»Skyler?«, rief eine weibliche Stimme. Ich drehte mich nicht um, wollte mit niemandem reden. Die Müdigkeit zehrte noch immer an mir. Ich hatte die gesamte Nacht kein Auge zugemacht. Viel zu sehr fürchtete ich mich davor, erwischt zu werden. Immer wieder malte ich mir aus, wie es wäre, wenn mich die Polizei schnappen und einbuchten würde. Der Gedanke war nur deshalb erträglich, weil ich Scott keinesfalls über den Weg laufen wollte. Ich versuchte einfach, unsichtbar zu sein – für jeden. Das Lager war mein einziges Ziel und davon sollte mich diese Frau nicht abhalten.
»Skyler, bleib stehen!«, rief mir die helle Frauenstimme nach und ich hörte die schmatzenden Sandalenabdrücke auf dem Asphalt. Als ich ihr keine Beachtung schenkte, vernahm ich schnellere, klebrigere und lautere Schritte. »Jetzt warte doch, Herrgott!«
Ich blieb tatsächlich stehen, drehte mich aber nicht um. Im Augenwinkel sah ich, wie mich die Frau mit dem rosafarbenen Kurzhaarschnitt, einem Pixie Cut, wie sie immer betonte, und dem bodenlangen pinken-türkisen Sommerkleid überholte. Es war Rachel, Rachel Bailey.
»Skyler, na also!«, sagte sie ein wenig aus der Puste.
Ich war genervt, verdrehte die Augen. Aber das sah sie nicht, denn ich trug noch immer diese riesige Sonnenbrille, die mein Veilchen verdeckte.
»Müsstest du nicht in der Schule sein?«, fragte sie mütterlich ermahnend.
Ich sah sie weiterhin stumm an.
»Was soll eigentlich diese alberne Sonnenbrille?«
Ich gab keinen Laut von mir, musste ich auch nicht, denn sie griff nach der Brille und riss sie mir vom Gesicht.
»Oh mein Gott!«, schrie Rachel und hielt sich dabei die Hand vor den Mund. Sie kreischte so laut, als ob sie gerade meine Leiche entdeckt hätte.
»Gib die Brille wieder her!«, fauchte ich.
Sie sah mich entsetzt an und ihre türkisfarbenen Federohrringe waren in diesem Moment das Einzige, was sich noch bewegte. Hatte ich sie in eine Schockstarre versetzt? Sollte mir auch recht sein. Ich ging weiter.
»Skyler!«, schrie sie erneut und lief mir auf ihren Sandalen nach.
»Was?«, brüllte ich laut und drehte mich zu ihr um. Sie blieb wie erstarrt stehen und wirkte dabei wie eine Statue. Eine viel zu bunte, wenn man mich fragen würde. Ich sah sie herausfordernd an, bis sie ihre Worte wiederfand.
»Können wir nicht vielleicht darüber reden?« Sie hielt mir die Sonnenbrille als Friedensangebot hin. Ich griff nach ihr und setzte sie schnell auf. Ich hatte Angst, dass jemand einen Blick auf meine Verletzung erhaschte. In dieser Gegend war es gefährlich, schwach zu wirken. Also sah ich mich um, meine Augen wanderten von rechts nach links. Die Straßen waren voll, aber niemand schien sich für mein blaues Auge zu interessieren.
»Kein Bedarf«, gab ich kurz zurück. Sie sollte sich ja nicht einbilden, dass ich ihr jetzt mein Leid klagen würde. Das konnte sie vergessen.
»Na schön.« Rachel rümpfte die Nase und startete einen neuen Versuch. »Ich möchte dich ohnehin sprechen.«
»Rachel, ich habe keine Zeit«, sagte ich leicht genervt.
»Bitte, Skyler, es geht auch schnell.«
Ich seufzte, gab mich dann aber geschlagen. »Einverstanden«, kam es mir gequält über die Lippen, aber das schien sie nicht zu interessieren.
Rachel setzte sich bereits in Bewegung, während sie einen Jubelschrei ausstieß, und dabei verhielt sie sich wie ein albernes Kind. Ausgerechnet in ihrem Alter. Sie hätte meine Mutter sein können. Genau genommen war sie sogar drei Jahre älter als meine Mutter, die gerade einmal fünfunddreißig Jahre alt war. Aber Rachel war nicht meine Mom und das bedauerte ich manchmal zutiefst. Ich folgte ihr schließlich wortlos.
