Er war zu einem der großen, im südlichen Teil von Guatemala-Stadt neu eröffneten Warenhäuser gefahren und hatte für seine Köchin ein Geburtstagsgeschenk gekauft, als er vor dem Ausgang hörte, wie ihn jemand bei seinem Vornamen rief: »Enrique?« Er blieb sofort stehen, drehte sich um und sah eine junge Frau in Bluejeans und einer dieser Langjacken im Militärlook, wie sie unter den jungen Leuten in Mode waren. Sie trug eine blaue Baskenmütze, hatte schöne Augen und lächelte, als würden sie sich kennen.
»Sie sind Oberstleutnant Enrique Trinidad Oliva, nicht wahr?« Die junge Frau trat mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, weiter lächelnd.
Er setzte eine ernste Miene auf, ehe er mürrisch antwortete:
»Da irrst du dich, keine Ahnung, wer das sein soll.« Sein Ton war sehr unfreundlich gewesen, und er versuchte es wiedergutzumachen, indem er ebenfalls lächelte. »Ich heiße Esteban Ramos. Wenn ich dir behilflich sein kann – und wer sind Sie?«
»Dann wird es eine Verwechslung sein«, sagte die junge Frau und lächelte erneut. »Bitte vielmals um Entschuldigung.«
Sie drehte um und ging fort, mit einem geschmeidigen Gang, ein wenig die Hüften schwingend.
Er war reglos stehen geblieben, das Geschenkpaket in Händen, vor Überraschung noch wie gelähmt und sich selber verfluchend, weil er so ungeschickt reagiert hatte. Seine Beine zitterten, die Hände waren feucht. In Gedanken machte er sich alle möglichen Vorwürfe. Drei gravierende Fehler hatte er begangen: Er hatte angehalten, als er seinen alten Namen hörte; hatte gezeigt, wie verärgert er war, als er abstritt, Oberstleutnant Enrique Trinidad Oliva zu sein; und hatte die junge Frau auch noch im selben Satz geduzt und gesiezt. Er hätte weitergehen sollen, nicht stehen bleiben, dann hätte die Frau gedacht, sie hätte sich in der Person geirrt. ›Du hast dich verraten, Idiot‹, sagte er sich. Während er in seinem Wagen zurück nach Hause fuhr, spürte er, wie ihn ein Schwindelgefühl überkam, und tausend Fragen nagten an ihm: Wer war das Mädchen? War es eine zufällige Begegnung gewesen? Verfolgte sie ihn? Unmöglich, dass sie ihn von früher kannte, sie war nicht älter als siebzehn oder achtzehn, demnach wäre sie, als er ins Gefängnis kam, erst elf oder zwölf gewesen. Unmöglich auch, dass seine Erscheinung ihr etwas gesagt hätte, dafür hatte er sich viel zu sehr verändert. Und er selber erinnerte sich auch nicht an dieses Gesicht, diese Augen, diese ungezwungene Art. Nein, von früher konnte sie ihn nicht kennen, sie verfolgte ihn, versuchte seine Identität herauszufinden. Und hatte es geschafft, weil er so ungeschickt gewesen war. Konnte sie von der Polizei sein? Wohl kaum. Vom Militärischen Geheimdienst? Unwahrscheinlich. Sie sah aus wie eine Studentin, eine von der San Carlos, Geisteswissenschaften oder Jura, das waren die radikalen Fakultäten. Bestimmt gehörte sie einer dieser extremistischen kommunistischen Gruppen an, die für Entführungen verantwortlich waren und in Banken und Häusern von Generälen Bomben legten. Nur solche Leute konnten ein Interesse daran haben, herauszufinden, ob der ehemalige Chef des Geheimdienstes noch lebte und unter falschem Namen ein Zivilleben führte.
Am selben Nachmittag sprach er mit dem Türken über den Vorfall. Der maß der Sache keine größere Bedeutung bei, sagte ihm aber, er könne über seine Kontakte in der Regierung herausbekommen, ob die Polizei oder der Geheimdienst ihm nachspionierten. Zwei Tage später versicherte Ahmed Kurony ihm, dies sei nicht der Fall, in dem Punkt seien seine Informanten eindeutig gewesen: Weder die Polizei noch die Armee interessierten sich für ihn. Genau deshalb war aber auch nicht auszuschließen, dass die Begegnung keine zufällige gewesen war und eine dieser terroristischen Gruppen, von denen es im Land wimmelte, dem ehemaligen Militär auf der Spur war, jenem Mann, den man so vieler schrecklicher Taten zur Zeit von Castillo Armas’ Befreiungsrevolution beschuldigte.
