Das Feld der Geister
»Nein!«, schreie ich. »Nein!«
Alles umsonst. So weit gekommen. So viel gewagt. Und alles umsonst. Ich sacke in mich zusammen. Die schmerzhafte Erkenntnis, ihn verloren zu haben, zerreißt mein Herz.
»Rowan?«, erklingt Ashs Stimme da plötzlich, so brüchig und so schwach, dass ich sie beinahe überhört hätte. Das Geisterheer brüllt auf. Ich blicke auf Ash hinunter. Aber sein wunderschönes Gesicht ist immer noch totenstarr.
»Rowan. Bist du …« Ash spricht, aber er bewegt nicht seine Lippen dabei. »Hier?«
Da begreife ich. Zorn kocht in mir hoch. Die Vision des toten Ashs vor mir zerstiebt wie Staub im Wind.
»Ash!«, brülle ich über die Nebelgeister hinweg. »Ash! Wo bist du?«
Ich erkenne, dass ich noch immer an der Stelle knie, an der ich zu Boden gesunken bin. Nur in der Vision bin ich zu Ash gekrochen. Der Felsen, an dem die gekrümmte Gestalt liegt, ist immer noch ein gutes Stück von mir entfernt. Und die Gestalt regt sich.
»Ash!«, rufe ich erneut.
»Rowan …«, antwortet er leise. Selbst über die Entfernung hinweg kann ich sehen, wie ausgemergelt er ist. Dennoch gibt mir sein Anblick Kraft. Ich stemme mich hoch und stolpere auf ihn zu. Die Geister brüllen und ich muss mich gegen sie stemmen wie gegen einen starken Wind. Fetzen von Visionen schwemmen meinen Kopf. Willow wirft mir vor, dass Mutter aus Schmerz über meine Sünden an einem gebrochenen Herzen gestorben ist. Fiona warnt mich, dass ich mich für Ash ins Unglück stürze. Ich ignoriere sie. Vielleicht sind das tatsächlich Möglichkeiten, die die Zukunft für mich bereithält, aber
durch Ash habe ich begriffen, dass alles auch anders verlaufen könnte. Das Schicksal kann auch Gutes für uns bereithalten.
An diesen Gedanken klammere ich mich, als ich die letzten Schritte zu ihm überwinde und neben ihm auf die Knie falle.
»Nicht«, bittet mich Ash, als ich ihn in meine Arme schließen will. »Hexenbrand. Vielleicht habe ich …«
Ich warte nicht ab, was er sagen will, sondern ziehe ihn an mich. Er stöhnt leise auf, als ich ihn, so fest ich kann, umarme und ihn an mich drücke. Mich an ihn drücke. Tränen laufen mir übers Gesicht.
Ash zögert einen Herzschlag lang, dann erwidert er meine Umarmung. »Ich wusste, dass du kommen würdest. Ich wusste, dass du mich liebst.«
Ein Kloß bildet sich in meiner Kehle. Ich will ihm so viel sagen, doch ich bringe kein Wort heraus. Ich beginne, seinen Kopf, den er auf meine Schulter gelegt hat, mit Küssen zu bedecken. Ich will ihn nie wieder loslassen.
»Ich liebe dich auch«, murmele ich in sein Haar. Um uns herum droht die Welt unterzugehen und doch halte ich ihn im Arm und bin, für diesen Moment, einfach nur froh. Er ist mir so nah, dass ich durch unsere schmutzigen Hemden hindurch seinen Herzschlag spüren kann. Wir sind dreckig und verschwitzt, aber auch das ist egal.
Es dauert eine Weile, bis ich begreife, dass das Raunen der Geister um uns herum verstummt ist. Ohne Ash loszulassen drehe ich den Kopf und stelle überrascht fest, dass die leuchtenden Gestalten verschwunden sind. Nur noch hier und da schwebt feiner goldener Nebel über dem Boden.
»Wie …«, murmele ich.
»Hoffnung«, antwortet Ash. »Wenn wir uns haben, sind wir stark genug, uns der Angst zu stellen. Dagegen kommen sie nicht an.«
Und vielleicht hat er recht.
Unwillig lösen wir uns voneinander. Wir können nicht ewig hier im düstergrünen Zwielicht sitzen. Ich greife ihn an den Schultern und drücke ihn auf Armeslänge von mir.
»Du bist ein Idiot«, werfe ich ihm vor. Die Worte klingen liebevoller, als ich es beabsichtigt habe.
