›Nicht nur Guatemala ist verrückt geworden‹, dachte Dr. Efrén García Ardiles. ›Nicht nur ich und alle meine Landsleute sind verrückt. Die ganze Welt ist ein Irrenhaus. Die USA vor allem.‹ Er machte das Radio aus. Die Parade war vorbei, und wie der Sprecher sagte, hatten Tausende von US-Amerikanern Oberst Carlos Castillo Armas zugejubelt, der dort oben in New York, in einem Cabriolet stehend, zutiefst gerührt und dankbar für den Konfettiregen die Huldigungen entgegennahm, neben ihm seine Frau, die vortreffliche Doña Odilia Palomo de Castillo Armas …

Es war Anfang November 1955, und abends wurde es kühl; nachmittags kam manchmal ein starker Wind auf und verscheuchte die Vögel, sie kamen dann herab, um aus den Bächen und Pfützen im alten Teil von Guatemala-Stadt zu trinken. Aber nicht die Witterung war der Grund, weshalb Dr. García Ardiles so demoralisiert war, auch nicht seine familiäre Situation, ebenso wenig, dass seine Frau ihn vor acht Monaten verlassen hatte und jetzt die Geliebte des Präsidenten Castillo Armas war. Nicht mal das Weinen dieses kaum fünfjährigen Kindes im Zimmer nebenan, eines Kindes, das seinen Namen und seinen Nachnamen trug und allem Anschein nach sein Sohn war. Auch nicht die Bibliothek, die diese neuzeitlichen Inquisitoren dezimiert hatten. Drei Polizisten waren gekommen, um sie zu säubern, zwei in Zivil, einer in Uniform, und sie erklärten ihm, sein Name stehe auf einer der »schwarzen Listen«, sie hätten Befehl, das Haus zu durchsuchen. Die mitgenommenen Bücher waren ein absurdes Kunterbunt, es verriet nur die Ignoranz dieser armen Teufel, die Dummheit ihrer Chefs. Nein, in die Resignation trieb ihn, dass Castillo Armas’ Reise durch die USA, wie er soeben im Radio gehört hatte, ein Riesenerfolg war.

Nach dem Sieg der selbsternannten Befreier, Ende 1954, hatte man Dr. García Ardiles zwei Wochen in einer Kaserne eingesperrt, vorher war er zwei Wochen in einem Internierungslager gewesen, und wie durch ein Wunder (oder auf Befehl von Castillo Armas persönlich?) hatte man ihn verschont und nicht mit Fußtritten und Stromstößen traktiert, anders als die Gewerkschaftsführer und analphabetischen Bauern, die man so zum Schreien brachte oder tötete und die überhaupt nicht verstanden, was da passierte. In der Festung San José de Buena Vista wurde nicht gefoltert, nur erschossen. In den beiden Wochen dort zählte Efrén mindestens ein halbes Dutzend Exekutionen. Oder waren es Scheinhinrichtungen, um die politischen Gefangenen zu terrorisieren? Marta, seine Frau, begrüßte ihn nicht mal richtig, als er wieder nach Hause kam. Plante sie vielleicht schon ihre Flucht? Monate später war sie dann tatsächlich fort.

