Eine unerwartete Begegnung
Wir gehen weiter. Die modrige Luft trägt nun ab und an ein dumpfes Klackern zu uns heran. Vorsichtig tasten wir uns den Gang entlang. Ich achte darauf, keine weitere Stachelformation zu berühren. Zeit ist knapp, wir dürfen uns nicht ablenken lassen.
Ich gehe vor Solánge, Sonnendorn gezogen. Solánge deckt mir mit ihrem Dolch den Rücken. Kurz habe ich die Klinge meines Schwertes aufflammen lassen, um mich davon zu überzeugen, dass es seine Kraft nicht verloren hat, und um die Umgebung zu erhellen. Aber mit Sonnendorn geht es mir wie Raven mit dem Torstein. Da ich nicht weiß, wie lange seine Macht noch reichen wird, zögere ich, es zu benutzen. Solánge hat zwar genügend Lichtsteine eingepackt. Das giftige Zwielicht des Schattenlabyrinths genügt aber, um sich zurechtzufinden.
Wir kommen nur langsam voran. Im geisterhaften Glühen um uns herum sehe ich, wie dreckig alles ist. Die Wände wirken schief und pockennarbig. Zu den kleinen Steinen an den Rändern des Ganges gesellt sich trockenes Laub. Bisher habe ich keinerlei Pflanzen im Schattenlabyrinth entdeckt. Es ist mir deshalb ein Rätsel, woher das verdorrte Blattwerk kommt.
Der Gang, dem wir folgen, besitzt viele Windungen. Keinerlei Türen gehen von ihm ab. Ohne den Marmorboden hätte ich geglaubt, mich durch eine Höhle zu kämpfen und nicht durch ein Gebäude, das einst das schönste Schloss auf der ganzen Insel gewesen sein soll. Die muffige Luft macht es schwer zu atmen, und bald habe ich das Gefühl, meine Nasenhöhlen seien verklebt. Was mich am meisten irritiert, ist, dass wir keinem begegnen. Sollte es hier nicht vor Schattenkreaturen nur so wimmeln? Mein eigener Atem und der Klang unserer Schritte tönen unnatürlich laut in meinen Ohren.
Zweimal haben wir unseren Mut zusammengenommen und nach Ash gerufen, aber keine Antwort erhalten. Wäre das seltsame Klackern nicht, würde ich schwören, wir seien mutterseelenallein im Schattenlabyrinth.
Wir biegen gerade in einen Gang ein, der den unseren kreuzt, als ein neues Geräusch erklingt. Sofort bleibe ich stehen und halte den Atem an. Solánge legt ihre Hand auf meine Schulter, um mich zu beruhigen, und lässt den Leuchtstein in ihrer Hand erlöschen. Angespannt lauschen wir.
Ein leises Scharren dringt an unsere Ohren, wie von Ratten in den Wänden. Mich schaudert. Meine Finger schließen sich fester um Sonnendorn, obwohl ich mir nicht sicher bin, was ein Schwert gegen Ratten ausrichten soll. Dann kneife ich meine Augen zu Schlitzen zusammen und suche die Umgebung ab.
Ich entdecke die Verursacher des Geräuschs einige Schritte von uns entfernt in einer Mauerspalte. Mit dem Kopf deute ich in die Richtung und hoffe, Solánge kann das im Zwielicht sehen. Tatsächlich handelt es sich bei den Scharrern um Nagetiere. Aber nicht um Mäuse oder Ratten. Drei possierliche Tierchen stehen auf ihren Hinterpfoten. Sie haben kleine, spitze Gesichter mit auffälligen Pinselohren und große buschige Schwänze. Aus großen Knopfaugen blicken sie mich an.
Nachdem ich mich von meiner Überraschung erholt habe – mit Eichhörnchen habe ich im Schattenlabyrinth nicht gerechnet –, gehe ich vorsichtig in die Hocke. Solánge tut es mir gleich und bringt auch wieder den Lichtstein zum Glühen. Die Eichhörnchen rümpfen ihre winzigen Näschen und beobachten uns neugierig.
»Na ihr«, flüstere ich und strecke ihnen aus einem Impuls heraus die Hand entgegen. »Was macht ihr denn hier? Habt ihr einen jungen Mann hier gesehen?«
Eines der Tierchen legt den Kopf schief, als ob es mich verstanden hätte. Trotz der furchtbaren Situation, in der wir uns befinden, muss ich lächeln.
»Vorsichtig«, warnt Solánge.
