Der Tanz der Schwarzen Königin
Während unserer Rast hat der feine Schweißfilm auf meiner Haut genügend Zeit gehabt, abzukühlen. Nun lässt er mich frösteln. Solánge und ich stolpern weiter durch düstere Gänge.
Von Ash finden wir einfach keine Spur. Als sei er vom Erdboden verschluckt. Ich verfluche ihn dafür, dass er mir das antut. Ich bin kein Held, egal, was er denkt. Ich bin der Falsche dafür, sich Stunde um Stunde durch dieses Labyrinth zu schleppen. Bei den Göttern, wie sehr ich hoffe, ihm ist nichts passiert!
Das grüne Zwielicht zermürbt mich. Dass wir nicht mehr Schattenkreaturen, ja, noch nicht einmal weiteren Eichhörnchen begegnen, tröstet mich wenig. Fast schon sehne ich es herbei, dass wenigstens irgendetwas geschieht, denn mit jedem Schritt verliere ich stärker mein Gefühl für Zeit.
Als vor uns über den schmutzigen Flur eine Spinne auf langen, bepelzten Beinen vorbeiflitzt, zucke ich zusammen. Dann jedoch atme ich erleichtert auf, weil wir nicht ganz allein sind. Dennoch beeilen wir uns, um von dem Tier wegzukommen. Was frisst die Spinne? Insekten habe ich keine gesehen.
Meine Augen beginnen zu brennen. Auch hier sind die meisten der Räume, in die wir blicken, leer. Wenn, dann gibt es dort Überreste von Möbeln, verkohlt und nicht mehr als das zu erkennen, was sie einmal gewesen sind. Als hätte ein gewaltiges Feuer in der Festung getobt.
Als ich um die nächste Ecke biege, halte ich überrascht inne. Statt zu weiteren Gangfluchten führt der Durchgang auf eine Galerie. Plötzlich befinden wir uns in einem riesengroßen Raum, der einst eine prachtvolle Halle gewesen sein muss, jetzt jedoch wegen der geschwärzten und geschmolzenen Steinwände an eine Höhle erinnert. Vorsichtig betreten wir die Galerie und gehen bis nach vorne zum Geländer. Es muss einst aus kunstvoll behauenem Marmor gefertigt worden sein. Hier und da blitzen noch blütenweiße Überreste aus dem Stein.
Weil ich Angst habe, dass der Marmor unter meiner Berührung zerfällt wie trockenes Laub, lege ich meine Hände sacht auf das Geländer und schaue nach unten. Schwindel erfasst mich, sobald ich meinen Blick in die Tiefe richte, aufgrund des brandnarbigen Gesteins um mich herum noch stärker als sonst. Der Fußboden in der Halle unter mir ist zwar von einer feinen Staubschicht überzogen, jedoch unzerstört. Unter einem Schleier aus Grau blitzen schneefarbene Marmorplatten hervor. Und in der Mitte der Halle schimmert eine goldene Einlegearbeit. Von meinem erhöhten Platz aus kann ich erkennen, dass sie geformt ist wie ein gewaltiges Buchenblatt.
»Ich glaube, ich weiß, wo wir sind«, sage ich leise zu Solánge.
»Wo?«
»Im Ballsaal des Weißen Schlosses.« Ich deute auf die Einlegearbeit. »Es gibt da eine alte Ballade: Das Goldblatt der Buche treibt in einem Meer aus Milch
Das erste Mal, seit ich die Schattenfeste betreten habe, fühle ich meine alte Begeisterung für die Geschichte der Elfen aufflammen. In dieser beklemmenden Düsternis vergisst man leicht, dass das Weiße Schloss einst von einem mächtigen Elfenfürsten erschaffen worden ist. Hier, vor mir, liegt der Beweis.
»Das muss ich mir genauer ansehen.« Ohne auf Solánge zu achten, gehe ich auf die breite, geschwungene Treppe zu, die hinunter in den großen Raum führt.
»Langsam!« Solánge heftet sich an meine Fersen. Bedächtig steigen wir die breiten Stufen nach unten und hoffen, dass uns das frei schwingende Konstrukt tragen wird.
Am Fuß der Treppe atme ich erleichtert auf. »Das wäre geschafft.«
Vor dem goldenen Buchenblatt gehe ich auf die Knie. Warum ist dieser Ort nicht ebenso stark zerstört worden wie die anderen? Mit den Fingerspitzen berühre ich die kunstvolle Einlegearbeit im Marmor – und löse damit offenbar die Macht eines Artefakts aus, denn plötzlich befinden Solánge und ich uns inmitten einer Gruppe umherwirbelnder Menschen. Ohrenbetäubender Lärm stürzt auf uns ein. Erschrocken schreie ich auf. Solánge schreit ebenfalls, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie das mit oder wegen mir tut.
Noch während ich mich aufrichte und Sonnendorn ziehe, begreife ich, dass wir uns nicht in Gefahr befinden. Eine Frau in einem Ballkleid tanzt durch mich hindurch, als sei sie ein Geist. Der Lärm, der um uns herum erschallt, entstammt dem Spiel eines großen Orchesters und dem Gelächter und den Unterhaltungen der Menschen. Ich habe mich nur so lange durch die Stille des Schattenlabyrinths bewegt, dass mir die Geräusche unnatürlich vorkommen.
Gebannt betrachte ich das geisterhafte Treiben. Die Menschen um uns herum scheinen immer wirklicher zu werden. Jetzt bemerke ich auch den warmen Schein der Kerzen in den Leuchtern, die an den Rändern des Raums aufgestellt sind. Männer und Frauen umkreisen sich in verschlungenen Reigen, lächeln sich zu, es herrscht ausgelassene Stimmung. Wir befinden uns im Zentrum eines opulenten Festes. Von der Decke hängen gewaltige Pflanzenstränge wie Girlanden.