In nur zwei Wochen hatte Guatemala sich gehäutet. Jede Spur der Amtszeit von Jacobo Árbenz schien ausgelöscht zu sein, und hervorgetreten war ein Land wie im Fieber, in dem die Jagd auf echte oder vermeintliche Kommunisten zur nationalen Obsession wurde. Wie viele Menschen hatten in den lateinamerikanischen Botschaften Zuflucht gesucht? Hunderte, vielleicht Tausende. Und fast drei Monate weigerte sich die Regierung – auf Verlangen der CIA, hieß es –, den Asylsuchenden freies Geleit zu gewähren, da sie, so ihr Argument, »Mörder und kommunistische Agenten« seien, außerdem könnten sie »kompromittierende Dokumente mitnehmen, die die Pläne der Sowjetunion offenlegen, aus Guatemala einen Satellitenstaat zu machen«. Tag um Tag, Woche um Woche hatten die Marktfrauen, angeführt von Concha Estévez – erst Unterstützerin von Árbenz und nun eine fanatische Anhängerin von Castillo Armas –, vor den Botschaften von Mexiko, Chile und Brasilien demonstriert und diese aufgefordert, die Asylsuchenden der Polizei zu übergeben, damit man sie für ihre Verbrechen in Guatemala verurteilte. Die Apostolische Nuntiatur gab bekannt, dass sie die Leute ausliefern werde, verzichtete aber darauf, offenbar nach Protesten der Botschafter von Mexiko, Brasilien, Chile und Uruguay. Auch hieß es, dass Hunderte oder Tausende querfeldein geflüchtet seien oder sich bei Freunden oder im Wald versteckt hätten, wo sie darauf warteten, dass die Hysterie abflaute. Am 24. Juni erschien in der Tageszeitung Diario de Centroamérica eine Meldung, wonach in Chiquimula, Zacapa und Izabal mehrere Mitglieder der Agrarkomitees ermordet worden seien, und Ende 1954 veröffentlichte das Nationalkomitee zur Verteidigung gegen den Kommunismus eine Liste mit zweiundsechzigtausend Personen, die in Guatemala für die Sowjetunion arbeiteten, eine Liste, die auf bis zu zweihunderttausend anwachsen könne. Der Botschafter von Mexiko, Primo Villa Michel, protestierte scharf, als er sich für einige der Flüchtlinge einsetzte und ihm der neue Erziehungsminister, Jorge del Valle Matheu, mit unverhohlener Dreistigkeit antwortete: »Wir sind eine Diktatur, und wir machen, was wir wollen.«

Alle möglichen Gerüchte waren im Umlauf, nichts davon überprüfbar, so etwa, die Regierung hätte Maschinenpistolen an die Grundbesitzer ausgegeben, auf dass sie die Justiz selbst in die Hand nähmen, sollten die Bauern weiterhin Agrarreformland besetzt halten, obwohl keines mehr verteilt würde und die Enteignungen rückgängig gemacht seien. Was war geworden aus diesen Zigtausenden, die noch vor wenigen Jahren in den Parque Central geströmt waren und erst der Oktoberrevolution und dann Jacobo Árbenz zugejubelt hatten? Wie konnte die Meinung eines ganzen Volkes derart umschlagen? García Ardiles verstand es nicht.

Kurz nach seiner Machtübernahme hatte Oberst Castillo Armas das Nationalkomitee zur Verteidigung gegen den Kommunismus geschaffen und als Leiter José Bernabé Linares eingesetzt, einen Killer und Folterer, der während der dreizehnjährigen Diktatur des Generals Jorge Ubico Castañeda an der Spitze der Geheimpolizei gestanden hatte, allein bei der Nennung seines Namens lief es älteren Guatemalteken kalt über den Rücken. Das Komitee organisierte die Bücherverbrennungen auf der Straße, ein Ritual, das sich wie eine Epidemie über das ganze Land ausbreitete. Die Kolonialzeiten, als die Inquisition mit Feuer und Schwert über den rechten Glauben wachte, schienen wieder aufzuleben. Sämtliche öffentlichen Bibliotheken und einige private, so auch seine, waren von marxistischen Lehrbüchern und antikatholischen oder pornografischen Werken gesäubert worden (bei ihm hatte man vorsichtshalber alle Romane auf Französisch mitgenommen), auf dem Index standen auch Gedichte von Rubén Darío und die Bücher von Miguel Ángel Asturias und Vargas Vila. In der Festung San José de Buena Vista hatten junge Offiziere García Ardiles Tag und Nacht vernommen, sie wollten wissen, welche Verbindungen er zum atheistischen Kommunismus und zu Russland habe. »Ich bin in meinem Leben noch keinem einzigen Kommunisten begegnet«, hatte er in diesen zwei Wochen Dutzende Male geantwortet. »Und wenn ich mich recht erinnere, auch noch keinem Russen.« Am Ende glaubten sie ihm, oder auch nicht, aber sie ließen ihn frei, vielleicht auf Befehl von oben. Ob Castillo Armas, sein alter Fußballfreund, es persönlich angeordnet hatte? Der Antikommunismus, der das Land nun im Griff hatte, war wie eine dieser mittelalterlichen Plagen, die über die europäischen Städte gekommen waren und sie in den Wahnsinn trieben. Nach seiner Entlassung aus der Kaserne war es noch schlimmer geworden.