***
»College?«, schrie ich Rachel fassungslos an, als ich in ihrem Büro im ›Greenhood Care‹ saß, einer sozialen Einrichtung für solch schwierige Problemkinder wie mich. Sie war Sozialarbeiterin und kümmerte sich liebevoll um alle. Es war ihre Berufung, das spürte ich, so wie sie sich für alle einsetzte.
Mit ihrer durchgeknallten Art kam sie bei fast jedem Jugendlichen gut an. Auch bei mir, selbst wenn ich das ihr gegenüber niemals zugegeben hätte. Dafür war ich viel zu cool.
Aber sie durchschaute mich, es war ihr Job, und wenn ich ehrlich sein sollte, war ich dafür auch manchmal ein klein wenig dankbar. Es tat gut, mit ihr zu reden, aber alles wusste sie bei weitem nicht. Zum Beispiel die Sache mit Scott oder die, dass ich mit Tyson und Myles auf Raubzug ging. Sie ahnte es bestimmt, aber sie wusste es nicht. Das hätte sie niemals durchgehen lassen.
»Das College würde dir guttun.« Sie sah mich hoffnungsvoll an.
»Genau«, gab ich sarkastisch zurück und verschränkte meine Arme vor der Brust.
»Skyler«, ermahnte Rachel mich, »überleg doch mal.« Ich warf ihr einen trotzigen Blick zu. »Du könntest es schaffen. Hier raus!« Sie machte eine Geste, die das gesamte Büro mit einschloss. Aber natürlich meinte sie nicht ihr Arbeitszimmer, sondern vielmehr South Brooks, die Stadt, in der ich lebte. »Das war doch immer dein Traum«, verstärkte Rachel ihre Aussage mit dem dringenden Wunsch, mir das College aufzuschwatzen.
Selbstverständlich hatte ich darüber nachgedacht und natürlich wollte ich hier raus. Verdammt noch mal, das wollte ich sogar um alles in der Welt. Aber College? Ich? Das konnte ich mir einfach nicht vorstellen.
»Und meine Noten?«, fragte ich schließlich.
»Skyler«, Rachel zog ihre übergroße Nerd-Brille weiter nach vorne und ihre pinken Nägel glänzten auf dem schwarzen Rand des Gestells. »Du hast das Zeug dazu. Du kannst es schaffen.«
»Aber meine Noten!«, beharrte ich.
Sie sah mich mit ihren kristallblauen Augen an und strahlte dabei diese besondere Ruhe aus.
»Skyler, ich weiß, du möchtest es.« Ich wollte ihr widersprechen, doch sie bremste mich aus. »Ich kenne dich schon so lange.« Ich mochte es nicht, wenn Rachel so tat, als würde sie mich Gott weiß wie lange betreuen. »Ich bin mir sicher, dass du das College schaffst.« Rachel machte eine bewusste Pause. »Und ich weiß, dass du das willst.« Klar, sie hatte recht. Ein Leben, weit weg von Scott, dem miesen Leben in South Brooks, der Kriminalität, das wäre es. Ich sah zu Boden.
»Du kannst es eines Tages besser haben«, bestärkte Rachel meinen Wunsch und lächelte mich dabei warmherzig an. Verdammt, diese Frau wusste einfach, wie man mit mir zu reden hatte. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie würde mich besser kennen als meine eigene Mutter. Wieso merkte Mom nicht, dass Scott eine Qual für mich war – und noch schlimmer – auch für sie? Ich sah wieder in Rachels strahlendes Gesicht.
»Du hast meine Unterstützung«, drängte sie mich zu einer Antwort. Ich hasste das.
»Yo, ich hab noch viel zu tun«, antwortete ich barsch und schnappte mir meinen Rucksack.
Jeder andere Erwachsene wäre jetzt vermutlich ausgetickt, aber Rachel nicht. Sie ließ sich in ihren monströsen Chefsessel zurückfallen, drückte ihre Brille mit den Riesengläsern zurück auf die Nase und nickte mir zu.
»Bis bald, Sky!« Wie cool sie doch war.
***
»Wo zur Hölle warst du?« Tyson schrie mich an. Zu Recht, ich war zu spät. Er kam hinter dem roten Wagen hervor, Myles blieb stehen. Ich musterte die Karre. Sie war brandneu und glänzte wie verrückt. Sie schien das einzig Helle in diesem dreckigen Lager zu sein.
