Der undenkbare Tanz
Vater erwartet mich bereits, als ich ins Stadthaus zurückkomme. Über meinen Besuch bei Raven ist er nicht sonderlich erfreut. »Die Prinzessin ist es nicht, die Gerüchte über dich und eine Bürgerliche als Waffe gegen uns verwenden wird«, prophezeit er.
Ich lasse seine Zurechtweisung widerspruchslos über mich ergehen, froh darum, dass er darüber unser Aufeinandertreffen mit Ash und seiner Schwester vergessen zu haben scheint. Dann verziehe ich mich schnell in die Badekammer unseres Stadthauses, ehe er mit seiner Strafpredigt weitermachen kann.
Am Abend begleiten Mutter und meine Schwestern Vater und mich an den Hof. Nur Diarmaid lassen wir bei Nola zurück. Das gefällt meinem kleinen Bruder gar nicht und er strampelt protestierend in Nolas Armen.
»Ich bringe dir etwas Zuckerwerk mit«, verspreche ich. Das immerhin beruhigt ihn etwas.
Obwohl es sich nur um ein einfaches Abendessen handelt, haben wir uns alle in festliche Gewänder gehüllt. Morgen wird der Rat das erste Mal tagen; alle wichtigen Adelshäuser befinden sich bereits in der Stadt und werden der königlichen Familie beim Abendessen aufwarten. Mutter und Fiona flüstern begeistert miteinander, während wir dicht gedrängt beieinandersitzen. Dass unsere Kutsche über das Kopfsteinpflaster mehr holpert als rollt, bemerken sie gar nicht. Ich hingegen spüre jede unsanfte Bewegung der Kutsche überdeutlich. Es sind einfach zu viele Tage im Sattel gewesen.
»Wirst du mich mitnehmen, wenn du dich mit der Königin triffst?«, bettelt Fiona.
Mutter lacht. »Ich weiß noch nicht einmal, ob Bridget dafür Zeit findet.«
Aber freilich wird sie das. Die Königin und meine Mutter sind zwar nur Basen, keine Schwestern. Aber in ihrer Kindheit standen sie sich sehr nah. Ihre Freundschaft ist trotz der Entfernung, die nun zwischen ihnen liegt, nicht verwelkt. Auch sie mag Grund dafür sein, dass Alyss und ich miteinander verlobt worden sind. Mein Vater hat nie einen Hehl daraus gemacht, sie aufgrund ihrer engen Verbindung zum Königshaus gefreit zu haben.
Auf dem Weg den Hügel hinauf werfe ich immer wieder einen Blick aus dem Kutschfenster zur Seefeste. Nachdem Raven mir das Modell des Weißen Schlosses gezeigt hat, wirkt die Königsburg der Byrnes grob und düster auf mich. Immerhin mildert das Licht der untergehenden Abendsonne ihre Ecken und Kanten.
Im Inneren der Feste sind diese Gedanken schnell vergessen. Die Gold- und Silberfäden, die in die gewaltigen Wandteppiche eingewirkt sind, glitzern geheimnisvoll im Licht zahlloser Kerzen. Ihre Flammen verleihen der Umgebung zusätzlich einen warmen Glanz. Es duftet nach erlesenen Speisen: fangfrische Meeresfrüchte, gebratenes Wild, Backwerk und aromatische Kräuter. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen, noch ehe wir den Bankettsaal überhaupt betreten haben.
Er ist kleiner als der Ballsaal, den Alyss und ich heute durchquert haben, aber auch er bietet mehreren Dutzend Gästen Platz. Zahlreiche Tische und Bänke stehen im Raum und auf einem kleinen Podest im hinteren Bereich des Saals spielen Musiker auf Zupfinstrumenten unaufdringlich höfische Melodien.