Die neue Regierung hatte der United Fruit bereits alles landwirtschaftlich ungenutzte Land, das unter der Regierung Árbenz nach dem Agrarreformgesetz verstaatlicht worden war, zurückgegeben und die Steuern auf das Eigentum der Großgrundbesitzer abgeschafft, egal ob es Einheimische betraf oder Ausländer. Polizei und Armee räumten, notfalls mit Gewalt, die Grundstücke, die man einer halben Million Bauern gegeben hatte, und auch die landwirtschaftlichen Kooperativen wurden aufgelöst, die Bauernverbände und sogar – völlig absurd – zahlreiche Laienbruderschaften, die in den letzten zehn Jahren gegründet worden waren und sich der Schutzheiligen in den Dörfern annahmen. Erzbischof Mariano Rossell y Arellano hatte für seine Unterstützung der Rebellen eine Auszeichnung erhalten, und den Christus von Esquipulas hatte man, geschmückt mit den entsprechenden Insignien in Gold, zum »Oberbefehlshaber der Armee der nationalen Befreiung« ausgerufen. In Guatemala drehte sich das Rad der Geschichte in Windeseile zurück zur Stammesgesellschaft und in die Lächerlichkeit. ›Dürfen wir bald wieder Sklaven halten?‹, fragte sich Dr. Efrén García Ardiles, und er fand den Gedanken gar nicht lustig. Die Verfolgung all jener, die in irgendeiner Weise mit den Regierungen von Juan José Arévalo und Jacobo Árbenz zusammengearbeitet hatten, ging mit Hochdruck weiter, auch wenn Arévalo im Laufe der Monate diskret auf Distanz zu Árbenz gehen sollte. Im Ausland gerieten die guatemaltekischen Exilanten auf Betreiben der USA zunehmend in Bedrängnis, angefangen beim ehemaligen Präsidenten Jacobo Árbenz. Viele Staaten weigerten sich, ihnen eine Arbeitserlaubnis zu geben, außerdem ersuchte die Regierung von Castillo Armas in immer zahlreicheren Fällen um Rückführung der Exilierten, denen man Diebstahl und andere Verbrechen zur Last legte.

Dr. García Ardiles hatte seine Stelle im Krankenhaus San Juan de Dios verloren, und in seine Privatpraxis verirrten sich auch keine zahlenden Patienten mehr. Wegen seiner politischen Anschauungen hatte er früher schon einen schlechten Ruf, aber nach der Inhaftierung war sein Ansehen vollends dahin. In die Häuser der besseren guatemaltekischen Familien wurde er nicht mehr eingeladen. Oder hatte ihn die überstürzte und nur im kleinsten Kreis geschlossene Ehe mit Marta, der kleinen Tochter von Dr. Borrero Lamas, zu einem Aussätzigen gemacht? Beides, keine Frage. Er bemühte sich um eine Stelle im neu erbauten Roosevelt-Krankenhaus, erfolglos. Seit einem Jahr praktizierte er nur noch kostenlos, für arme und insolvente Menschen. Er lebte von seinen Ersparnissen und verkaufte die wenigen Wertsachen, die es im Haus noch gab. Zum Glück war seine Mutter in einem geistigen Zustand, dass sie nicht mehr wahrnahm, was um sie herum geschah.

