Ein steinerner Steg
Ich ignoriere das Kribbeln auf meinem Gesicht und meinem Nacken und den Schweiß, der sich bereits wieder auf meinen Händen und unter den Achseln bildet. Ich bin mir der Blicke von Gawain und dem Raven-Eichhörnchen nur allzu bewusst und das, was mein Retter mir über das Feld der Geister erzählt hat, geht mir fortwährend durch den Kopf. Nun muss ich selbst zum Retter werden. Ich habe keine Wahl, wenn ich Ash wiedersehen will. Also atme ich noch einmal tief durch, öffne meine Lider und tue den ersten Schritt.
Der Stein knirscht Unheil verkündend. Mein Magen schlägt sofort Purzelbäume und mein Gleichgewichtssinn spielt verrückt. Unsicher mit den Armen rudernd trete ich schnell wieder zurück auf festen Grund. Raven hüpft neben mich. »Ganz ruhig«, piepst sie. »Alles ist gut.«
»Nichts ist gut«, grummele ich. »Ich bin zu schwer.«
»Du musst Gewicht verlieren.« Gawain streckt mir auffordernd den Arm entgegen. »Lass die Ausrüstung da.«
»Ich komme mit.« Entschlossen hüpft Raven vor mir auf den Steg und blickt mich herausfordernd an.
Meine Mundwinkel zucken und erleichtert stelle ich fest, dass ich noch lächeln kann. Noch einmal überprüfe ich den festen Sitz des Wasserschlauchs. Meine Ausrüstung, selbst Sonnendorn, habe ich in Gawains Schutz gegeben. Das alte Schwert ist schwer, und es wird niemandem etwas nützen, wenn ich mit ihm in die Tiefe krache. Vom Wasser jedoch will ich mich nicht trennen. Falls ich all das überlebe und Ash finde, wird er Flüssigkeit dringender als alles andere brauchen.
Ich lasse mich auf alle viere nieder.
»So ist es leichter«, sage ich, mehr zu mir selbst als zu Raven oder Gawain, und krabbele auf Knie und Handballen gestützt nach vorne.
Erneut erfasst mich leichter Schwindel, als ich meine Finger auf den Steg lege. Diesmal kann ich ihn jedoch unterdrücken. Ich zwinge mich, an etwas anderes zu denken, an Ash, daran, dass ich unbedingt den Abgrund überqueren muss, komme, was wolle. Diesmal knackt der Stein nicht.
Es gibt kaum Platz auf dem schmalen Steg. Meine Oberschenkel reiben aneinander, so eng muss ich die Beine zusammendrücken, um mich vorwärtszutasten. Raven tänzelt unbeschwert vor mir. Immer wieder schiebt sie ihren Schweif zur Seite, um sich nach mir umzublicken.
»Keine Sorge«, versuche ich einen Scherz. »Wenn ich falle, wirst du das hören.«
Sie blitzt mich nur böse an, als fände sie das gar nicht lustig, und rennt ein Stück voraus. Noch einmal grinse ich und unvorsichtigerweise senke ich dabei den Kopf. Versehentlich spähe ich in den lichtlosen Abgrund. Die Erinnerung an das reißende Seil ist wieder da, an den gehässigen Ausdruck auf Gwyns Gesicht, an meinen Fall.
Ich verharre auf der Stelle und schließe die Augen. Mit all meinen Sinnen suche ich danach, den festen Stein unter mir zu fühlen. Er wird halten. Ich werde nicht stürzen. Ich könnte stürzen.
Wenn ich mir einer Tatsache sicher geworden bin, dann, dass ich nicht sterben will.
Ich atme ein und ich atme aus.
»Du hast es fast geschafft«, ruft mir Gawain Mut zu. Es ist eine Lüge. Ich weiß, dass ich den Steg noch nicht einmal halb überquert habe. Aber es hilft. Ich kann das hier schaffen.
Ich blinzele, blicke an Raven vorbei nach vorne und ignoriere mein klopfendes Herz. Dann schiebe ich mich weiter, eine Handbreit nach der anderen. Alles in mir sehnt sich danach, die Strecke so schnell wie möglich zurückzulegen und wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Ich weiß jedoch, dass ich es nur mit Geduld und der notwendigen Sorgfalt schaffen kann, am anderen Klippenrand anzukommen.