Anders als erwartet, nehmen Fiona, Willow und ich allerdings nicht unsere üblichen Plätze in direkter Nähe der Tafel der königlichen Familie ein. Alyss und ihre Schwester Olwenn ziehen uns zu einem Tisch am gegenüberliegenden Ende des Saals, an dem bereits einige Jugendliche sitzen. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, weil Ash unter ihnen ist. Und es verkrampft sich, als ich erkenne, wer ihm gegenübersitzt. Ein junger Mann mit feuerrotem Wams und einem schwarzen Haarschopf. Die Raghaillachs haben es also auch rechtzeitig nach Ionnach geschafft.
»Meine Eltern wünschen, dass wir uns mit Gleichaltrigen austauschen«, erklärt Olwenn, während sie sich links neben ihrer Schwester auf einem freien Stuhl niederlässt. Sie ist ein Jahr jünger als Alyss, im gleichen Herbst geboren wie Fiona.
Ich beanspruche den Platz auf der anderen Seite meiner Verlobten, meine Schwestern setzen sich neben mich. Anschließend nicke ich den restlichen Anwesenden zu. Evan O’Leary sitzt bei uns, Fintan und Liam Murphy und eines der O’Sullivan-Mädchen, Cara, wenn ich mich nicht irre.
Als mein Blick auf Ash fällt, zwinkert er mir verschwörerisch zu und mein Herz setzt aus. Plötzlich fühlt sich meine Kehle staubtrocken an und mir fällt nichts ein, was ich hätte sagen können.
Beherzt trinke ich einen großen Schluck von dem verdünnten Wein, den mir ein Diener soeben eingeschenkt hat. Briann sei Dank wird bereits kurz nach unserer Ankunft der erste Gang aufgetragen. So kann ich mich auf das Löffeln der Suppe konzentrieren statt auf das Geplapper meiner Tischnachbarn. Immer wieder werfe ich mit gesenkten Lidern verstohlene Blicke zu Ash, und jedes einzelne Mal sehe ich, dass auch er in meine Richtung blickt. An den Gesprächen der anderen beteilige ich mich wenig. Erst während des Hauptgangs erzähle ich von meinem Erlebnis in der Akademie der Magier, von der Bronzeschale und der Erschaffung des Weißen Schlosses.
Gwyn verdreht abfällig die Augen, als ich geendet habe. »Das klingt nach dem nutzlosesten Artefakt, von dem ich jemals gehört habe.«
»Es wundert mich nicht, dass du so darüber denkst«, gebe ich zurück. »Du hattest noch nie einen Sinn für Kunst.«
Er zuckt mit den Schultern und schaufelt sich ein weiteres Fleischstück in den Mund. »Na und. Mit Kunst gewinnt man keine Kämpfe. Mit Wegrennen übrigens auch nicht.«
Mein Blut kocht. Dass ich nicht von der Bank aufspringe, habe ich nur Fiona zu verdanken, die mir unter dem Tisch schnell ihre Hand auf das Knie legt. Es ist jedoch Ash, der mich rettet. »Und welche Kämpfe gedenkt Ihr hier auszufechten, Lord Raghaillach?«, fragt er betont lässig.
»Falls Ihr es noch nicht bemerkt habt, Euer Hoheit. Meine Heimat wird bedroht von einer eine Seuche verbreitenden Monsterarmee.«
»Eine Armee würde ich es nun noch nicht nennen«, wirft Alyss ein.
Was auch immer Gwyn darauf gern erwidert hätte, er schluckt es herunter.
»Und es ist nicht das nutzloseste Artefakt, von dem ich jemals gehört habe.« Olwenn beugt sich nach vorne und greift nach einem der Äpfel, die zwischen den Holzplatten mit Fleisch und Käse liegen. »Wenn ich so darüber nachdenke, ist das überhaupt eine spannende Frage. Gibt es so etwas wie ein nutzloses Artefakt überhaupt?«
Das bringt uns alle zum Nachdenken.
