Der Sohn eines Königs
Als der Fremde am nächsten Tag zwischen den Dünen auftauchte, stand ich bereits am Meer und warf den heranrollenden Wellen kleine Steinchen und Muschelstückchen entgegen.
»Habt Ihr auf mich gewartet?«, fragte er und stellte sich neben mich.
Beinahe wären mir die Steinchen aus der Hand gefallen. »Ich …«
Ash lachte, als habe er nur einen Scherz gemacht, beugte sich nach unten und klaubte ein paar Muscheln aus dem hellen Sand. Mit einer beneidenswerten Leichtigkeit warf er sie aufs Meer hinaus. Eine Weile lang sagten wir nichts, aber das Schweigen lastete nicht auf uns.
»Ich weiß, wer Ihr seid«, sagte Ash schließlich aus dem Nichts heraus, während er dem Flug einer seiner Muscheln hinterherblickte. »Rowan O’Brien. Erzherzog.«
Instinktiv versteifte ich mich. »Ich bin nur der Sohn eines Erzherzogs. Und ich habe Euch nicht belogen. Ich begleite tatsächlich Lord O’Brien. Ich habe Euch nur nicht erzählt, dass er mein Onkel ist.« Ich schielte zur Seite, um möglichst unauffällig herauszufinden, wie er diese Nachricht aufnahm. Er grinste.
Er grinste ?!
»Auch ich war nicht ganz offen Euch gegenüber«, sagte er dann. »Ash ist nur eine Abkürzung. Mein voller Name lautet Aristide Aurel de Gwilen. Mein Vater ist …«
»Euer Vater ist der König von Gwilen.«
Und ich hatte ihn für einen Fischer gehalten. Ungläubig starrte ich ihn an. Ich wusste nicht, ob seine Enthüllung diese ganze Begegnung mehr oder weniger verrückt machte.
Ash – Aristide – hob eine Augenbraue. »Ihr habt Eure Muscheln fallen lassen.«
»Oh.« Mit hochrotem Kopf bückte ich mich, um die Steinchen und Muschelstücke wieder aufzusammeln. Ich hatte noch nicht einmal bemerkt, dass sie mir aus der Hand gerutscht waren. Ich suchte nach Worten, aber mir fiel nichts ein. Also warf ich weiter Muscheln ins Meer.
Der Prinz von Gwilen neben mir tat dasselbe. Der äußerst attraktive Prinz von Gwilen. Er war nicht der Kronprinz, soviel wusste ich. Aber er galt als der Lieblingssohn des Königs. Am Vortag war es so leicht gewesen, mit ihm ein Gespräch zu führen. Heute …
»Manchmal wünschte ich mir, nicht adelig zu sein«, gestand Ash plötzlich.
Das war wieder so ein Satz. So etwas konnte er doch nicht zu mir sagen. »Ist es so schlimm, der Sohn eines Königs zu sein?«
»Seht Ihr das etwa anders?«
»Mein Vater ist kein König.« Ich beschloss, ihm nichts von meiner Verlobung zu Alyss zu erzählen. Falls er nicht ohnehin bereits davon wusste.
»Euer Vater steht dem König nahe.«
»Wer sagt das?«
»Meine Tante, die Comtesse de Fennistére. Ich verbringe den Sommer bei ihr. Habt Ihr Euch nicht gewundert, was ich hier mache, so weit entfernt von der Hauptstadt?«
»Bis eben wusste ich ja noch nicht einmal, wer Ihr wirklich seid.« Ich zuckte mit den Schultern und grinste schief. »Ich habe Euch für einen Fischer gehalten.«
Ashs Kopf flog zu mir herum. »Für einen Fischer?«
»Ihr seid im Meer geschwommen. Und Eure Kleidung schien mir nicht sonderlich königlich.«
»Habt Ihr mich beobachtet?«
»Natürlich nicht!«
»Natürlich nicht.«
»Weshalb sollte ich das tun?!«
»Ja, weshalb solltet Ihr?«
Sein Blick wurde so direkt, dass mir Schauer den Rücken herabrieselten. Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Es fühlte sich an, als würde ich auf einer Schwelle stehen. Es bedurfte nur eines Schrittes, eines einzigen, winzigen Schrittes, um mich in einen anderen Raum zu begeben. Einen Raum, den ich mein ganzes Leben lang noch nicht zu betreten gewagt hatte. Es hätte leicht sein sollen. Dieser fremde Prinz vor mir reichte mir die Hand. Das tat er doch, oder?
