Eine Festung wie eine Krone
Vaters Worte gehen mir noch im Kopf herum, als wir im Hof der Seefeste von unseren Pferden steigen. Ich will, dass meine Kinder glücklich sind
.
Es berührt mich, dass Vater so denkt, aber gleichzeitig frage ich mich, was er überhaupt unter Glück versteht. Mein Leben lang hat er mir eingebläut, dass es nichts Wichtigeres als Pflicht gibt. Die Pflicht, Alyss zu heiraten. Kinder zu bekommen. Die O’Briens wieder zu Königen zu machen. Und ich war mir sicher, darin würde ich Erfüllung finden. Bisher.
»Dein Stiefel«, sagt Vater, als er unserem Leibwächter die Zügel seines Pferdes in die Hand drückt.
Ich folge seinem Blick. Tatsächlich: Beim Polieren meiner Reitstiefel habe ich einen Fleck übersehen. Schnell beuge ich mich nach unten und reibe mit dem Saum meines Hemdes darüber, bis er verschwindet.
Vater nickt mir ernst zu. Dann fordert er mich auf, ihm zu folgen, als wir durch die riesige, zweiflügelige Eingangstür den Palast der Seefeste betreten.
Nichts hat sich verändert, seit ich das letzte Mal hier war. So trutzig die Burg von außen wirkt, so reich und verspielt ist ihr Inneres. Silberdurchwirkte Läufer liegen auf dem Boden des langen Ganges, der zum Thronsaal führt. Ebenso wie die Livreen der Wachsoldaten sind die Läufer nachtfarben: eine Blauschattierung, die durch das eingefärbte Licht, das durch die bogenförmigen Buntglasfenster in den Gang fällt, intensiviert wird. Zahlreich wie die Kerzenleuchter reihen sich die Wachen rechts und links des Ganges auf. Stumm nicken sie uns zu, als wir an ihnen vorbeischreiten. Keiner spricht uns an, keiner hält uns auf. Alle wissen, wer wir sind.
»Weiß König Corvin, dass wir kommen?«, frage ich Vater leise, als wir uns der mit opulenten Schnitzereien verzierten Tür zum Thronsaal nähern.
»Ich hatte keine Zeit, einen Boten zu schicken.« Er klopft mir kurz auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen. Er wird uns empfangen.«
Als wir nur noch wenige Schritte vom Thronsaal entfernt sind, schwingen die Flügeltüren nach innen auf. Allerdings nicht, um uns einzulassen. Zwei Personen tauchen in der Türöffnung auf und kommen uns mit schnellen Schritten entgegen: eine Frau im schlichten, sandfarbenen Gewand einer Gelehrten und ein junger Mann.
Das Herz sinkt mir in die Hose.
Es ist zu früh
.
Während ich an der Seite meines Vaters auf den Thronsaal des Königs zulaufe, kommt mir Aristide de Gwilen entgegen.
Ich habe gewusst, dass wir uns wiedersehen werden, seit Lord Raghaillach von seiner Ankunft in Iriann berichtet hat. Ich war jedoch davon ausgegangen, dass das später geschehen würde, frühestens beim Abendessen mit dem Hofstaat. Nicht hier. Nicht jetzt.
Er erkennt mich nicht sofort, das sehe ich seinem Gesicht an. Vielleicht liegt es an der goldbestickten Tunika aus tannengrünem Stoff, die ich trage. Viel habe ich äußerlich heute nicht mit dem jungen Mann gemein, den er vor einem Jahr am Strand kennengelernt hat.
Ihn hingegen hätte ich überall und in jeglicher Gewandung wiedererkannt: die goldblonden Locken, das sonnengebräunte Gesicht, die markante Linie des Kinns samt Grübchen. Der sanfte Schwung seiner Lippen.
Heute sieht er nicht aus wie ein Fischer. Auch er trägt kostbare Gewänder, cremefarben und türkis, die Farben des Hauses de Gwilen. Mit jedem Schritt, den er näher kommt, wird mein Mund trockener.
Erst, als er fast auf gleicher Höhe mit mir ist, erkennt er mich. Er unterbricht das leise Gespräch mit der Frau an seiner Seite –
vermutlich seine Schwester – und reißt die Augen auf. »Rowan!« Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus.
»Prinz Aristide.« Ich deute mit dem Kopf eine Verbeugung an. »Prinzessin.«
Mein Vater bleibt überrascht stehen und blickt von mir zu Ash.