»Die Mulrians sollen angeblich einen magischen Webstuhl besitzen«, erzählt Evan O’Leary. »Der Stoff, den man darauf webt, lässt sich nicht färben.«
»Das ist wahr«, erwidert Fiona. »Der Stoff kann aber auch nicht schmutzig werden.«
»Ich sollte den Stoff für mein Krönungskleid von den Mulrians weben lassen«, überlegt Alyss und alle lachen.
»Was ist mit dem Kissen von Silberbach?«, wirft jemand ein.
»Was ist das Kissen von Silberbach?«, fragen Gwyn und Ash gleichzeitig. Als sie es bemerken, warfen sie sich kurz vernichtende Blicke zu.
»Das Kissen von Silberbach ist ein Mythos«, erkläre ich. »Man sagt, wenn man seinen Kopf darauf bettet, lässt es einen sofort einschlafen.«
»Das klingt gar nicht so verkehrt«, sinniert Liam Murphy. »Mein Bruder schnarcht wie ein Bär zur Winterzeit. Da wäre so ein Kissen nicht unnütz.«
»Ihr wolltet es dennoch nicht haben«, lässt ihn Fiona wissen. »Wenn man es Euch nicht unter dem Kopf wegzieht, schlaft Ihr ewig weiter. Ihr wacht nicht auf, nehmt keine Nahrung zu Euch und siecht dahin.«
»Ammenmärchen!« Gwyn winkt einen der Diener zu sich, damit er Wein nachschenkt.
»Ein Märchen?« Alyss’ Lächeln kommt mir fast gefährlich vor. »Sei dir da nicht so sicher. Ich an deiner Stelle würde gut achtgeben, auf welches Kissen ich heute Nacht meinen Kopf bette.«
Einen kurzen Augenblick lang herrscht Stille in unserer Runde. Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich Alyss’ Worte fast für eine Drohung gehalten. Dann lacht sie hell auf und wir alle stimmen mit ein, selbst Gwyn.
»Lasst uns tanzen«, ruft Olwenn ausgelassen. »Die Musiker spielen gerade so schön.« Sie deutet zu dem kleinen Orchester, das von den ruhigen, getragenen Weisen, mit denen es das Abendessen untermalt hat, zu einem temporeicheren Lied gewechselt ist. Dann steht sie auf und nickt Evan O’Leary zu. »Gibst du mir die Ehre?«
Even erhebt sich und reicht der Prinzessin die Hand.
»Oho!« Ash klatscht in die Hände. »In Iriann fordern die Frauen die Männer zum Tanzen auf?«
»Freilich.« Olwenn grinst spitzbübisch in die Runde. »Wenn wir immer darauf warten müssten, dass uns ein Mann dazu auffordert, kämen wir nie zum Tanzen.«
»Das wäre in Gwilen undenkbar. Bei uns ist es Brauch …«
»Wir haben bereits gehört, welche Bräuche ihr in Gwilen pflegt«, unterbricht Gwyn Ash.
Vor Schreck verschlucke ich mich an dem verdünnten Wein, von dem ich gerade trinke. Ein Blick in die Runde genügt, um mir zu bestätigen, dass wir alle sofort begreifen, auf was Gwyn anspielt. Aber ich hätte nicht vermutet, dass jemand den Schneid – oder die Unverschämtheit – haben würde, das Thema anzusprechen. Nicht einmal Gwyn.
Ich sehe, wie Ash auf der anderen Seite des Tisches die Hände zu Fäusten ballt. Laut schnarren die Beine seines Stuhls über den Boden, als er aufspringt. Will er sich prügeln? Oder wird er etwas noch Dümmeres tun und Gwyn zum Tanz auffordern, um ihn zu reizen. Ich kann mir vorstellen, dass er die Nerven dazu hat. Und dann wird es garantiert zu einer Prügelei kommen.