Efrén war einmal praktizierender Katholik gewesen, und als junger Mann hatte er sich mehrmals zu Exerzitien in das Seminar der Maristenbrüder zurückgezogen. Doch seit einem Jahr und ein paar Monaten, genauer gesagt seit dem 18. Juni 1954, als die Truppen von Castillo Armas’ Befreiungsarmee über die honduranische Grenze in Guatemala einfielen und die kleinen Garnisonen im Osten angriffen, während die sulfatos, die aus Nicaragua kommenden Flugzeuge dieser Armee, die guatemaltekischen Streitkräfte und die Stadt bombardierten, ging Efrén nicht mehr zur Beichte oder zur Kommunion. Und seit seine junge Ehefrau ihn verlassen hatte, glaubte er auch nicht mehr an Gott. Ihn widerte an, auf welch erbitterte und schaurige Weise die katholische Kirche und vor allem Erzbischof Rossell y Avellano diesen Kreuzzug in ihren Publikationen und von der Kanzel herab befeuerten. Und entsetzt hatte er zur Kenntnis genommen, was der Erzbischof mit dem Schwarzen Christus von Esquipulas anstellte. Selbstverständlich lobte die Kirche auch in den höchsten Tönen, dass Castillo Armas’ Regierung gegen die Freimaurer zu Felde zog; mit einem eindrucksvollen Militäraufgebot hatte sie die Großloge von Guatemala geschlossen. Efrén wusste mittlerweile nicht mehr, ob er überhaupt noch an etwas glauben konnte, und statt wie früher Augustinus und Thomas von Aquin zu lesen, vertiefte er sich jetzt in Nietzsche, einen der Autoren, die aus unerfindlichen Gründen von den Flammen verschont geblieben waren. ›Wir sind alle verrückt‹, dachte er immer wieder. Wie konnte es sein, dass die Regierungen von Juan José Arévalo und Jacobo Árbenz Guzmán, die sich nichts anderes vorgenommen hatten, als mit dem Feudalismus in Guatemala Schluss zu machen und das Land in eine liberale und kapitalistische Demokratie zu überführen, bei der United Fruit und in den USA eine solche Hysterie auslösten? Dass sich die guatemaltekischen Grundbesitzer empörten, konnte er verstehen, diese Leute steckten in der Vergangenheit fest; auch die Frutera verstand er, schließlich hatte die noch nie Steuern zahlen müssen. Aber Washington! War das die Demokratie, die die Gringos für Lateinamerika im Sinn hatten? War das die Demokratie, die Roosevelt in seinen Reden zur »Politik der guten Nachbarschaft« einforderte? Eine Militärdiktatur im Dienst einer Handvoll raffgieriger und rassistischer Großgrundbesitzer und eines Yankee-Konzerns? Dafür hatten die sulfatos Guatemala-Stadt bombardiert? Dutzende Unschuldige getötet und verwundet?

Das alles hatte sein Leben kaputt gemacht, hatte seinen Glauben, seine Hoffnungen hinweggefegt. Oder hatte es vorher schon begonnen, wegen dieses unseligen Abenteuers mit der Tochter seines Studien- und Busenfreundes? Ja, das war der Anfang vom Ende gewesen. Aber war es seine Schuld? War er nicht vielmehr ein Opfer dieser Kleinen, die ihn, wenn auch unbewusst, aufgegeilt und ihm den Kopf verdreht hatte? Was war Miss Guatemala, ein unschuldiges Mädchen oder ein teuflisches Biest? Manchmal schämte er sich seiner selbst, weil er nach Ausflüchten suchte für das, was schlicht und einfach der Übergriff eines alten Lüstlings auf ein Kind gewesen war. Dann nagten die Gewissensbisse an ihm. Seit dieser albernen Hochzeit auf der Finca in Chichicastenango hatte er Dr. Arthur Borrero Lamas nicht wiedergesehen. Aber er wusste, dass sein Freund sich von der Welt abgeschottet hatte, selbst seine Kanzlei hatte er geschlossen, und aus dem Haus ging er nur noch für seine Juraseminare an der San Carlos. Bei gesellschaftlichen Anlässen sah man ihn fast nicht mehr, und natürlich war auch Schluss mit den Rocambor-Runden, zu denen die Freunde am Samstagnachmittag bei ihm zusammenkamen. Bevor Marta sich davonmachte und ihn und das Kind allein zurückließ, hatten sie in getrennten Zimmern geschlafen, und seit der Trauung durch Pater Ulloa hatten sie sich kein einziges Mal geliebt. War das eine Ehe?