»Wo hast du die her?« Ich wechselte das Thema und ignorierte Tysons Frage mit Absicht. Ich hatte keinen Bock auf sein Gelaber, sein Gehabe. Er sollte nicht wissen, dass ich mit Rachel gesprochen hatte. Das würde er nicht gutheißen. Er wusste, dass Rachel einen guten Draht zu mir hatte, und er hatte Angst, ich würde ihn eines Tages verpfeifen. Zu meiner Überraschung ging er auf meinen Themenwechsel ein.
»Der Sportflitzer?« Als ob hier noch so ein Prachtstück stehen würde!
Wir schritten gemeinsam auf den Wagen zu, den Myles mit einem Lappen in der Hand weiter polierte.
»Ist vom Lkw gefallen«, scherzte Tyson und lachte besonders tief, sodass es einem Brummen glich.
»Im Ernst jetzt. Wem gehört die Karre?«
»Weiß ich doch nicht! Bist du ’nen Bulle?« Er sah mich finster an, was ich ignorierte. Stattdessen ging ich auf Myles zu, der auf der anderen Seite des Wagens stand. Mit einem Mal ließ ich den Rucksack auf die Motorhaube fallen.
»Spinnst du?«, keifte Myles mich an und kniff die Augen zusammen. Das ließ seine ohnehin winzigen Pupillen nur noch kleiner wirken – wie mickrige Erbsen. »Die Karre ist frisch poliert«, rückte er schließlich mit der Sprache heraus, doch ich ignorierte auch ihn.
»Hier ist die Kohle.« Beide näherten sich dem Fahrzeug aus ihren unterschiedlichen Richtungen, ehe sie gemeinsam mit mir über dem Rucksack lehnten, den ich öffnete. Die Geldscheine quollen heraus und ich war glücklich – auch wenn ich mich für die Tat nach wie vor schämte. Wir hatten es nicht ehrlich verdient, aber wir brauchten es.
»Geil!«, hörte ich meine Freunde rufen. Sie klatschten sich ab. Ich nutzte die Gelegenheit und nahm meine Sonnenbrille herunter. Sie erstarrten. Ich musste nach wie vor schlimm aussehen.
»Alles okay?«, fragte mich Myles schließlich.
»Klar, bin nur hingefallen«, log ich schon wieder. Sie nickten nur. Es war in Ordnung, dass ich nicht darüber sprechen wollte. Sie wussten, was los war. Sie kannten Scott. Sie stellten keine Fragen – und dafür liebte ich sie.
***
Meine Finger klebten unter dem Dreck.
»Wie viele noch?«, rief Tyson mir vom Keller des Lagers aus zu.
»Myles!«, gab ich die Frage weiter. Er sah sich um und zählte in Gedanken durch.
»Fünf!«, schrie er. Ich tat es ihm gleich.
»No Way!«, rief Tyson zurück.
»Wir müssen!«, gab ich zur Antwort.
»Fuck!«, hörte ich ihn aus den Tiefen des Kellers rufen. Dann legte er eine Pause ein, ehe ich seine Laute wieder vernahm. »Okay, noch einer!«
»Noch einer«, wiederholte ich es für Myles, der außer Hörweite stand. Er packte sich einen Autoreifen samt Felge, rollte ihn zu mir herüber. Ich nahm ihn in die Hand und schob ihn die Kellertreppe Stück für Stück hinab, bis Tyson ihn mir abnahm.
»Das war’s, wir sind voll«, informierte er mich.
Ich blickte in den randvollen Kellerraum. Einige Reifen hatten hier Platz genommen, aber auch Geld, Schmuck und andere Teile. »Einer noch!«, rief ich.
»Was soll das? Wir sind voll!« Tyson sah mich herausfordernd an. Er hasste es, wenn man seine Entscheidungen infrage stellte. Ich respektierte ihn, aber ich hatte keine Angst. Er war nicht der King, auch wenn er das tatsächlich glaubte.
»Myles!«, rief ich meinem Kumpel zu, der wie immer seelenruhig herumstand. »Noch einen Reifen!«, forderte ich.
Myles sah mich verunsichert an. Er würde es zwar niemals zugeben, aber Tyson schüchterte ihn ein. Ich warf ihm einen drängenden Blick zu und Myles reagierte. Er war nett, vielleicht zu nett, aber leider nicht der Hellste, eher ein Mitläufer. Doch ich schätzte ihn als Freund, er war loyal.
Myles rollte mir einen Reifen zu. »Danke!«, sagte ich.
»Was macht ihr?«, rief mir Tyson zu, der aus dem Keller stampfte.