Dieser besteht nicht aus dem schwarzen, knochenartigen Material, aus dem der Wall beschaffen ist, den wir vom See aus erklettert haben. Die Felsen sehen aus wie gewöhnliche Steine, teils von vertrockneten Flechten überwuchert. Ich erkenne dunkle Flecken auf dem Stein, farbige Einschlüsse, wie ich sie auf dem Hügelkamm entdeckt habe, von dem aus Vater und ich auf der Reise nach Ionnach zum Schattenlabyrinth hinüberblickten. Ist das wirklich erst einen halben Sommer her?
Vielleicht, überlege ich, handelt es sich bei dem Felsplateau vor mir um einen Teil eben jenes Hügels. Um dessen Gebeine, die tief in die Erde hineinragen. Der Gedanke gibt mir seltsamerweise Kraft, obwohl dies bedeuten würde, dass sich das Schattenlabyrinth unterirdisch viel weiter ausgebreitet hat, als irgendjemand das bisher vermutet hat.
Stück für Stück kämpfe ich mich weiter. Ich drücke meine Handflächen fest auf den Stein. Stets blicke ich nun nach vorne, meinem Ziel entgegen.
Als wir fast auf der anderen Seite angelangt sind, verharrt Raven plötzlich in der Bewegung. Ich runzele die Stirn und setze schon zu einer Frage an, da sehe ich es auch: Goldfarbener Nebel wogt uns entgegen, so fein, dass ich ihn im Zwielicht beinahe nicht gesehen hätte. Wie Wellen an ein Ufer branden, so rollt die Nebelbank auf uns zu, zieht sich dann wieder zurück. Ein Teil von ihr ergießt sich von der Klippe in den Abgrund. Ein anderer Teil schwappt uns auf dem Steg entgegen. Mit jeder wellenartigen Bewegung rollt der glitzernde Dunst näher heran.
»Weiter«, sage ich schließlich laut und setze mich wieder in Bewegung. Wenn ich zu Ash will, darf ich mich von Nebel nicht aufhalten lassen.
Raven schreit spitz auf, als die erste Woge sie umspült, und hüpft ein paar Schritte zurück.
»Was ist?!«
»Ich …« Mit weit aufgerissenen Augen blickt sie mich an. »Mein Vater. Plötzlich war er da. Er hat nach mir gerufen.«
»Ich …« … habe nichts gehört
, will ich sagen. Doch da fällt mein Blick auf ihre Pfoten. Das Eichhörnchenfell, das ihre Vorderläufe
bedeckt, sieht stellenweise nicht mehr flauschig und rostbraun aus, sondern steif und hellgrau, wie vom Frost überzogene Grashalme.
Raven piepst erschrocken. Sie schüttelt die Pfoten, als könne sie die Flecken abschütteln.
»Was ist das?«, frage ich und spüre, wie mein Körper zu zittern beginnt.
»Ich weiß es nicht.« Raven klingt hundsmiserabel. »Ich glaube, es ist … Hexenbrand.«
»Raven!«, warne ich sie, weil erneut der goldfarbene Dunst auf uns zurollt. Panisch springt sie einen Schritt in meine Richtung und entkommt gerade so den seltsamen Dunstfingern.
»Bist du dir sicher?«, frage ich, als der Nebel sich zurückzieht und mein Herz weniger schnell klopft. Erst jetzt bemerke ich, dass auch ich ein paar Handbreit auf dem Steg zurückgekrochen bin.
