Lenyo
D as Beben hätte ihn beinahe von den Füßen geworfen. Lenyo stützte sich an der schrundigen Felswand ab. »Was war das?«
Janus blieb stehen und lauschte auf etwas, das nur er hören konnte. »Das Gewebe der Realität schreit auf. Gleich wird es reißen.«
»Ein Portal auf die andere Seite?«
»Das hier ist anders, irgendwie falsch.« Janus runzelte die Stirn. »Wir müssen weiter, schnell.« Der Dschinn rannte durch den Gang.
Berlin schien ins Chaos zu stürzen. Beim Verfolgen der Spur hatte Lenyo die Anspannung in der Stadt gespürt. Kurz darauf waren Flammen über der Museumsinsel aufgetaucht. Dichte Rauchwolken durchzogen die Straßen. Es gab Ansammlungen von Feenwesen. Jäger waren ausgerückt, Männer und Frauen in der dunklen Kleidung von Tamyras Geheimpolizei mischten sich in die Menge. Sie notierten Namen, beobachteten.
Tamyra!
Der Gedanke an sie brachte das Bild von Yelna zurück. Kurz schloss er die Augen. Keine gute Idee in einer fremden Umgebung. Er stolperte, hielt sich aber aufrecht.
Janus stand bereits vor einer Steinwand, die das Ende des Ganges darstellte. Auf den ersten Blick handelte es sich um einfaches schwarzes Gestein. Es gab allerdings eine Aussparung.
Ohne ein weiteres Wort legte der Dschinn einen Permit-Stein in die Aussparung. Die Wand wurde zu Nebel und er trat hindurch.
Lenyo folgte ihm.
Im ersten Augenblick war er sicher, seine letzten Sekunden zu erleben. Goldene Magie explodierte in der Luft. Risse durchzogen den Boden und …
… die Welt.
Schwäre, eingerahmt von Gold. Schmerz und Verlorenheit. Bittere Verwesung. Er roch, fühlte und spürte. Es war nicht echt, eher eine Art Nachhall, der jeden Sinn betraf.
»Was ist das?«, hauchte Lenyo entsetzt.
Janus hatte sich hinter eine steinerne Sitzreihe geduckt, Lenyo tat es ihm gleich. Mit einem Blick nahm er die seltsame Uhr, Max, Robin, Kalinda und Tamyra wahr. Letztere stand an der gegenüberliegenden Steinwand. Sie trug einen weißen Hosenanzug im modernen Schnitt der anderen Seite. In ihrer Hand lag eine Pistole.
»Max«, hauchte Lenyo.
Der Gedanke, auch ihn heute zu verlieren, ließ jeden Muskel in seinem Körper erstarren.
»Aus dem Weg!« Tamyras Stimme knallte wie ein Peitschenhieb durch das Atrium.
Max bewegte sich keinen Zentimeter.
»Sie kann ihn nicht erschießen«, keuchte Janus atemlos. »Der Riss schließt sich erst wieder, wenn Max ihm die Magie entzieht.«
Allein der Gedanke, in diese schwelende Dunkelheit, diesen Pesthauch einzudringen, brachte die Übelkeit in Lenyos Magen zurück.
Mit einem Ticken bewegte sich der Zeiger der Großen Uhr auf dem Podium. Tamyras Miene entgleiste. Das war pure Angst. Sie drückte ab.
»Nein!« Lenyo sprang die Sitzreihen nach unten.
Noch im Lauf bemerkte er, dass Tamyras Schuss Funken schlagend vom Boden abgeprallt war.
»Lenyo!« Max’ Miene erhellte sich, obwohl er ziemlich mitgenommen aussah. »Janus.« Verwirrung kam hinzu.
»Totgesagte leben länger«, gab der trocken von sich. »Auch wenn deine Stiefelleckerin das gerne anders gesehen hatte, liebste Oberbitch.«
Tamyra blinzelte. »Ich habe keine Zeit für eure Kindereien. Weg von der Uhr!« Dieses Mal zielte ihr Lauf nicht auf den Boden.
»Hörst du nicht, was deine Herrin sagt, kleines Schoßhündchen?«, rief Janus höhnisch.
Der Riss waberte in der Luft, wurde kleiner und wieder größer. Das Blut am Boden schien von innen heraus zu glühen.
»Da muss ich dich enttäuschen, Dschinn.« Tamyra spuckte die Worte aus. »Kalinda mag mit einem Bluteid an mich gebunden sein, doch ich kann spüren, dass ihr sie versklavt habt. Eine Bindung, wie originell.«
Lenyo näherte sich unauffällig Tamyra. Deren Blick war vollkommen auf das Trio vor der Uhr gerichtet. Wenn er nahe genug herankam, würde er ihr das Genick brechen.
»Sie hat mich auf deinen Befehl hin erstochen«, rief Janus. »Prahlst du nicht normalerweise mit deinen Opfern?«
»Ihr Narren.« Mit einer fließenden Bewegung schob Tamyra die Hand in die Hosentaschen und zog eine Silberträne hervor. Abfällig warf sie sie hinab auf das Podium. »Ein Mitbringsel aus eurem Haus, Neffe. Es ist die letzte Erinnerung meiner Schwester. Ihr Tod. Ich habe das Echo der Träne ausgelesen. Du kannst ihren Mörder darauf erkennen. Es würde aber auch genügen, wenn du einen Blick zur Seite wirfst.«
Max wirkte verwirrt und Lenyo ging es ebenso. Er stoppte kurz, als Tamyra zu ihm blickte, wartete geduldig, bis sie wieder wegsah.
»Kalinda?« Max starrte die Jägerin entsetzt an.
Robin schob ihrerseits die Hand in die Hosentasche. Als sie sie hervorzog, lag ein Glöckchen darin. Sie klingelte damit.
»Was tust du?«, herrschte Tamyra sie an.
»Ich verbrenne das, was von eurem Reich der Angst übrig ist«, sagte Robin. »Bis nur noch Knochen von euch bleiben.«
Lenyo erstarrte. Entsetzt blickte er auf die Andersseiterin hinab, deren Antlitz sich verformte. Max sprang mit einem Schrei zurück. Sekunden später stand ein Mann im Anzug neben Kalinda. Fast glaubte Lenyo, den Zigarrenrauch zu riechen. Der Erlkönig!
»Ich hätte mir denken müssen, dass du eines Tages hierher zurückkehrst«, spie ihm Tamyra entgegen.
»Robin«, hauchte Max. »Was hast du mit ihr gemacht?!«
Der Erlkönig verdrehte die Augen. Sein Antlitz verformte sich erneut und schon war er wieder die Andersseiterin mit dem schulterlangen roten Haar. »Es gibt keine Robin. Sorry wegen deiner Großmutter, Maximus, aber sie hatte ihre Seite gewählt.«
»Du …« Max’ Stimme erstarb.
»Ich habe sie umgebracht.« Robin nickte schwer. »In diesem Krieg müssen Opfer gebracht werden.«
Max verlor die Kontrolle und rannte auf seine Freundin zu.
»Kalinda«, sagte Robin nur.
Die Jägerin reagierte.
Und Lenyo begriff.