In diesen Tagen, in denen der Präsident der Republik, Oberst Carlos Castillo Armas, zu einem Staatsbesuch in den USA weilte, war er noch niedergeschlagener, seine Laune auf einem Tiefpunkt. Von früh bis spät berichteten die lokale Presse und der Rundfunk über die Reise, als wäre es ein Weltereignis. Hatte ihn das in die Verzweiflung gestürzt? Warum? An welchen Seelennerv rührte gerade dieses Ereignis? Gab es nicht tausendmal Schlimmeres auf der Welt? Er hatte im Radio und in den Zeitungen den phänomenalen Empfang verfolgt. Nicht nur Guatemala war irre geworden, die USA genauso. Oder hatte nur er den Verstand verloren und begriff nicht mehr, was da passierte, so wie die halbe Million Indios, die von Árbenz Land bekommen hatten und denen man es jetzt wieder wegnahm, indem man auf sie schoss? Da Präsident Eisenhower einen Herzanfall erlitten hatte und im Krankenhaus lag, kam Vizepräsident Richard Nixon zum Washingtoner Flughafen, um Castillo Armas und seine Frau zu empfangen, umgeben von einem ganzen Tross US-amerikanischer Amtsträger. Dann die üblichen einundzwanzig Salutschüsse für den guatemaltekischen Staatschef und die Ehrung mit einer Militärparade, zu der die Menschen in Scharen strömten. Sowohl in den Ansprachen als auch in den Zeitungen – sogar in der New York Times! – war die Rede von Castillo Armas als einem Helden und Retter der Freiheit in Mittelamerika, einem Vorbild für die Welt. In allen Begrüßungsreden hieß es so in diesem großen Land im Norden. Wenn Castillo Armas auf die Straße trat, wurde geklatscht, die Leute baten um ein Autogramm, machten Fotos, das Volk dankte ihm dafür, dass er seine Heimat befreit habe. Aber befreit von was, von wem? Dr. García Ardiles wurde schwummrig, und er musste die Augen schließen. Wie konnte es sein, dass dieser unbedeutende Wicht und seine angebliche Revolution zur Befreiung des Landes die USA derart beeindruckten? Und nicht nur die Regierung, angesehene Universitäten wie die Fordham und die Columbia hatten ihm Doktortitel honoris causa verliehen, und in den zwei Wochen seines offiziellen Besuchs brachte man ihn auch nach Colorado, damit Präsident Eisenhower ihn im Fitzsimons-Krankenhaus der Armee persönlich umarmen und beglückwünschen konnte, schließlich habe er Guatemala den Krallen des russischen Bären entrissen. Wie viele Kommunisten gab es im Land außer den paar wenigen von der Guatemaltekischen Partei der Arbeit, die kaum auffielen im Kongress mit seinen sechzig Abgeordneten, in diesem Parlament, das man nach dem Sieg der Konterrevolution, und nichts anderes war die angebliche Befreiungsrevolution, aufgelöst hatte? Er wusste nicht, wie viele, aber es konnte nur eine unbedeutende Minderheit sein. Dr. García Ardiles hatte die Rede ausgeschnitten, die Richard Nixon beim offiziellen Abendessen hielt und worin er den »tapferen Soldaten«, der den Aufstand seines Landes gegen »eine verlogene und korrupte kommunistische Diktatur« angeführt habe, willkommen hieß. Welcher Aufstand? Welches Volk hatte sich erhoben? In Washington hatte man Castillo Armas im Kongress empfangen, und die Abgeordneten und Senatoren hatten ihn bei einer gemeinsamen Sitzung mit stürmischem Beifall begrüßt.

War die Historie eine solch kolossale Verdrehung der Wirklichkeit? Die Verwandlung realer, greifbarer Tatsachen in Mythen und Fiktion? War das die Geschichte, die man las und studierte, mit ihren bewunderten Helden? Alles nur ein Gespinst aus Lügen, die die Mächtigen, die sich gegen arme Teufel wie ihn und Cara de Hacha verschworen, als Wahrheit verkauften? Waren diese Zirkuskomödianten die Helden, die die Völker verehrten? Ihm schwindelte, und sein Kopf schien schon zu bersten. ›Vielleicht tust du Castillo Armas Unrecht‹, sagte er sich in seinem Nebel. ›Schließlich hat er dir das Leben gerettet und dich aus diesem Loch in der Kaserne herausgeholt, dort hättest du genauso gut deine Knochen lassen können, du undankbarer Kerl. Oder rächst du dich für deine Misserfolge im Leben, deine beruflichen und familiären Enttäuschungen, indem du auf deinen alten Freund vom Samstagsfußball schimpfst? Bist du nur neidisch?‹ Nein, das war es nicht. Denn so viele Makel er auch haben mochte, Neid auf die Triumphe anderer gehörte nicht dazu.