Langsam hoppelt eines der Eichhörnchen näher. Ich versuche,
möglichst still zu halten, weil ich es nicht erschrecken will. Interessiert es sich für uns oder für das leuchtende Objekt in Solánges Hand? Amüsiert beobachte ich, wie es immer näher kommt. Auch die anderen beiden folgen ihm.
Dann geht alles ganz schnell: Das vorderste Eichhörnchen spitzt seine Puschelohren, beugt sich nach vorne und rast auf mich zu. Die letzten Schritte zwischen uns überquert es, indem es sich mit den Hinterläufen vom Boden abdrückt und durch die Luft schnellt. Es landet in meiner ausgestreckten Hand – und beißt mir kräftig in den Handballen.
»Au!«
Der Schmerz treibt mir Tränen in die Augen.
Fluchend schüttele ich meinen Arm, um das kleine Monster loszuwerden. Das hat allerdings bereits von selbst von der Hand abgelassen. Winzige Krallen bohren sich in mein Wams, als es meine Ärmel hinaufklettert. Ich fahre in die Höhe, unschlüssig, ob ich Sonnendorn loslassen soll, um das Biest abpflücken zu können, oder ob ich lieber die Schwertklinge dazu verwenden soll, es zu vertreiben.
Neben mir höre ich auch Solánge wütend zischen, und aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sie einen Nager mit ihrem Fuß wie einen Ball davontritt. Das Eichhörnchen, das an mir hochgeklettert ist, packt mit seinen beiden Vorderpfoten meinen Silberknopf und reißt daran. Es sollte nicht möglich sein, dürfte nicht möglich sein, aber das Lederband gibt nach. Und ehe ich es mich versehe, springt der Nager mit dem Silberknopf in den Pfoten zurück auf den Gang.
»Oh nein, das wirst du nicht!«
Ohne nachzudenken lasse ich Sonnendorn fallen und hetze dem Dieb hinterher. Zur gleichen Zeit flammt Feuer grell im Gang auf. Solánge ist es wohl gelungen, ein weiteres Artefakt aus ihrem Beutel zu fischen und es zu aktivieren.
Mit aufgeregtem Fiepen rennen die anderen Eichhörnchen ihrem Gefährten hinterher. Im Schein des Feuers, das das seltsame Licht des Schattenlabyrinths ebenfalls grünlich einfärbt, beobachte ich entsetzt, wie der Silberknopfräuber in einer Lücke im Mauerwerk verschwindet.
»Nein!«
Verzweifelt sehe ich mich zu Solánge um. »Sie haben den Silberknopf gestohlen!«
Ehe sie antworten kann, lasse ich mich vor dem Mauerspalt auf alle viere nieder und stochere kurz entschlossen mit der Klinge von Sonnendorn in dem dunklen Loch. Sie stößt auf keinen Widerstand.
Solánge, mit einer brennenden Kerze in der Hand, geht neben mir in die Hocke.
»Kann ich sie kurz haben?«, frage ich.
»Sei vorsichtig«, antwortet Solánge, aber sie gibt sie mir. Langsam schiebe ich die Kerze in den Mauerspalt. Ich mache mir keine Sorgen, dass sie dabei verlöschen wird, schließlich ist sie ein Artefakt. Aber das wird mich nicht davor bewahren, mir die Finger zu verbrennen, wenn ich nicht aufpasse. Schließlich wage ich selbst einen vorsichtigen Blick. Alles, was ich erkennen kann, ist die tanzende Flamme. Vom Silberknopf und von den Eichhörnchen fehlt jede Spur. Vor Frustration würde ich am liebsten heulen.
Niedergeschlagen übergebe ich Solánge wieder das Artefakt. Das Licht der Kerze treibt das Zwielicht im Schattenlabyrinth etwas zurück. Unbarmherzig legt es Schmutz und Verfall der Feste frei. Spinnweben und Staubfäden hängen wie Seidenschleier in den Gang hinein. Einzig der Grund, dass die Decke sich so weit über unseren Köpfen befindet, hat dafür gesorgt, dass ich bisher noch nicht durch eines der klebrig aussehenden Gebilde gestolpert bin. Hoch über uns erkenne ich noch bruchstückhaft die Reste filigraner Steinmetzarbeiten und ein Stück vor mir wächst noch eine Fackelhalterung aus der Wand. Das Eisen ist eingedellt und deformiert, als sei es unter gewaltiger Hitze geschmolzen und danach wieder erstarrt.
Solánge neben mir nimmt ihren Wasserschlauch von der Schulter und entkorkt ihn. Ich tue es ihr mit dem meinen gleich. Gierig trinke ich einige Schlucke.
»Ash, wo bist du?«, murmelt Solánge neben mir.
Niemand antwortet uns.