Aber was war, wenn ich mich irrte?
Und was sollte werden, wenn ich mich nicht irrte?
»Schwimmt Ihr gern?«, fragte Ash schließlich und brach den Bann. Es fühlte sich an, als hätte mir jemand unerwartet einen Schwall Regenwasser ins Gesicht geschüttet.
»Ob ich gern schwimme?«
Ash verschränkte die Arme, aber das gespannte Grinsen verschwand nicht aus seinem Gesicht. »Habt Ihr jetzt vor, jede meiner Fragen mit einer Gegenfrage zu beantworten?«
»Ich weiß nicht. Nein.«
»Also?«
»Was?«
»Schwimmt Ihr gern?«
»Freilich.« Die Antwort war heraus, ehe mir klar wurde, was sie bedeutete. »Ich meine …«
Aber es war zu spät. Ash zog sich bereits das Hemd über den Kopf. »Dann kommt.« Er ließ das Kleidungsstück in den Sand fallen. Die Sonnenstrahlen schimmerten auf seiner nackten Haut. Keinesfalls würde ich mich ausziehen und ihm einen Blick auf meinen käseweißen, wenig trainierten Körper gewähren.
»Ich kann nicht!«, versuchte ich ihn aufzuhalten. Ash war bereits dabei, an den Schnüren seiner Hose herumzunesteln. Das ging auf keinen Fall!
»Ihr könnt nicht schwimmen? Gerade noch sagtet Ihr, es würde Euch Spaß machen.«
»Nein, ich … Jetzt lasst um Tuaths willen Eure Beinkleider an, Prinz Aristide. Ich kann nicht, weil ich schon bald ins Château zurückkehren muss. Der Duc und die Duchesse erwarten mich. Und mein Onkel …«
Tatsächlich verharrte der Prinz in der Bewegung. Er richtete sich auf und funkelte mich an. »Ich hatte Euch doch gebeten, mich Ash zu nennen.«
»Tatsächlich habt Ihr das nicht.«
»Nun gut, vielleicht habe ich vergessen, das zu erwähnen. So wisst Ihr es jetzt. Und wenn wir schon dabei sind, dann könnt Ihr auch gleich Du zu mir sagen.«
»Ihr seid ein Prinz von Gwilen.«
»Und du bist der Sohn eines Erzherzogs. Wo siehst du da ein Problem?«
Ungläubig schüttelte ich den Kopf. »Wir sind uns noch nicht einmal formell vorgestellt worden.«
»Ich stehe halbnackt vor dir.«
Oh ja. Das tat er! Und das machte die ganze Situation entschieden schwerer.
»Ich …«
»Sag jetzt nicht, dass du aufbrechen musst.«
»Ich muss wirklich zurück.« Weil ich sonst Gefahr lief, etwas unglaublich Dummes zu tun.
Ash sah enttäuscht aus. »Schade.«
»Schade«, murmelte auch ich.
»Morgen werde ich nicht hier sein.«
»Oh.«
»Ich begleite meine Tante auf einen Empfang.«
»Sehen wir uns dann übermorgen?« Ich wusste selbst nicht, warum ich das fragte. Ehrlich, ich hatte nicht vorgehabt, diese Frage zu stellen. Sie war einfach so aus mir herausgebrochen.
Ashs Grinsen kehrte zurück. »Nur, wenn du versprichst, Du zu mir zu sagen.«
Sein Grinsen war anstecken. »Nun gut. Du.«
Er streckte mir den Arm entgegen, als wolle er mein Versprechen mit einem Händedruck besiegeln. An seiner Haut klebten kleine Sandkörner. Seine Finger fühlten sich warm und weich in meinen an. »Und du musst mir versprechen, übermorgen mit mir schwimmen zu gehen.«
Ich wollte meine Hand zurückziehen, aber sein Griff wurde fester. »Ash!«
»Dafür, dass ich dich jetzt loslasse.« In seinen Augen blitzte der Schalk.
»Ich bin kein guter Schwimmer.«
»Es geht doch nicht darum, wer von uns beiden besser schwimmen kann.«
Worum geht es dann?
»Ich muss wirklich gehen.« Entschlossen zog ich meine Hand zurück.
Den Blickkontakt zwischen uns zu unterbrechen, war bedeutend schwieriger. Ebenso, wie meine Füße dazu zu zwingen, den Heimweg anzutreten.