Als sich die Reihen der Tänzer vor uns teilen, sehe ich einen hochgewachsenen, breitschultrigen Mann in einem prächtigen Anzug. Auf seinem Kopf sitzt eine goldene Krone – und in seinen Armen wiegt er eine zarte Frau. Ihre dunklen Locken fließen ihr den Rücken hinunter bis auf den Fußboden. Statt Edelsteine trägt sie Lilien in die Haare geflochten. Sie bewegt sich so grazil über den Marmorfußboden, dass sie mich an ein wildes Tier erinnert, an einen Raben im Schnee. Ihre ätherische Schönheit besitzt fast etwas Übernatürliches. Da begreife ich, was ich sehe: die Hochzeit des Königs mit der Schwarzen Königin.
Nichts an ihr wirkt hexenhaft oder falsch. Oder böse. Das Lächeln, das sie ihrem Bräutigam schenkt, erscheint mir so arglos.
Dann denke ich an Gwyn Raghaillach. Er hat nicht nur meiner Schwester, sondern auch Olwenn den Kopf verdreht und beide sind drauf und dran, genauso auf ihn hereinzufallen wie einst König Kevan auf seine Frau.
Die Härchen auf meinen Armen richten sich auf, als ich begreife, dass wir zwar noch nicht auf sie gestoßen sein mögen, dass sich der Körper der Schwarzen Hexe aber irgendwo hier mit Solánge, Ash und mir im Schattenlabyrinth befinden muss. Ob sie noch schläft? Oder ist sie aufgewacht und lauert wie eine Spinne in ihrem Netz auf den Moment, in dem sie ihre Fesseln endgültig sprengen kann?
Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie Solánge einen Schritt auf die Tänzer zugeht und ihren Arm ausstreckt. Sie berührt die Schulter einer der lachenden Frauen, die im Kreis um uns herumwirbeln. Aber ihre Hand gleitet durch die Erscheinung.
»Faszinierend«, murmelt sie. »Ein Artefakt, das Erinnerungen speichert?«
»Ich glaube, das ist die Schwarze Königin.« Mit dem Finger deute ich auf die dunkelhaarige Schöne.
Gemeinsam beobachten wir das tanzende Paar nur wenige Schritte vor uns.
»Sie ist bezaubernd«, sagt Solánge. »Ich kann verstehen, warum er ihr verfallen ist.«
Der König vor uns beugt seinen Kopf nach vorne und flüstert seiner Braut etwas ins Ohr. Diese legt den Kopf in den Nacken und lacht laut auf. Ihr Haar fällt zurück – und da sehe ich es.
Irre ich mich auch nicht?
Ich bin mir fast sicher. Aufgeregt stolpere ich auf die beiden zu. Die Menschen um uns herum beginnen zu flackern und für einen kurzen Moment stehen Solánge und ich einfach nur in einem alten Ballsaal, umgeben von Verfall und grünlichem Zwielicht. Dann geht die Vision wieder weiter, ich höre die Musikanten spielen, Menschen miteinander sprechen und sehe das Königspaar tanzen. Beide drehen sich im Takt der Orchestermusik. Die schwarzen Locken sind der Königin hinters Ohr gerutscht und diesmal gibt es keinen Zweifel: Ihre Ohren laufen in langen Spitzen aus. Elfenohren. Ich kann es nicht glauben. Die Schwarze Königin, die Hexe, die unser Land beinahe vernichtet hat, war eine Elfe?!
Nein, das ist Unsinn. Es muss eine ganz andere Erklärung für das geben, was sich vor uns abspielt. Ich muss mich irren. Entschlossen trete ich weiter in den Raum hinein. Wieder überlagern sich Wirklichkeit und Vision. In den warmen Kerzenschein und das Funkeln der Kristalllüster stiehlt sich das grüne Licht des Schattenlabyrinths. Aus der Königin und dem König, die vor mir glücklich lächelnd durch den Ballsaal schweben, scheint die Farbe herauszubluten. Durch ihre Gestalten hindurch kann ich die umgestürzten Kerzenleuchter sehen und die vermoderten Wandbehänge, die die Szenerie beherrscht haben, ehe ich das goldene Buchenblatt berührte.
»Ash?«
Solánges ungläubiger Ausruf lässt mich zu ihr herumwirbeln. Ihre Augen sind weit aufgerissen, ob vor Erstaunen oder Hoffnung, kann ich nicht sagen.
»Ash!« Sie hebt die Hand wie zum Gruß.
Ich drehe den Kopf, um in die Richtung zu sehen, in die sie blickt.
Die geisterhaften Tänzer um uns herum beachten uns nicht. Hinter ihren durchscheinenden Leibern kann ich eine dunkle Gestalt ausmachen, die in einer Türöffnung steht und zu uns herüberblickt. Eine dunkle Gestalt mit weit fallendem Hemd und eng geschnittenen Hosen. Der Beobachter – Ash – dreht seinen Kopf in meine Richtung. Aber kurz, ehe sich unsere Blicke treffen, wendet er sich ab und zieht sich in die Dunkelheit des Ganges zurück.
»Ash!«, rufe nun auch ich und beginne zu rennen. Ich achte nicht darauf, ob Solánge mir folgt. Es ist mir egal, dass ich durch die tanzenden Gestalten hindurchrenne. Sie nehmen mich ohnehin nicht wahr. Nun ist es nur wichtig, Ash einzuholen.