« Der Kobold warf einen Blick auf das Grab und fuhr sich mit der Hand durch das lange Haar. Im Mondlicht wirkte es farblos, aber Imgard vermutete, dass es grün wie die Blätter der Weide war. Ob er im Baum lebte? »Drüben geht Seltsames vor.«
»Was meinst du?«, fragte sie alarmiert.
Er musterte sie eindringlich. »Fyoriss, meine Gefährtin, sie gehört zum Widerstand. Wir helfen Flüchtlingen, sich hier ein neues Leben aufzubauen.«
Imgard schluckte.
»Aber vor einem halben Jahr ist sie verschwunden. Und niemand kann sich an sie erinnern.«
Die Nackenhaare stellten sich Imgard auf. Sie ahnte, was das bedeutete. »Was ist geschehen? Was hat sie getan?«
»Sie ist auf die andere Seite gewechselt, um eine junge Sylphenfamilie bei der Flucht zu unterstützen. Irgendetwas ist schiefgegangen. Sie kam nicht zurück. Sie ist immer zurückgekommen. Ich glaube nicht, dass sie tot ist.«
Imgard schluckte. Wahrscheinlich war sie das nicht.
»Ich bin selbst auf die andere Seite gewechselt, aber … nicht nur, dass niemand mir sagen kann, was aus Fyoriss geworden ist. Sie behaupten alle, sie würden sie gar nicht kennen! Als hätte sie nie existiert. Als wäre ich der mit dem verwirrten Geist. Irgendetwas geschieht in unserem alten Zuhause. Und es geht vom Palast aus. Seit Prinzessin Imgard ermordet wurde –«
»Es tut mir leid«, entschlüpfte es ihr. »Ich wollte nicht …« Sie verstummte, doch es war zu spät.
»Du kannst ja nichts dafür«, erwiderte der Kobold, doch dann weiteten sich seine Augen, und Imgard begriff, dass sie sich selbst verraten hatte.
»Ihr!« Er streckte den Zeigefinger aus und deutete auf sie. »Ihr seid es! Ihr seid nicht tot!«
»Nein«, behauptete sie und schüttelte den Kopf.
»Sagt mir nicht, dass ich mich irre. Ich habe Euch und Eure Schwester auf Dutzenden Paraden durch die Friedrichstraße gesehen. Ein Porträt von Eurer Familie hing bei meiner Tante im Wohnzimmer. Ihr seid Prinzessin Imgard. Wieso glauben alle, Ihr seid tot?«
»Ich … bin geflohen«, murmelte Imgard mit erstickter Stimme, zu überrumpelt, um weiter zu lügen. Ihre Gedanken rasten.
Der Kobold streckte die Hand nach ihr aus. »Ihr müsst mit mir zum Widerstand kommen.«
»Das geht nicht.«
»Ihr müsst! Geht zurück auf die andere Seite. Hier, wir können die hier benutzen.«
Er griff in die Tasche und holte drei funkelnde goldene Tränen hervor. Imgard starrte sie an.
»Seit Euer Tod bekannt wurde, verfolgen die Jäger mit unbarmherziger Härte jeden, der auch nur den leisesten Hauch Systemkritik verkündet. Und Ihr könnt in den Palast. Ihr könnt herausfinden, was mit meiner Fyoriss geschehen ist. Ihr seid selbst geflüchtet, Euch werden sie verstehen. Wenn Ihr –«
»Nein!«, unterbrach sie ihn scharf und er verstummte sofort.
»Nein«, wiederholte sie leiser. »Das werden sie nicht. Verstehst du nicht? Wenn sie auf mich hören würden, denkst du, dann wäre ich geflohen?«
Der Baumkobold schlang die Arme um sich. Aufgeregt ging er vor dem Grab auf und ab. »Ihr müsst uns helfen«, murmelte er stur. »Ihr müsst! Es ist Eure Pflicht. Eure Familie hat geschworen, uns zu beschützen.«
Er tat ihr leid. Sie sah zum Grabstein. »Ich verstehe deinen Schmerz.«
Als er jetzt zu ihr herumfuhr, loderten seine Augen. »Tut Ihr das? Wirklich? Sie fangen uns ein und löschen uns aus – in Eurem Namen. Und Ihr sitzt hier an einem Menschengrab und tut nichts!«
Die Wahrheit in seinen Worten schmeckte bitter wie Galle. Aber so leicht war das nicht. Wenn es nur um ihr Leben gehen würde, vielleicht. Aber inzwischen hatte sie einen Sohn, der sie brauchte, den sie beschützen musste, um jeden Preis.
»Wenn Ihr nicht geht, werde ich wiederkommen. Dann holen wir Euch mit Gewalt. Und dann –«
Sie spürte die Erschütterung des Aufpralls bis in ihre Schulter. Sobald die Spitze des Plauener Schlägels den Kobold an der Schläfe getroffen hatte, verstummte er und stürzte zu Boden. Die drei goldenen Tränen rollten ins Gras.