Der zeigt sich alles andere als befangen. »Darf ich annehmen, dass Ihr der Erzherzog von Ehrenfeld seid?«, wendet er sich an meinen Vater. »Darf ich uns vorstellen? Meine Schwester Solánge, die Comtesse de Gwilen. Ich bin Aristide Aurel de Gwilen.«
Die blonde Frau nickt uns kurz zu. Vaters Miene bleibt unbewegt. »Verehrte Hoheiten. Willkommen in Iriann. Wir danken Euch für Euren Beistand.«
»Eine Selbstverständlichkeit«, sagt die Comtesse. »Euer Land war gut zu mir.«
Ash zwinkert mir zu. »Ich hatte gehofft, dass wir uns wiedersehen.«
»Ich …«, presse ich hervor, weiß aber nicht weiter. Mein Herz schlägt zu schnell in meiner Brust.
Bevor es peinlich werden kann, unterbricht mich Vater. »Ihr müsst uns entschuldigen, Hoheiten. Mein Sohn und ich sind auf dem Weg zu unserem König, und unsere Botschaft duldet keinen Aufschub.«
Comtesse Solánge nickt uns freundlich zu und tritt einen Schritt beiseite. Ash lässt sich etwas mehr Zeit. »Sehen wir uns heute Abend bei Hof?«
Ich nicke nur. In Gwilen war es so leicht, mit ihm zu sprechen. Hier, während mein Vater neben mir steht, wollen weder die Worte kommen, noch traue ich meiner eigenen Stimme.
Ash hebt überrascht die Augenbraue, macht uns jedoch Platz. Ich will
ihm sagen, dass ich mich darauf freue, ihn wiederzusehen. Dass ich viel an ihn gedacht, ihn vermisst habe. Aber das geht nicht. Vermutlich hält er mich für einen Rüpel, denn als mein Vater weitergeht, schließe ich mich diesem einfach an, ohne mich noch einmal umzublicken.
Erst, als die Torflügel des Thronsaals hinter uns zuschlagen, löst sich der Druck auf meiner Brust. Ich bemerke, dass ich meine Hände
zu Fäusten geballt habe, und löse vorsichtig meine verkrampften Finger.
»Ich wusste gar nicht, dass der Prinz von Gwilen und du euch bereits kennt«, flüstert Vater überrascht, während der Hofmarschall uns ankündigt.
»Wir sind uns kurz begegnet. Letzten Sommer auf dem Festland.«
»Darüber sprechen wir noch«, sagt Vater. Dann wendet er sich dem König zu, der von seinem Thron aufgestanden ist, um uns erfreut entgegenzulaufen.
»Banwig!«, ruft König Corwin. Die beiden schließen sich in die Arme und klopfen sich herzlich auf die Schulter.
Der König wendet sich mir zu und legt mir die Hand auf die Schulter. »Junge. Groß bist du geworden.«
Ich verbeuge mich tief. »Mein König.«
Ich mag König Corwin. Früher habe ich ihn immer Onkel genannt. Dann fällt mein Blick auf die junge Frau, die hinter ihm aus den Schatten tritt. Sie ist atemberaubend.
»Prinzessin Alyss.«
Meine Verlobte lächelt mich an. »Rowan.«
Lady Raghaillach hat nicht übertrieben. Alyss ist erblüht. Ihre Schönheit besteht allerdings nicht aus vornehm blasser Haut und einem vollkommenen Gesicht. Tatsächlich sind ihre Züge ebenso schlicht wie meine. Aber ihr hocherhobener Kopf, das angedeutete Lächeln auf ihren Lippen, ihr freundlicher Blick und die Anmut, mit der sie sich bewegt, verleihen ihr eine bezaubernde Grazie. Ich begreife, dass man mir meine Stellung nicht nur neidet, weil sie die Thronfolgerin ist. Unwillkürlich frage ich mich, was sie sieht, wenn sie mich anblickt.
Sie ergreift meine Hände und drückt sie fest. »Es ist schön, dass du wieder bei Hof bist. Ich habe dich vermisst.«
Das bricht den Bann. Die ganzen Sorgen der letzten Wochen und Monate sind weggewischt. Das ist die Alyss, die ich kenne. Nicht die Thronfolgerin. Sondern das Mädchen, mit dem ich Sommer für Sommer gespielt habe. Die Freundin und Vertraute, mit der ich mein restliches Leben verbringen werde. Wir haben ähnliche Träume, haben sie immer gehabt. Alles wird gut werden. Wir lächeln uns an.
»Das ist also so wichtig, dass ihr es nicht mehr bis zum Abendessen ausgehalten habt«, sagt König Corwin laut zu Vater. »Dein Sohn konnte es nicht erwarten, seine künftige Braut wiederzusehen.«
Verlegen lösen Alyss und ich den Griff unserer Hände. Corwin achtet nicht darauf. Er legt uns beiden je einen Arm um die Schulter und zieht uns mit sich Richtung Thron.