»Ein Reifen kommt noch!«, schrie ich. Ich überging ihn damit bewusst, aber es war mir egal. Er dachte nicht logisch. Im Keller war noch Platz und wir mussten die Sachen verstecken. Sollten wir nur wegen seines Egos auffliegen? Keineswegs!
Ich kam ihm mit einem Reifen entgegen, doch er schnappte mitten auf der Kellertreppe mit beiden Händen nach ihm. Er packte fest zu und bremste mich dadurch aus. Tyson sah mir direkt in die Augen – herausfordernd. Seine Pupillen blitzten mich förmlich an und ich erkannte, dass er seinen Kiefer fest zusammenpresste. Er meinte es ernst, das sah ich. Aber ich hatte keinen Bock auf seine Spielereien.
»Was wird das?«, brüllte er mich an.
»Tyson«, probierte ich es diplomatisch, »da passt noch was rein.«
Er wusste, dass ich recht hatte. Aber ich kannte ihn besser. Er musste sich immer durchsetzen. Ich versuchte, mich wortlos an ihm vorbeizuschieben, aber er drückte den Reifen mit voller Wucht von sich weg und ich flog auf die Treppe. Mit meiner Hand schaffte ich es gerade noch, mich rechtzeitig abzufangen. Sie pochte abermalig voller Schmerz.
»Spinnst du?«, schrie ich ihn an. Ich sprang schnell auf, ließ den Autoreifen zu Boden krachen und ging auf Tyson los. Ich packte ihn am Kragen und presste ihn auf dem Treppenabsatz gegen die Wand. Tyson, der alles andere als kraftlos war, schubste mich erneut weg – und ich hatte keine Chance. Ich taumelte nach hinten, krallte mich im letzten Moment am Geländer fest. Tyson bewegte sich wieder auf mich zu und er hatte diesen entschlossenen Blick, gewillt auf mich einzuprügeln. Myles stürmte die Treppe hinunter.
»Tyson!«, schrie er ihn an. »Hör auf!« Der sonst so ruhige Myles kam nur zu Wort, wenn er zwischen uns schlichten musste. Ich wusste nicht, ob Tyson auf ihn hören würde, aber ich wollte es auch darauf ankommen lassen.
Ich sah zu Myles, dann schloss ich die Augen und spannte meine Muskeln an. Ich rechnete mit einem Schlag, aber ich beabsichtigte keineswegs, auszuweichen. Ich war doch kein Feigling!
Nach einigen Sekunden, in denen nichts passierte, öffnete ich die Augen.
Tyson blickte unterdessen auf seine Faust, die er inzwischen geballt hatte. Ich sah, wie sich seine Muskeln langsam entspannten, und ich tat es ihm gleich. Ich war erleichtert.
»Sorry«, murmelte er, was ihm sichtlich schwerfiel, »ich weiß nicht, was los ist.« Er reichte mir seine Hand. Ich nahm sie. Er winkelte den Arm an und zog mich ein Stück hoch, sodass ich wieder gerade auf dem Treppenabsatz stand. Myles lächelte zufrieden.
***
Es war nicht unsere erste Auseinandersetzung, aber es war eine der heftigsten. Nachdem wir die restlichen Reifen und Felgen endlich oben im Lager und, nicht wie sonst üblich, in unserem Kellerraum versteckt hatten, machten wir Feierabend.
Ich war wohl kurz auf der Couch im Lagerraum eingedöst. Die schlaflosen Nächte raubten mir jegliche Energie. Ich wusste nicht, wie lange ich geschlafen hatte, aber als ich aufwachte, war es bereits dunkel.
Gemeinsam mit den Jungs beschloss ich, durch die Stadt zu ziehen. Obwohl es dämmerte, war es nicht ruhig auf den Straßen von South Brooks. Überall lungerten die Kids herum. Sie dealten an den Straßenecken. Elf oder zwölf, älter waren sie nicht. Es war normal für mich. Ich war es gewohnt, schließlich war ich damit aufgewachsen. Es war aussichtslos und dreckig in South Brooks. Ich dachte an Rachels Worte. Verdammt, natürlich wollte ich weg aus dieser Drecksstadt – aber hatte ich wirklich eine Wahl?
Myles, Tyson und ich schlenderten die Ronstreet entlang. Hier fühlten wir uns zu Hause, hier kannte man uns. Trotzdem scherte sich jeder in dieser Stadt einen Dreck um den anderen. Zum Glück hatte ich Tyson und Myles. Sie waren meine Familie.