Dr. Efrén García Ardiles hörte im Zimmer nebenan wieder das Weinen dieses Kindes, das seinen Namen trug. War es sein Sohn? Amtlicherseits ja. Wegen des Nachnamens und weil er auch der Sohn von Martita Borrero Parra war, nun Marta de García Ardiles, diesem Mädchen, mit dem er geschlafen hatte, obwohl er es nicht hätte tun dürfen, eine Ungeheuerlichkeit, und für die Folgen würde er sein Leben lang büßen. Aber war es seine, wirklich seine Schuld gewesen? Wieder diese verdammte Suche nach Ausflüchten, um das arme Ding für die eigenen Fehler verantwortlich zu machen. Er hatte den Bengel anerkannt, weil er ein anständiger Mensch war, auch wenn die Tatsache, dass er eine Fünfzehnjährige geschwängert hatte, das Gegenteil besagte und ihn als einen übergriffigen und niederträchtigen Schuft in die Welt stellte, einen verachtenswerten Pädophilen. War alles in seinem Leben eine Farce, ähnlich wie das Leben von Castillo Armas? Am liebsten hätte er geweint, so wie dieser Junge, den das Dienstmädchen nebenan zum Schweigen zu bringen versuchte. Er war ein recht normales Kind, bald würde er sechs Jahre alt. In der Vorschule hatte er gute Noten, und er spielte gern allein, vor allem mit Kegeln und mit seinem Kreisel. Sie hatten ihn nicht mal getauft. Im Rathaus hatte er ihn unter dem Namen Efrén angemeldet, doch Símula, die ihn ab und zu besuchen kam, nannte ihn immer Trencito, Eisenbähnchen.

Das kleine Arbeitszimmer, in dem er einen Großteil des Tages verbrachte, war trotz der Säuberung durch die »Befreier« voller Bücher. Nicht nur über Medizin, sondern auch über Philosophie, für die er seit Studentenzeiten eine ebenso große Leidenschaft hegte. Doch mittlerweile konnte er kaum noch lesen. Er bemühte sich, aber ihm fehlte die nötige Konzentration, und erst recht fehlten ihm die Illusionen von früher, als er noch glaubte, die Lektüre guter Bücher sei nicht nur ein Vergnügen, sondern erweitere auch seine Kenntnisse und mache ihn zu einem empfindsameren, vollständigeren Menschen. Der offizielle Staatsbesuch von Castillo Armas in den USA hatte ihn noch tiefer in die Neurose getrieben, eine Neurose, die sein Leben bestimmte, seit er zu seinem Unglück an diesen Wochenenden mit Rocambor-Partien im Haus seines ehemaligen Freundes Arturo auf die Fragen zu Politik, die die hübsche Miss Guatemala ihm stellte, zu antworten begann. Dass sie ihn verlassen hatte, war ihm egal. Er hatte sie nie geliebt. ›Und sie mich auch nicht‹, dachte er. Doch diese Geschichte war, ob seine Schuld oder nicht, der Beginn seines Niedergangs gewesen, der Sturz in einen Abgrund, aus dem er, da war er sich sicher, nie wieder herauskäme.

Er und Carlos Castillo Armas mussten im selben Alter sein, oder zumindest gehörten sie derselben Generation an. Efrén hatte ihn kennengelernt, als sie noch zur Schule gingen, wenngleich auf verschiedene. Denn er und Arturo besuchten das Colegio San José de los Infantes, eine Schule der Maristen, und die nahm, so wie alle katholischen Schulen, auf die die ehrbaren Familien Guatemalas ihre Kinder schickten, keine außerehelich geborenen auf, keinen Bankert wie diesen mickrigen und trübsinnigen Jungen, der samstags und sonntags um den Fußballplatz der Maristenbrüder strich. Carlos hatte ihm seine Geschichte erzählt und gesagt, dass sein Vater und seine Mutter nicht verheiratet waren; der Vater hatte eine andere Familie, eine richtige, er selbst und seine Mutter waren nur »Schützlinge«. Sein Vater hatte versucht, ihn bei den Maristen anzumelden, aber die hatten Carlos abgelehnt, weil er ein Kind der Sünde sei. Deshalb ging er auf eine öffentliche Schule. Das alles sagte er ganz natürlich, ohne Komplexe oder Groll. Efrén fand ihn gleich sympathisch und überredete seine Freunde, ihn an ihren Fußball-Wochenenden mitspielen zu lassen. ›Gut möglich, dass ich dank dieser guten Tat noch am Leben bin‹, dachte er. ›Da haben wir den Beweis: Du bist gar nicht so ein Lump, wie die Leute denken, vor allem Arturo.‹

