42 . Kapitel

Max

D er Bindungszauber!«, brüllte Lenyo in Richtung Janus.

Max knallte in vollem Lauf gegen Kalinda. Er holte aus und rammte ihr die Faust in den Magen. Die Kriegerin lächelte nur milde.

»Schick ihn zu Boden, aber lass ihn am Leben«, befahl Robin.

Der folgende Schlag presste Max die Luft aus den Lungen. Er fiel rücklings auf den kalten Stein. Direkt vor seinem Gesicht lag die Silberträne. Zitternd griff er nach dem Artefakt, betrachtete das sich brechende Licht in den Facetten.

»Du hast sie einfach getötet.« Er schloss die Faust darum.

»Nichts hier ist einfach«, sagte Robin, den Blick auf den Riss gerichtet. »Du und ich unternehmen jetzt eine Reise.«

Max schob die Silberträne in die Hosentasche. Der Riss hatte sich erneut verformt, als würde er pulsieren.

Wieder sah Max die schrecklichen Bilder vor sich. Lenyo, der ihn im Arm hielt. Lenyo, der vor seinen Augen verfaulte und von Schwärze verschlungen wurde.

»Was habe ich getan?« Er spürte ein Lauern hinter dem Riss. Gierige Blicke aus unendlich vielen Augen.

Zugleich konnte er es nicht fassen: Seine beste Freundin, die ihn nach dem Tod seiner Großmutter aufgerichtet hatte, war dafür verantwortlich. Sie hatte ihn manipuliert.

»Jetzt glotz nicht wie ein Hundewelpe«, fuhr sie ihn an. »Es geht nicht immer nur um dich.«

Ein Schrei erklang, gefolgt von einem Keuchen. Lenyo und Tamyra fielen eng umschlungen zu Boden, die Waffe knallte auf eine Stufe darunter. Ein Schuss löste sich und traf den Zeiger der Uhr, surrte als Querschläger durch den Raum.

»Wir sollten wohl langsam verschwinden«, sagte Robin.

Mit steinerner Miene kam Janus herbei.

»Du nicht auch noch.«

»Und ich mochte tatsächlich dein rotes Haar«, sagte der Dschinn. »Hätte mir auffallen sollen, dass du dich als Erste zum Ring gebückt hast. Du hast die Eichung auf dich gezogen.«

»Bravo. Du hast einen Preis verdient. Kalinda, schlitz ihn noch einmal auf.«

Die Jägerin rührte sich nicht.

»Ups«, sagte Janus. »Ach richtig, wer den Bindungszauber webt, kann ihn auch wieder lösen.«

Robin riss die Augen auf. »Was du auch tust, ihr seid mir nicht gewachsen.«

Kalinda sprang mit einem Schrei auf sie zu. Zweifellos um sie zu töten.

Janus rannte zu Max, während Robin und Kalinda sich attackierten.

»Es war die ganze Zeit Robin«, hauchte Max.

»Tut mir leid, Andersseiter. Sieht wohl so aus. Sie hat Kalinda gelenkt, um mich zu erstechen und euch zu entführen.«

»Dann ist Tamyra unschuldig.«

»Eindeutig das falsche Wort für die Oberbitch«, sagte Janus. »Sie hat Yelna geköpft.« Er blickte in die Höhe zu den anderen Kämpfenden. »Aber das wird sie gleich bereuen.« Er wandte sich Max zu. »Wir müssen den Riss schließen. Ich weiß nicht, wohin er führt, aber dieses schreckliche Echo lässt mich nicht an eine Wiese voll rosaroter Einhörner denken. Und wenn er geöffnet bleibt …«

Jede Faser in Max’ Körper schrie ihm zu, dem Riss nicht näher zu kommen. »Ich weiß. Ich habe gesehen, wie alles endet. Aber wie schließen wir ihn?«

»Du musst die Magie zurückziehen, die du ausgeschickt hast.«

»Ich kann nicht!« Max hasste den verzweifelten Klang in seiner Stimme. Wie gern hätte er es einfach getan.

»Die einzige andere Möglichkeit besteht darin, dass jemand den Riss durchquert. Das willst du nicht.«

Ein tiefer, gutturaler Schrei erklang. Lenyo kniete auf Tamyra und drückte ihr die Kehle zu. Dieser gelang es, ihre Beine in die Höhe zu ziehen, von hinten um Lenyos Oberkörper zu schlingen und ihn von sich zu katapultieren.

