Ein modriges Bett
Mit einem Schrei fahre ich auf und schnappe nach Luft. Mein Hinterkopf schmerzt. Es dauert einen Augenblick, bis ich begreife, dass ich mich nicht in einer Kerkerzelle befinde, sondern im Schattenlabyrinth. Ironischerweise erleichtert mich dieser Gedanke. Dann stürzt die ganze Ausweglosigkeit meiner Lage wieder auf mich ein. Ich will mich in die Höhe drücken, aber meine Hände sinken in den Untergrund ein. Ich liege nicht auf dem Boden, ich liege auf dem Bett. Bei dem Gedanken an die vermoderten Laken, die ich vom Flur gesehen habe, schaudert es mich.
»Ruhig Blut«, ertönt eine dunkle, fremde Stimme und ich zucke zusammen. Sofort bereue ich die ruckartige Bewegung, denn sie lässt meinen Schädel dröhnen.
Aus dem Dunkel schält sich die Gestalt eines Fremden. Hektisch greife ich nach Sonnendorn, aber statt des Schwertes ertaste ich etwas Weiches, Warmes. Einen Arm? Obwohl ich eigentlich die Gestalt nicht aus den Augen lassen wollte, schiele ich neben mich auf das Bett. Selbst im grünen Dämmerlicht kann ich erkennen, dass es sich bei der Person neben mir um Solánge handelt. Solánge!
»Wie …«, murmele ich ungläubig. Solánge hat die Augen geschlossen, ihr Mund steht leicht offen, auf ihrer Schläfe prangt ein dunkelroter Bluterguss – aber ihr Brustkorb hebt und senkt sich in gleichmäßigem Rhythmus. Sie lebt!
»Was habt Ihr mit ihr gemacht?«, verlange ich aufgebracht zu wissen und vergesse für einen Augenblick meine Angst. Zorn wallt in mir hoch. Wenn der Fremde Solánge etwas angetan hat …
»Ganz ruhig«, antwortet er.
»Wer seid Ihr? Was tut Ihr hier? Wie …«
Über einem altmodischen Hemd mit breitem Rüschenkragen trägt
der Fremde eine dunkle Weste. Vermutlich war sie einst rot oder braun, inzwischen starrt sie vor Schmutz. Der Fremde ist deutlich älter als ich, sicher nicht viel jünger als mein Vater. Das verraten die silbernen Strähnen in seinem dunklen Haar und seinem Vollbart. Die Zeit hat Furchen in sein Gesicht gezogen. Die dicke Goldkette um seinen Hals weist ihn als Adeligen aus, aber ich habe ihn noch nie gesehen.
»Hat Raven Euch geschickt?«
»Wie seid ihr hierhergekommen?«, fragt der Fremde stattdessen und tritt näher. Aus einem Impuls heraus rücke ich von ihm weg. Er hebt beschwichtigend die Hände. »Ich will dir nichts tun.« Er löst eine bauchige Flasche von seinem Gürtel und streckt sie mir entgegen.
»Was ist das?«
»Wasser.«
Argwöhnisch nehme ich das Gefäß entgegen, entkorke es und schnuppere an der Öffnung. Ich rieche … nichts. Aber in seinem Inneren schwappt es verheißungsvoll. Ohne den Neuankömmling aus den Augen zu lassen, hebe ich die Flasche an meinen Mund und koste vorsichtig an ihrem Inhalt. Wasser! Endlich!
Ich trinke und höre erst auf, nachdem ich die Flasche halb geleert habe. Dann verkorke ich sie wieder, gebe sie aber nicht zurück. »Wo ist mein Schwert?«
Der Fremde deutet an das Fußende des Bettes, wo Sonnendorn liegt. Am liebsten würde ich darauf zustürzen, aber ich mache mir nichts vor. Mein Körper fühlt sich schwach an. Wenn der Fremde mir Böses will, kann ich dem nichts entgegensetzen. Vielleicht hat er mich ohnehin gerade vergiftet.
»Solánge …«
»Heißt so deine Gefährtin?«, fragt er. »Ich setze mich jetzt.«
Stumm beobachte ich, wie er sich auf Höhe meiner Füße auf den Bettrahmen setzt. Das Holz knarzt protestierend unter seinem Gewicht.
»Das ist unmöglich«, sage ich, mehr zu mir selbst als zu ihm. »Solánge ist gestürzt. Ich habe sie stürzen gesehen. Ist das eine weitere Vision?«
»Sie ist
gestürzt. Ich habe sie gerettet.«
»Wie?«
Wieder sehe ich den nachtschwarzen Schacht vor mir, den verzweifelten Ausdruck in Solánges Augen, als ihre Kraft sie verlassen und sie ihre Finger vom Lederbeutel gelöst hat.