Enrique ergriff nun Vorsichtsmaßnahmen und trug wieder eine Waffe. Er hatte sie abgelegt, da es angesichts der allgemeinen Unsicherheit, der terroristischen Akte und der drastisch angestiegenen gewöhnlichen Kriminalität mittlerweile Polizei- und Militärpatrouillen gab, die die Leute auf der Straße anhielten, um ihre Ausweise zu überprüfen oder sie zu durchsuchen. Und so ging er seit dem Tag, an dem er sich verraten hatte, nie vor die Tür, ohne sich den Revolver in den Gürtel zu stecken, den ihm der Türke persönlich geschenkt hatte. Und wo immer er sich befand, hatte er seit jenem Tag ein wachsames Auge. Nie verließ ihn das Gefühl, dass man ihm folgte und ihn ausspionierte. Er versuchte, möglichst wenig auf der Straße zu sein, blieb nicht stehen, wenn er von zu Hause zu einer Besprechung ging, mied Kneipen und Restaurants. Weder ins Ciro’s noch ins Casablanca hatte er wieder einen Fuß gesetzt, nicht mal an dem Abend, als der Türke ihn einlud, Tongolele zu sehen, die berühmte Rumbatänzerin mit der weißen Strähne in ihrem tiefschwarzen langen Haar. Und wenn er die illegalen Casinos des Türken besuchte, ließ er sich von Temístocles begleiten, dem Leibwächter, dem er am meisten vertraute.
An einem solchen Abend, als er seine übliche Tour durch die Spielhallen machte, glaubte er bestätigt zu sehen, dass man ihm folgte. Passiert war es auf die dümmstmögliche Weise. Er hatte gerade eines der Casinos inspiziert, in einem verborgenen Raum am Ende eines Antiquitätenladens im Pasaje Rubio in der Altstadt, als hinter ihm ein Licht aufblitzte. Er wirbelte herum und sagte zu Temístocles, er solle den, der ihn da fotografiert habe, festhalten. Zusammen mit den Türstehern packte der Leibwächter einen jungen Mann, nur war der offensichtlich nicht der Fotograf, denn er hatte keine Kamera dabei. Wie sich herausstellte, war er ein Handelsreisender, der die Spielhölle schon seit Jahren besuchte. Enrique musste ihn persönlich um Verzeihung bitten. Trotzdem, auch wenn alles dagegensprach und die Aufpasser und der Leibwächter es bestritten, glaubte er weiter fest, dass jemand in seinem Rücken ein Foto gemacht hatte. Wurde er schon verrückt? Hatte er Halluzinationen? Nein, das war keine Paranoia, das war sein sechster Sinn. Außerdem hatte er das Klicken gehört und den Schein des Blitzlichts gesehen. Wahrscheinlich war dieser Knipser schneller gewesen als seine Leute. Er schlief schlecht, hatte Albträume, und tagsüber quälte ihn die Vorstellung, sein ganzes Leben, das er sich aus den abgründigen Tiefen des Gefängnisses heraus wieder aufgebaut hatte, könnte wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen.
Eines Morgens kam Tiburcio, sein Hausdiener, zu ihm ins Schlafzimmer und weckte ihn mit dem Finger auf den Lippen, psst, nur keinen Krach machen. Es war noch früh am Tag, gerade drang das erste Licht herein. Er bedeutete ihm aufzustehen, führte ihn ans Fenster und zog den Vorhang ein Stück zur Seite. Enrique sah, wie ein Mann sein Stockwerk fotografierte, die Eingangstür des Gebäudes. Er machte es ohne jede Tarnung, aus verschiedenen Perspektiven. Dann ging er gemächlich bis zur Ecke, wo ein Auto auf ihn wartete; kaum war er eingestiegen, fuhr es los.
Jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Das war der Beweis. Sie verfolgten ihn, konnten ihn jeden Moment entführen oder töten, heute noch. Gewöhnliche Kriminelle waren das bestimmt nicht. Warum sollten sie ihn entführen, wo er weder Millionär war noch ein Lösegeld hätte zahlen können? Am Abend sprach er mit dem Türken und bat ihn, er möchte ihn für eine Weile außer Landes bringen. Ahmed Kurony wollte sich erst nicht darauf einlassen. Für seine Geschäfte brauchte er ihn vor allem hier, in Guatemala. Er hatte ihm eine große Verantwortung übertragen. Wahrscheinlich sah er nur Gespenster. Das war doch nichts Besonderes, dass jemand so früh am Morgen auf der Straße fotografierte, das konnte ein Tourist sein, einer dieser Fotoverrückten, die auf Morgenlicht standen. Aber Enrique ließ nicht locker, und schließlich sagte er »Okay«. Er würde ihn für ein paar Wochen nach Mexiko schicken, vielleicht vergaß er dort ja seine vermeintlichen Verfolger. In dieser Wimmelstadt könne er sich für eine Weile verstecken und sicher fühlen.