Gleichzeitig drängte Kalinda die falsche Robin immer weiter zurück.

Der Boden erzitterte erneut und die Risse verästelten sich zu Spinnweben im schwarzen Stein.

Max wandte sich dem Spalt in der Realität zu.

 

»Du hast mich benutzt«, fauchte Kalinda. »Wie eine Sklavin.«

»Als ob es dich gestört hätte, andere zu vermöbeln und zu erledigen!«, sagte die Kreatur.

Kalinda hatte noch nie zuvor in ihrem Leben einen solchen Hass gegenüber einem anderen Wesen verspürt. Ihre Ehre war verletzt, ihre Seele in Ketten gelegt. Tamyra gehörte ihr Schwert, ihr diente sie. Doch sie, Kalinda, war zu einer Verräterin geworden.

Ungewollt.

Aber das spielte keine Rolle.

»Ich töte dich.« Kalinda griff an.

Das Wechselwesen veränderte im letzten Augenblick seine Gestalt und wurde zu einem spindeldürren Mann, der unter Kalindas Arm hindurchtauchte. »Du hast keine Ahnung, wer ich bin.«

»Muss ich nicht wissen, um dich zu töten«, sagte sie kalt.

»Du bist immer so eloquent«, gab das Wesen – jetzt wieder Robin – zurück. »Aber ich habe schon andere überlebt, die weitaus nachdrücklicher versucht haben, mich zu töten.«

»Ich bringe zu Ende, was sie begonnen haben.« Kalinda stieß zu.

Robin tauchte böse grinsend beiseite. »Du machst den gleichen Fehler wie alle anderen.«

»Und der wäre?«

»Fokussiert auf mich, achtest du nicht auf die Umgebung.« In einer flinken Bewegung sprang das Wechselwesen beiseite, bückte sich und kam mit Tamyras Pistole wieder in die Höhe.

Kalinda starrte auf die Waffe. Ihr blieb gerade noch ausreichend Zeit, zu begreifen, dass das Wechselwesen sie durch ständiges Zurückweichen gelenkt hatte.

Dann hallte der Schuss.

Ein stechender Schmerz durchzuckte Kalinda. Die Wucht fegte sie von den Beinen, sie sah Blut, und ihr Körper wurde schwer.

 

Lenyo wollte nur eins: Tamyra tot sehen. In diesem Augenblick war ihm selbst das Schicksal Berlins, ja der ganzen Welt egal.

Doch Tamyra umschlang seinen Oberkörper mit den Beinen und warf ihn zurück. »Aber Lenyo, so feurig habe ich dich gar nicht in Erinnerung.« Sie glitt wieder auf die Beine. »Beim letzten Mal warst du natürlich gefesselt, blutüberströmt und hast gejammert. Sag mir, ist Max der neue Albiert?«

Die Worte sollten ihn verletzen, doch nach all dem Schmerz war kaum noch etwas in seinem Inneren übrig, was verletzt werden konnte. All seine Gefühle hatten sich zurückgezogen, bis auf eines: Rachedurst.

Ohne ein weiteres Wort rammte er Tamyra die Schulter in die Seite. Sie stürzte auf die Ebene unter ihnen, rollte sich ab und kam wieder auf die Beine. Ihr Blick huschte zur Uhr.

»Ich würde das hier ja wirklich gerne mit Exekutionen beenden«, sagte sie. »Aber mein Neffe hat uns gerade zum Tode verurteilt.«

»Die Stadt ist mir egal.«

»Ich spreche nicht nur von unserem Berlin, ich spreche von allen. «

Lenyo sprang ihr hinterher auf die nächste Stufe. »Was habt ihr hier unten getan?«

»Du weißt es doch längst.« Tamyra wich zurück. »Wir haben die Stadt beschützt. Aufständische, subversive Elemente, wir haben sie entfernt.«

Lenyo begriff. »Ihr habt sie in die Schwärze geworfen!«

»Die Schwärze, wie du sie nennst, ist lediglich eine Passage. Sie führt in das dritte Berlin, die Gefängniswelt. Ziemlich kaputte Angelegenheit, aber auf diese Art wurden wir alle los. Ein Zauber sorgte dafür, dass sie aus dem Netz des Schicksals entfernt werden. Sie stehen außerhalb, werden vergessen. Niemand erinnert sich mehr an sie. Und wenn die Erinnerung an sie erlischt, können sie nie wieder aus der Gefängniswelt zurückkehren.« Tamyra lächelte böse. »Was denkst du, wie viele Feenwesen hast du zu ewiger Verdammnis verurteilt, weil du eine goldene Träne benutzt und damit eine silberne zerstört hast?«

Lenyo kochte vor Wut, Rache und Scham. Ein schneller Fausthieb beförderte Tamyra eine weitere Stufe abwärts.