»Der Verbotene Bereich des Schlosses besteht überwiegend aus unterirdischen Flüssen und Seen. Deine Freundin hatte Glück. Sie ist direkt hineingestürzt.«
»Der Verbotene Bereich …?« Ich verstehe nicht.
»Die Grotten und Höhlen unter uns.« Er deutet mit dem Finger auf den Fußboden. »Unter dem Schloss. Es ist gefährlich dort.«
Am liebsten würde ich laut lachen. Und hier ist es nicht gefährlich?
»Die Magie wütet dort wild.« Er wirft einen Blick auf Solánge. »Deine Freundin hat Glück gehabt, dass ich zur Stelle war und sie rechtzeitig herausgezogen habe.«
»Ich …« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. »Wer seid
Ihr? Was tut Ihr hier?«
Einen Augenblick lang glaube ich, der Fremde würde behaupten, er sei der Gemahl der Schwarzen Königin. Was er jedoch antwortet, ist beinahe ebenso verrückt.
»Ich beobachte euch bereits eine ganze Weile. Mein Name ist Gawain.«
Ich kenne die Geschichte des Schattenlabyrinths. Der alten Sage nach war er der Geliebte der Schwarzen Königin. Ich öffne den Mund, um etwas zu erwidern, aber ich kann ihn nur anstarren.
Der Fremde fährt sich mit der Hand durchs Haar. »Du glaubst mir nicht.«
»Gawain, König Kevan, der Hofstaat des Weißen Schlosses. Sie alle sind seit dreihundert Jahren tot.«
»Dreihundert
Jahre?! Unmöglich!« Das Gesicht des Fremden verzieht sich wie unter einem Schlag.
Das ist der Moment, in dem ich beschließe, ihm zu glauben. Er hat keinen Grund, mir etwas vorzuspielen. Ich sitze neben einer bewusstlosen, aber lebenden Solánge in einem vermoderten Bett inmitten des Schattenlabyrinths und spreche mit einem Mann, der bereits vor Jahrhunderten gestorben sein soll. Entweder träume ich.
Oder ich bin tot. Oder der Fremde spricht die Wahrheit.
»Dreihundert Jahre«, murmelt er. »Dreihundert
Jahre. Ich wusste … Aber ich hätte nicht geglaubt …«
»Wie könnt Ihr noch am Leben sein?«
Gawain ballt die Fäuste. »Die Zeit verläuft anders seit dem Fall. Aber dreihundert Jahre?!«
»Der Fall? Ihr meint den Kampf gegen die Schwarze Königin.« Kaum sind die Worte heraus, verfluche ich mich. Wenn er die Wahrheit sagt, war die Schwarze Königin seine Geliebte.
»Nennt man sie inzwischen so?«
»Wie nennt Ihr sie?«
Seine Züge entspannen sich. »Cailleach.«
»Cailleach«, wiederhole ich. Diesen Namen haben die alten Überlieferungen verschwiegen. Ich glaubte immer, dies läge daran, dass ein Name sie menschlicher gemacht hätte. Aber Cailleach ist kein menschlicher Name.
Ich sehe die Königin im Ballsaal wieder vor mir, dieses überirdisch schöne Geschöpf mit den tiefschwarzen Haaren. Wild wie ein Tier kam sie mir vor.
Ich blicke zu Solánge. Wenn ich nur mit ihr beratschlagen könnte. Aber sie liegt immer noch beinahe reglos da, als schliefe sie tief und fest. Vorsichtig berühre ich sie an der Schulter. Nichts.
»Sie wird nicht einfach so aufwachen.« Gawains Stimme klingt fast schon sanft.
»Wie?«, frage ich ihn, obwohl ich Angst vor seiner Antwort habe.
»Sie hat zu viel Wasser geschluckt.«
»Aber sie lebt noch.«
»Das ja. Doch das Wasser im Verbotenen Bereich ist verseucht, schlimmer noch als der Rest der Umgebung dort unten.«
»Und wie können wir sie wecken?«, frage ich bitter. »Mit einem Kuss?« Ich habe in meiner Kindheit genug Märchen erzählt bekommen, um zu wissen, dass mein
Kuss sie nicht retten wird.