Ash verzieht die Lippen zu einem schwachen, schiefen Grinsen. »Aber ich bin dein Idiot.« Kurz wird sein Blick unsicher. »Wenn du willst?«
Ich blicke ihm tief in die Augen. Dann beuge ich mich vor und antworte ihm mit einem Kuss. Seine Lippen sind rissig und aufgesprungen und sein Mund fühlt sich trocken an. Und doch versinke ich sofort wieder in dem wunderbaren Gefühl, zu Hause angekommen zu sein.
Es fällt mir schwer, ihn loszulassen, aber irgendwann muss ich es tun. Ash ist zu geschwächt und die Zeit läuft uns davon.
»Hast du Wasser?«, krächzt er, nachdem wir Atem geschöpft haben.
»Langsam«, weise ich ihn an. »Einen Schluck nach dem anderen.«
Ash trinkt, bis der Wasserschlauch fast leer ist. Verlegen reicht er ihn dann mir. »Ich war so durstig, dass ich das Wasser von den Wänden abgeleckt habe«, gesteht er und schüttelt sich kurz bei der Erinnerung.
»Wie konntest du auch ohne Wasser hierherkommen?«
Er blickt mich an und wirkt ein wenig verletzt. »Ich war mir sicher, dass du mir folgen würdest. Als Stunde um Stunde verstrich …«
»Die Zeit vergeht hier anders«, erkläre ich. Kurz habe ich überlegt, ihm zu verraten, dass seine Schwester mich begleitet hat, aber dazu ist später noch Zeit. »Warum bist du den Feuerfunken hierher gefolgt?«
»Du meinst diese Glühwürmchen?« Er zuckt mit den Schultern. »Was hätte ich sonst tun sollen? Ich hoffte, durch sie finde ich einen Ausgang.« Er lehnt sich mit dem Rücken an den Felsen. »Ich begann tatsächlich zu zweifeln, dass du mir nacheilen würdest.«
Ich hole tief Luft. Mir wird erst klar, was ich sagen werde, als ich es ausspreche. »Du hattest recht, mit allem. Dass wir gemeinsam stärker sind als die Angst. Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt. Aber wenn wir es hier herausschaffen, dann … will ich sie mit dir verbringen.«
Ash streckt die Hand nach mir aus, aber kurz ehe seine Finger die meinen umschließen, zuckt er wieder zurück. »Was ist, wenn ich
bereits unter Hexenbrand leide?«
»Du hast mich dazu gezwungen, dir in diese Hölle zu folgen. Und darüber machst du dir Gedanken?« Entschlossen greife ich nach seiner Hand. »Glaubst du, du bist stark genug, mit mir über den Steinsteg zurückzuklettern?«
Ash wackelt mit dem Kopf. »Warum öffnest du nicht ein Portal und bringst uns zurück nach Ionnach? Oder Gwilen?«
Blut schießt mir ins Gesicht. »Weil ich den Torstein nicht dabeihabe.«
Es dauert kostbare Augenblicke, bis ich Ash berichtet habe, was alles geschehen ist, seit er sich ins Portal gestürzt hat. Mit jedem Satz werden seine Augen größer.
Als ich geendet habe, drücke ich ihm noch einmal den Wasserschlauch in die Hand, damit er ihn austrinken kann. Im Anschluss daran machen wir uns auf den Rückweg. Auch die letzten Nebelfetzen auf dem Feld der Geister sind verschwunden. Ash ist noch immer schwach auf den Beinen. Wir wissen nicht, wie viel Zeit er im Schattenlabyrinth verbracht hat. Er stützt sich schwer auf mich, als wir zum Steinsteg gehen.
Kurz bin ich versucht, allein über den furchtbaren Abgrund zu klettern und Raven zu bitten, den Eichhörnchenkörper aufzugeben, damit sie ein Portal zu Ash öffnen kann, um ihn nach Hause zu holen. Aber ich weiß nicht, ob die Geister erneut auftauchen, sobald ich Ash allein lasse. Und ich bringe es nicht über mich, ihn nun wieder allein zu lassen, nachdem ich ihn gerade erst gefunden habe. Nervös beobachte ich also, wie er sich vor mir über den steinernen Steg schiebt. Er lässt sich auf alle viere nieder und kriecht auf Händen und Knien voran.
Immerhin lenkt mich die Angst um ihn so sehr davon ab, in die Tiefe zu starren, dass ich überrascht und erleichtert aufatme, als wir die schwarze Knochenklippe wieder erreichen, wo Raven und Gawain uns bereits erwarten. Wir haben es geschafft.
Nun muss ich nur noch mein Versprechen Gawain gegenüber einlösen, und dann können wir alle endlich nach Hause. Mit der Schwarzen Königin und ihrem Geliebten.