Der Carlos von damals war ein guter Mensch gewesen, erinnerte sich Efrén. Es hatte ihm leidgetan, wie diese ungerechte Gesellschaft ihn diskriminierte und dass er wegen der Sünde seiner Eltern (›musst ausgerechnet du sagen, Efrén‹) immer an zweiter Stelle kam, ins Abseits gedrängt, ohne das Land der Familie erben zu dürfen, das sämtlich seinen ehelichen Geschwistern zufallen würde. Mit seinem schwächlichen Körper und seiner eher unsportlichen Art deutete nichts auf eine militärische Laufbahn hin. Efrén traf sich mit ihm auf der Straße – sie gingen ins Lux, ins Capitol oder ins Variedades, um mexikanische Filme mit Charros zu sehen oder mit María Félix, Elsa Aguirre, Libertad Lamarque, oder zu den Spielen der Fußball-Nationalliga –, und er war überrascht, als Carlos ihm verkündete, er würde sich an der Politécnica bewerben. Er ein Kadett? Es seien praktische Erwägungen gewesen, die ihn zu dem Entschluss geführt hätten. In dieser bigotten und vorurteilsbeladenen guatemaltekischen Gesellschaft würde er sich als unehelicher Sohn, ausgegrenzt von den reichen Familien, niemals erfolgreich durchschlagen können, alle Wege blieben ihm versperrt. An der Militärakademie war er ein Kamerad von Jacobo Árbenz gewesen, keinem Geringeren als dem späteren Präsidenten, den er dann stürzen sollte und dem er, nachdem er ihn fast drei Monate am Verlassen der mexikanischen Botschaft gehindert hatte, die Demütigung bereitete, sich am Flughafen, auf dem Weg ins Exil, ausziehen zu müssen, damit man ihn so fotografierte, ›um sicherzugehen, dass er nichts von Wert mitnahm‹, wie es in der regierungstreuen Presse hieß, die nun die Presse des ganzen Landes war. Und dann hatte er Árbenz’ Vermögen enteignet, einschließlich der Finca El Cajón und seiner Bankguthaben.

Als er dann Kadett war, sahen Carlos und er sich nur noch selten. An Tagen, an denen er Ausgang hatte, rief er Efrén schon mal an, und sosehr ihn sein Medizinstudium in Anspruch nahm, trafen sie sich auf ein Bier, in der Bar Granada, wenn sie genug Geld hatten, sonst in einer kleinen Kneipe beim Großmarkt. Es war eine etwas distanzierte Freundschaft, aber sie erhielten sie aufrecht. Efrén wusste, dass Carlos in der Armee eine nur mittelmäßige Karriere gemacht hatte. Als er befördert wurde, lud er ihn ein, und an diesem Tag lernte Efrén Carlos’ Mutter kennen, Josefina Castillo, eine einfache Frau, die einen Huipil mit aufgesticktem Quetzal trug und einen langen Rock, gehalten von einer Bauernschärpe. Als man ihrem Sohn den Leutnantsdegen gab, weinte sie. Sein Vater nahm an der Zeremonie selbstverständlich nicht teil.

Irgendwann verloren sie sich aus den Augen, und erst viel später erfuhr Efrén, dass Carlos 1944, zur Zeit der Oktoberrevolution, die zu den ersten freien Wahlen in Guatemala führte und Professor Juan José Arévalo an die Macht brachte, acht Monate in den Vereinigten Staaten gewesen war, wo er das U. S. Army Command and General Staff College in Fort Leavenworth, Kansas, besuchte und Taktiken des antisubversiven Kampfs lernte. Er sollte ihn erst wiedersehen, als er bereits seit längerem wieder in Guatemala war und man ihn zum Leiter der Militärakademie ernannt hatte. Seither begegneten sie sich manchmal bei gesellschaftlichen Ereignissen; sie grüßten sich, erzählten sich rasch, wie es ihnen ging, machten den ein oder anderen Scherz und versprachen, einander anzurufen, taten es aber nie. Als Carlos seine Odilia heiratete, erhielt Efrén die Anzeige und eine Einladung und schickte ein schönes Geschenk. Carlos war in der Armee vorangekommen. Auf welche Weise? Auf eine recht unspektakuläre, von einer Kaserne zur anderen quer durchs Land und mit Beförderungen aufgrund des Dienstalters, ohne jeden Glanz; kein Vergleich mit der Laufbahn anderer Jahrgangskameraden wie Jacobo Árbenz oder Francisco Javier Arana, die damals bereits als führende Köpfe der Streitkräfte galten und als künftige Präsidentschaftskandidaten im Gespräch waren.