Raven schüttelt ihren kleinen Eichhörnchen-Kopf und kratzt mit ihren Krallen am grau verfärbten Fell. »Ich bin mir nicht sicher. Aber es fühlt sich an …« Ängstlich blickt sie mir ins Gesicht. »Was ist, wenn es der Hexenbrand ist? Wenn es sich ausbreitet?«
»Dann lässt du das Eichhörnchen gehen. Das ist nicht dein Körper. Du bist in Sicherheit.«
»Aber wie finde ich dann zu dir?«
»Du kannst das Portal an der Stelle öffnen, an der Gawain auf uns wartet.«
Sie nickt. »Jetzt gleich?«
»Nein. Erst muss ich Ash holen.«
Das kleine Eichhörnchen blickt mich an, als habe ich den Verstand verloren. »Du kannst dort nicht hinüber!«
»Ich muss!«
»Was ist, wenn es wirklich Hexenbrand ist? Du wirst dich anstecken. Ash ist inzwischen …«
»Sprich es nicht aus!«
»Aber …«
»Nein, Raven. Ich muss, hörst du. Ich habe keine Wahl.« Ich räuspere mich und versuche, Haltung anzunehmen und etwas mehr Selbstsicherheit auszustrahlen, was auf einem Steg über einem bodenlosen Abgrund nicht gerade leicht ist. »Der Kluge wählt seine
Kämpfe stets selbst«, wiederhole ich den Leitspruch meines Vaters. »Dies ist
mein Kampf.«
Raven öffnet den Mund, um etwas zu erwidern – mir zu widersprechen, nehme ich an –, aber zu meiner eigenen Überraschung tut sie es nicht. Sie lässt den Kopf hängen und nickt zweimal. »Sei vorsichtig«, sagt sie dann traurig. »Es ist nicht nur der Hexenbrand. Als der Nebel mich berührt hat, habe ich meinen Vater nach mir rufen gehört.«
»Gawain hat uns gewarnt: Die Geister gaukeln dir Dinge vor.«
»Die dich innerlich verbluten lassen«, fährt Raven fort. Sie hebt den Kopf und blickt mich aus weit aufgerissenen Augen an. »Es war wieder wie damals, in der Hütte. Er hat mit dem Arm ausgeholt. Er wollte mich schlagen … Ich weiß, dass das nur der Nebel war und nicht echt. Aber es fühlt sich echt an! Viel zu echt.«
Es hätte so viel zu sagen gegeben. Ich weiß selbst, wie irrsinnig mein Vorhaben ist. Ein kluger Mensch hätte Raven vermutlich gebeten, ihren Eichhörnchenkörper zu verlassen und mit dem Torstein ein Portal nach Hause zu öffnen, hier und jetzt. Bevor das Schattenlabyrinth versiegelt wird. Ehe Gawain mich dazu zwingt, die Schwarze Königin zu erwecken. All die Gefahr, die an diesem Ort schlummert, wäre von einem Augenblick auf den anderen vergessen.
Ich weiß jedoch, wenn ich das tue, wird mein Herz in so viele winzige Splitter zerbrechen, dass ich, selbst wenn es im Lauf der Jahre heilt, nie wieder ganz sein kann. Ich weiß, dass es, sogar wenn es mir gelingt, äußerlich aufrecht und stark zu wirken und mich innerlich einer Taubheit hinzugeben, die mich vor meinen Gefühlen schützt, immer einen Teil in mir geben wird, der lautlos schreit. Und das macht mir mehr Angst als die geisterhaften Visionen und der Hexenbrand vor mir.
Den Rowan, der mit seinen Eltern in diesem Sommer nach Ionnach gekommen ist, gibt es längst nicht mehr. Mein Schicksal liegt auf der anderen Seite der Schlucht, also setze ich mich wieder in Bewegung.
»Kehr zurück zu Gawain und warte dort auf uns. Halte so lange aus, wie du kannst«, bitte ich Raven, als ich direkt vor ihr knie. »Wenn der Hexenbrand sich ausbreitet: Lass diesen Körper gehen. Versprich es mir.«
Raven nickt stumm und wir blicken uns an. Tränen schimmern in den schwarzen Knopfaugen des kleinen Nagers. »Viel Glück«, piepst sie. Dann macht sie sich auf den Rückweg, sorgfältig darauf achtend, mich nicht zu berühren. Trotz der schrecklichen Situation muss ich schmunzeln. Raven will mich nicht berühren, um mich nicht anzustecken. Dorthin, wo ich gehe, wird mich der Nebel ohnehin bald umspülen.
Es gibt keine Möglichkeit, das unbeschadet zu überstehen. Es gibt jedoch auch kein Zurück mehr.