Bebend vor Zorn richtete sie sich auf, wischte sich Blut aus dem Mundwinkel. »Wenn ich gewusst hätte, was für einen Ärger du machst, hätte ich nicht deinen Bruder in die Gefängniswelt geschickt, sondern dich!«

Es dauerte einen Augenblick, bis die Worte ihren Inhalt in Lenyos Geist entfalteten. Wie tausend Giftkapseln sickerten sie ein. »Ich … habe keinen Bruder.«

Tamyra schnippte abfällig. »Ich würde behaupten, dass du dich lediglich nicht mehr an ihn erinnerst.«

»Du lügst!«

»Es gibt ein Archiv voller Silbertränen«, sagte sie, die Lippen zum Lächeln eines Dämons verzogen. »In einem Fach schimmert seine Träne. Sobald ich hier raus bin, werde ich sie benutzen.«

Es war unmöglich. Sie musste lügen. Yelna war seine Schwester, das war’s. Mehr Geschwister hatte er nicht. Oder? Irrte er sich? War ein Bruder, von dem er nichts mehr wusste, in die Gefängniswelt geschickt worden?

Der Boden erzitterte erneut.

Irgendwo hallte ein Schuss.

Und Tamyra nutzte ihre Chance.

 

»Ich kann es nicht schließen«, sagte Max, die Hände vor Anstrengung zu Fäusten geballt.

Er hatte sich noch nie zuvor so erbärmlich gefühlt. Benutzt vom Mörder seiner Mutter, die er für seine Großmutter gehalten hatte. Magie, die er nicht kontrollieren konnte. Und eine beste Freundin, die gar keine war. Er war verantwortlich für unsägliches Leid, falls er den Riss nicht wieder schließen konnte.

Janus kam näher und ergriff seinen Arm. »Du kannst nichts für all das hier. Glaub mir, ich habe schon unzählige Geschichten wie deine erlebt. Magie, Flüche, Blutsbande, zerstörte Seelen, die von anderen benutzt wurden.« Er ließ seine Hand sanft über Max’ Wange gleiten.

»Es tut mir leid«, flüsterte Max.

»Das muss es nicht.« Janus lächelte und wandte sich dem Portal zu. »Mir tut es leid. Aber jemand muss in den Riss.«

Immer näher ging der Dschinn auf die bedrohliche Schwärze zu.

»Was tust du?!«, rief Max.

»Berlin wird untergehen. Und nicht nur eines. Am Ende bleibt eine Wunde zurück, die sich über die Welt ausbreitet.« Janus betrachtete ihn mit einem Blick, in dem Schmerz und Selbsthass sich vermengten. »Deshalb hasse ich das Spiel der Mächtigen. Am Ende müssen grausame Entscheidungen getroffen werden. Es gibt nur wenige, die wissen, was vor allem kam. Vor dem, was heute ist. Spürst du die lauernden Blicke? Die Gier?« Er zögerte, schluckte.

Ja, Max spürte das uralte Verderben im Riss. Er hatte ihn geöffnet, hatte sich hereinlegen lassen, war den Weg zur Schlachtbank friedlich dahinspaziert, wie er es immer tat. Er ließ sich führen und andere entscheiden.

Heute nicht!

Max sprang vor, griff den Dschinn an der Schulter und zog ihn zurück.

Irritiert blickte Janus ihn an.

»Sag Lenyo …«, stotterte Max. »Sag ihm …«

»Was meinst du?«

Ein Schuss hallte.

Jemand schrie.

»Leb wohl, Janus«, flüsterte Max und schenkte ihm ein Lächeln.

Und in diesem einen Augenblick spürte er, wie etwas in ihm heilte, sein Weg sich neu ausrichtete. Diese Entscheidung traf er und er allein.

Max sprang.

»Neeeiiin!«, brüllte die falsche Robin.

Sie kam auf ihn zugerannt. Der Riss schloss sich. Max konnte nicht mehr sehen, ob ihr der Sprung gelang. Und war es nicht egal?

Er lächelte.

Du wärst stolz auf mich, Mutter.

Und er ließ gänzlich los.