Diesmal ist es Alyss, die helfend einspringt. »Prinz Aristide, gewährt Ihr mir die Ehre des nächsten Tanzes?«
Mit angehaltenem Atem beobachte ich, wie sich Ash und Gwyn anfunkeln. Die beiden werden keine Freunde werden.
Dann schnaubt Ash, wendet sich Alyss zu und reicht ihr die Hand. »Mit Vergnügen, Prinzessin.«
Gemeinsam mit Olwenn und Evan schreiten Ash und Alyss zu der kleinen Freifläche im Bankettsaal und beginnen zu tanzen. Sie sehen unglaublich miteinander aus: Alyss in ein fließendes, dunkelblaues Kleid gehüllt, in der Farbe der Byrnes. Ihr weißgoldenes Haar fließt ihr den Rücken herab bis zur Schulter. Ash, der sie in seinen Armen hält, mit seinem goldbestickten Hemd und einer eng anliegenden Hose, die nicht besser hätte sitzen können. Sie strahlen wie zwei Himmelskörper: Ash ist die Sonne und Alyss der Mond. Und sie bewegen sich mit atemberaubender Eleganz über die Tanzfläche. Als meine Verlobte nach einer wilden Drehung den Kopf in den Nacken wirft und laut auflacht, verspüre ich einen Stich der Eifersucht. Nachdem Alyss Ash zum Tisch zurückgeleitet hat, fordert sie mich auf. Fiona schließt sich uns ausgerechnet mit Gwyn Raghaillach an. Nach dem, wie er sich heute verhalten hat, ärgert mich das doppelt so sehr, wie es das eigentlich hätte tun sollen.
Dann bemerke ich, dass Ashs Augen auf mir ruhen. Wann immer die Drehungen des Tanzes dazu führen, dass ich in Richtung unserer Sitzplätze schaue, sieht er mich an. Den ganzen restlichen Tanz über bilde ich mir ein, seinen intensiven Blick im Rücken zu spüren.
»Geht es dir gut?«, fragt mich Alyss, als ich das zweite Mal aus dem Takt gerate. »Dein Fuß?«
Alyss weiß, dass mir der Fuß, den ich mir vor einigen Jahren gebrochen habe, ab und an Schwierigkeiten bereitet. Dankbar lächele ich sie an. »Nein. Es liegt eher an … Raghaillach.«
»Er ist ein Unruhestifter, ich weiß. Aber ein attraktiver Unruhestifter. Das scheint jedenfalls deine Schwester zu finden.«
Ich schiele hinüber zu Fiona, die leichtfüßig mit Gwyn durch die Musik schreitet. »Ausgerechnet.«
»Du magst ihn nicht?«
»Wir waren früher schon nicht die besten Freunde.«
»Ihr ward gleichzeitig Pagen bei Lord Waterford, nicht wahr?«
Ich nicke knapp. »Lass uns bitte über etwas anderes sprechen.«
»Gern. Ich wusste gar nicht, dass es in der Akademie dieses Artefakt vom Weißen Schloss gibt. Es klingt wunderschön. Ich würde es gern einmal sehen.«
»Wir können in den kommenden Tagen gemeinsam dorthin gehen, wenn du möchtest.«
»Dann könnte ich auch deine Freundin kennenlernen.«
Ich blicke Alyss fest in die Augen. »Zwischen Raven und mir ist wirklich nur Freundschaft.«
»Ich glaube dir.« Ihr Griff um meinen Oberarm verstärkt sich und sie lächelt mich offen an. »Und sie ist dir wichtig, das spüre ich. Deshalb würde ich sie gern kennenlernen.«
»Ach, Alyss«, sage ich. »Du bist wunderbar, weißt du. Ich habe dich gar nicht verdient.«
Und das habe ich nicht.
In diesem Moment nehme ich mir fest vor, mich ihrer würdig zu erweisen. Was kurz danach geschieht, macht mein Vorhaben jedoch nicht gerade leichter.