Von Carlos hörte Efrén erst wieder, als sein Freund bei dem Konflikt zwischen den beiden offen für Arana Partei ergriff, den Offizier, der ihn in der Armee protegiert hatte. Und als Oberst Francisco Javier Arana dann ermordet wurde, bei diesem seltsamen Scharmützel am 18. Juli 1949 an der Brücke des Ruhms, beschuldigte Carlos, nunmehr Oberstleutnant und Kommandant der Garnison von Mazatenango, die Regierung und vor allem Jacobo Árbenz der Mittäterschaft. Mehr als ein Jahr später, am 5. November 1950, trat er für einen flüchtigen Moment ins Rampenlicht, als er einen Überfall auf die Garnison in La Aurora anführte. Der Putschversuch scheiterte, es gab Tote, und der Anführer erlitt eine schwere Verletzung. Wie durch ein Wunder wurde er nicht lebendig begraben. Man wollte den vermeintlichen Leichnam schon in eine ausgehobene Grube werfen, in der bereits andere Tote lagen, als Castillo Armas einen Jammerlaut von sich gab, und so wurde den Soldaten klar, dass er noch lebte. (›Besser wäre es gewesen, sie hätten ihn verscharrt‹, dachte Dr. García Ardiles. Aber sofort nahm er es zurück: ›Dann wärst du wahrscheinlich längst tot oder noch hinter Gittern, wer weiß für wie lange Zeit.‹) Er war gerettet, doch die Regierung von Juan José Arévalo warf ihn aus der Armee, und die Richter verurteilten ihn zum Tode, eine Strafe, deren Vollzug immer wieder ausgesetzt wurde. Sein Ausbruch aus der Haftanstalt, am 11. Juni 1951, machte ihn im ganzen Land berühmt. Zwei Versionen waren im Umlauf. Seine Anhänger sagten, es sei eine abenteuerliche Flucht wie die des Grafen von Monte Christo gewesen, denn er und seine Kameraden hätten heimlich einen langen Tunnel gegraben, der sie in die Freiheit führte. Seine Gegner versicherten, die Ausgebrochenen hätten die Wärter mit ein paar Quetzal-Scheinen bestochen und seien, ohne irgendein Risiko einzugehen, durch die Tore des Gefängnisses hinausgetreten. Er flüchtete nach Kolumbien und ging später nach Honduras, wo er sich mit Leib und Seele der Konspiration gegen die Regierung Árbenz verschrieb. Dort gründete er die sogenannte Nationale Befreiungsbewegung und schloss einen dreifachen Pakt mit General Ydígoras Fuentes und einem Zivilisten, Dr. Córdova Cerna, einem Mann von großem Verstand, ehemals Anwalt der Frutera und unter Arévalo Minister, der, wie es hieß, aus Schmerz über den unglücklichen Tod seines Sohnes bei einer oppositionellen Demonstration seine politischen Ansichten geändert habe. Doch die USA, besser gesagt John Foster Dulles, Außenminister unter Präsident Eisenhower, und sein Bruder Allen, Chef der CIA, hatten offenbar Castillo Armas als Anführer dieser Konterrevolution ausgewählt, weil er nicht so aristokratisch war wie Ydígoras Fuentes und weil man bei Córdova Cerna, dem Mann mit Köpfchen, Ideen und Ansehen, in diesen Tagen einen Kehlkopfkrebs entdeckt hatte. Vielleicht auch, weil sie glaubten, Castillo Armas sei gefügiger, manipulierbarer als die beiden anderen im Trio, ganz abgesehen davon, dass er mit seiner Hautfarbe und seinen Gesichtszügen mehr wie ein Indio aussah als wie ein Mestize. Und diesen Verdiensten sollte er es zu verdanken haben, dass er nun Präsident der Republik Guatemala war und ein Held der freien Welt? Dass er durch die Vereinigten Staaten tourte und Auszeichnungen und Beifall entgegennahm und die renommiertesten Zeitungen ihn ein Vorbild für ganz Lateinamerika nannten?

Der Junge hatte sich endlich beruhigt, und ein ungewöhnlicher Friede herrschte in diesem trostlosen Häuschen im Viertel San Francisco, wo Dr. Efrén García Ardiles sich seinem Pessimismus und seinen Neurosen hingab. Er nahm Mantel und Regenschirm und ging hinaus auf einen Spaziergang durchs Zentrum der Stadt. Er würde müde zurückkommen, durchnässt und vielleicht etwas unbeschwerter.