Gawain geht nicht auf meinen Sarkasmus ein. »Cailleach kann sie retten.«
»Die Hexe?«
»Sie ist keine Hexe!«
»Dann war nicht sie es, die all das hier zerstört hat?« Ich breite die Hände aus und blicke mich im Schlafgemach um. »Das Weiße Schloss soll einst der schönste Ort der Welt gewesen sein. Nun ist es ein Gefängnis.« Ich hole tief Luft. »Wo ist der Weg, der aus ihm herausführt?«
Gawain schiebt sein Kinn vor. »Das will ich eigentlich von euch wissen. Wie seid ihr drei ins Schloss gekommen?«
»Drei?« Plötzlich ist es mir unmöglich zu atmen.
»Du und sie«, Gawain deutet auf Solánge. »Und der andere Bursche.«
»Ash.« Meine Hände beginnen zu kribbeln und mir wird leicht schwindelig. »Wisst Ihr, wo er ist?«
Gawains Miene ist hart. »Erst verrätst du mir, wie ihr hierhergekommen seid. Alle Ein- und Ausgänge sind magisch verschlossen. Niemand außer den Steinernen entkommt diesen Mauern.«
Mit Steinernen meint er vermutlich die Schattenkreaturen. Ich erhebe mich vom Bett und stelle mich vor Gawain. Ich muss meinen Kopf etwas in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen.
»Lebt Ash noch?«, verlange ich zu wissen.
Gawain verschränkt die Arme.
»Lebt er noch?!«, wiederhole ich stur.
»Ja«, sagt Gawain und ein Gewicht fällt von mir ab, von dem ich gar nicht mehr gewusst habe, dass ich es mit mir schleppe. »Wo …«
»Nur, wenn du mir verrätst, wie ihr hierhergekommen seid.«
Mein erleichtertes Grinsen gefriert mir auf den Lippen. Wie soll ich dem Geliebten der Schwarzen Königin trauen? Um Zeit zu gewinnen, trete ich einen Schritt zurück und fahre mir mit der Hand über den Nacken.
»Wir besitzen einen Torstein«, sage ich schließlich entschlossen, obwohl Hoffnung und Zweifel gleichermaßen in mir toben.
Du überlässt dem Feind die Schlüssel nach Iriann
, flüstert ein angstvolles Stimmchen in mir.
Du hast keine andere Wahl
, raunt ein anderes.
Gawain tritt auf mich zu und packt meine Schultern fest. »Der
Torstein?! Trägst du ihn bei dir?«
»Ich? Nein. Eine Freundin wartet außerhalb des Schattenlabyrinths darauf, ein Portal zu öffnen, um uns zurückzuholen.«
»Wie soll das gehen?«
»Wir …« Ich senke die Lider. »Wir haben eine Zeit verabredet, zu der sie den Torstein aktivieren wird.«
»Verflucht!« Gawain stößt mich von sich und ich stolpere zwei Schritte bis zur Bettkante zurück und falle auf das Laken.
»Was habt Ihr?« Ich richte mich auf, beschließe aber, sitzen zu bleiben.
Gawain blickt mich ernst an. »Die Zeit vergeht hier anders als in der Welt da draußen. Du hast es selbst gesagt: Das Schloss ist vor dreihundert Jahren gefallen.«
»Aber …«
»Es ist die Magie! Ich wusste, dass wir hier außerhalb menschlicher Zeit existieren. Nur so konnte ich sie schützen. Seit dem Fall, seit ich sie gerettet habe … ich weiß, dass seither Tage, Wochen, vielleicht sogar Monate vergangen sind. Ich weiß es einfach. Mein Körper weiß es. Aber es fühlt sich an, als lebe … als vegetiere ich hier in einer einzigen, unendlich langen Nacht.«
Grauen erfasst mich. Ich habe geahnt, dass Solánge und ich uns bereits länger im Schattenlabyrinth aufhalten als nur einige Stunden. Aber dann mischt sich in mein Entsetzen so etwas wie Hoffnung. Wenn die Zeit hier anders vergeht als in der äußeren Welt, wartet Raven vielleicht noch immer auf das Grauen des Morgens und hat noch gar nicht versucht, uns wiederzufinden. Oder, erkenne ich mit kalter Gewissheit, sie ist schon vor Jahren gestorben und das Schattenlabyrinth ist längst versiegelt und zu meinem Grab geworden. Vielleicht sind die Menschen, die ich so sehr fürchte zu verlieren, schon lange tot.
»Bringt mich zu Ash«, verlange ich kraftlos.
Gawain sieht mich direkt an. Seine Augen glitzern, ob traurig oder verschlagen, vermag ich nicht zu sagen. »Ich bringe dich zu ihm. Wenn du mir schwörst, Cailleach zu erwecken.«