Imgard betrachtete den Schlägel in ihrer Hand, dann das Gesicht des Kobolds, entspannt, als würde er schlafen. Sanft hob und senkte sich seine Brust.
Einmal mehr wurde ihr klar, dass in diesem Krieg jede Seite gnadenlos war. Der Schmerz des Verlustes erschuf Hass. Jeder im Widerstand hatte seine ganz persönlichen Gründe und dabei war ihnen das Schicksal der hochwohlgeborenen Prinzessin völlig egal. Doch Imgard wollte kein Teil dieses Hasses werden.
Sie wünschte, Jo-hann wäre bei ihr. Mit seiner Hilfe könnte sie den kleinen Wicht vergessen lassen. Sie starrte ihn an. Er würde nicht aufgeben, ebenso wenig wie sie Jo-hann hatte aufgeben können. Einen Weg gab es noch, seinen Geist so zu verwirren, dass er sie und das, was heute Nacht geschehen war, vergaß. Doch dazu brauchte sie die Hilfe einer Dryade.
Während Imgard durch die Dunkelheit zu ihrer kleinen Mietwohnung in der Varziner Straße eilte, wusste sie, dass sie nie mehr hierher zurückkehren durfte. Klytaimnestra, die Dryade, die im Botanischen Garten lebte, hatte ihr tatsächlich geholfen, ohne zu viele Fragen zu stellen. Sie glaubte nicht, dass sie sie erkannt hatte, dazu war ihre neue Illusion zu anders gewesen.
Trotzdem hatte Imgard in dieser Nacht zu viele unverzeihliche Fehler begangen. Selbst als die Wohnungstür längst hinter ihr ins Schloss gefallen war und sie sich versichert hatte, dass Max noch immer friedlich schlief, dauerte es eine ganze Weile, bis sie zu zittern aufhörte. Immer wieder starrte sie auf ihre Hände. Hände, die beinahe getötet hatten.
Weil sie leichtsinnig gewesen war. Eine einfache Illusion war nicht genug. Wenn der Kobold sie erkannt hatte, würden es auch andere tun. Und wenn ihre Schwester erfuhr, dass sie noch am Leben war …
Nein, sie musste schleunigst von hier verschwinden. Wenigstens in einen der Randbezirke, wenn sie es schon nicht über sich brachte, Berlin gänzlich den Rücken zu kehren. Aber eine andere Wohnung allein würde nicht reichen.
Mit klopfendem Herzen ging sie ins Bad. Aus dem Spiegelschrank holte sie die kleine Phiole, die sie über die Grenze geschmuggelt hatte. Ein Verwandlungstrank aus Nachtschatten, Absinth und den getrockneten Wurzeln des Circe-Krautes – das einzige Mittel, um eine Illusion so zu verstärken, dass man selbst mit Pickford-Tinktur nicht durch sie hindurchschauen konnte. Als wäre man ein echter Gestaltwandler. Eigentlich war der Trank für Jo-hann gedacht gewesen.
Mit zitternden Fingern schraubte sie den Verschluss von der Phiole und setzte sie an die Lippen. Das Gebräu schwappte zähflüssig und bitter in ihren Mund. Sie trank es bis zum letzten Tropfen aus.
Dann starrte sie in den Spiegel und zwang ihr Äußeres, sich zu verändern: Ihre Haut wurde runzelig und bekam Altersflecken, ihr Haar wurde kürzer und färbte sich grau. Sie schien ein bisschen zu schrumpfen, die Wangenknochen wurden breiter, die Nase auch.
Augenblicke später sah ihr eine Fremde aus dem Spiegel entgegen, eine um Jahre gealterte Frau. Zufrieden nickte sie sich zu und ging ins Schlafzimmer, um eine Reisetasche zu packen. Nur das Nötigste. Wenn sie hier fertig war, würde ein magisches Feuer diese Wohnung mit allen Spuren darin und jeglichen Hinweisen auf ihre Existenz vernichten.
Im Morgengrauen stieg Imgard mit ihrer Reisetasche und Max auf dem Arm in ein Taxi.
»Wohin soll’s gehen?«, fragte der Fahrer freundlich.
»Grunewald«, antwortete sie.
Max lachte glucksend.
Der Taxifahrer warf einen Blick in den Rückspiegel und zwinkerte ihm zu. »Na, kleiner Mann, machst du einen Ausflug mit der Oma ins Grüne?«
Kurz zuckte Imgard zusammen, obwohl sie ja gewusst hatte, dass sie das jetzt für Max sein musste: seine Großmutter.
»Nein«, antwortete sie, nachdem sie sich gefasst hatte. »Wir wohnen dort.«
Der Taxifahrer nickte und fuhr los. Imgard atmete erleichtert auf. Hinter ihr ging das zweite Leben, das sie sich geschaffen hatte, in Flammen auf.