Am Kiosk verkaufte Pablo uns Bier. Dann gingen wir weiter, bis wir uns wieder auf einem der zahlreichen Treppenabsätze niederließen. Ich dachte an die Auseinandersetzung mit Tyson. Es war schwierig in letzter Zeit, aber wir waren wie Brüder. Ich liebte ihn.
»Auf uns!« Tyson streckte seine Bierflasche in die Luft und blickte uns dabei an. Wir taten es ihm gleich.
»Prost!« Wir nahmen alle drei einen beherzten Schluck und ich spürte das angenehme Prickeln des Bieres auf meiner Zunge. Kurz darauf merkte ich, das warme Ziehen in meiner Brust, das in tiefer Zufriedenheit mündete. Mit Alkohol konnte ich den gesamten Dreck um mich herum vergessen.
»Also«, stieß Tyson eine ungeliebte Diskussion an, »wo warst du gestern?«
»Ja, Mann, und was ist mit deinem Auge passiert?«, reihte sich Myles überfürsorglich ein.
Ich schluckte und schaute dann gen Himmel. Die Sterne blitzten auf und der Mond stand halb am Horizont. Es war eine klare Nacht. Ein seltenes Bild hier in South Brooks.
Die beiden starrten mich noch immer an, nahmen einen weiteren Schluck und fragten fast im Chor: »Was ist, Mann?«
Ich wollte unter keinen Umständen reden, aber sie zwangen mich förmlich dazu. Da kam mir eine Ausrede gelegen. »Ich war spät dran und musste zur Bar.«
Natürlich stimmte das, aber es war nicht die ganze Wahrheit. Ich wollte nach meiner Mutter sehen. Seit Scott bei uns wohnte, besuchte ich sie regelmäßig und sah nach, wie es ihr ging. Ansonsten war ich ein seltener Gast geworden. Es war besser so.
Beim bloßen Gedanken daran machten sich meine Wunden wieder bemerkbar. Ich wusste, die Jungs verstanden mich ohne viele Worte und so schwieg ich einfach. Ihre Blicke verrieten mir, dass es okay war.
»Wie viele Felgen gehen morgen weg?«, wechselte Myles das Thema.
»Weiß nicht …«, murmelte ich.
»Du weißt es nicht?«, schrie Tyson mich an.
»Nein, Mann.«
»Was sagt Dee-Kay?«
Ich starrte ihn an und wartete darauf, dass Tyson sich die Frage selbst beantwortete. Immerhin war er dabei gewesen.
»Warte. Was?« Er fuchtelte wild mit den Armen. Jetzt hatte er es wohl begriffen.
»Du hast noch nicht mit ihm gesprochen?«, rief Myles völlig entsetzt. Er riss seine Augen so weit auf, dass ich fürchtete, sie würden jeden Moment herausfallen. Ich blieb ruhig. Das war ich fast immer.
»Spinnst du?«, schrie Tyson mich an. Er war so erregt, dass ich glaubte, er würde hyperventilieren.
»Chill mal!«, gab ich cool zurück.
»Chill mal«, äffte er mich nach. »Wenn der Deal platzt, haben wir ein fettes Problem!«
»Warum?«, fragte ich achselzuckend. Er riss die Augen weit auf und Myles tat es ihm gleich – schon wieder.
»Die übrigen Reifen stehen im Lager«, merkte Myles an.
»Ja, und?«
»Ja, und?«, wiederholte mich Tyson wieder luftschnappend. »Wenn die Bullen durchs Lager gehen, dann wissen sie Bescheid.«
»Warum sollten die?« Er brachte mich keineswegs aus der Ruhe.
»Weil Prince krumme Dinger dreht«, erläuterte Myles, als ob ich davon nichts wüsste.
»Es ist die Werkstatt deines Bruders, Tyson! Was sollten die Bullen da?« Ich lachte, während ich das aussprach, denn ich fand, die beiden übertrieben ein bisschen. Prince stellte uns das Lager hinter seiner Werkstatt zur Verfügung und kassierte an unseren Geschäften. So einfach war das. Wer würde Reifen und Felgen in einer Autowerkstatt wohl komisch finden? Die Spinner!
Doch Tyson sah das offenbar anders. Er war verärgert. Ich merkte, wie sein Kiefer wieder zu mahlen begann und sein leichter Bartansatz am Kinn dadurch in Bewegung kam.
»Okay«, sagte er schließlich, so ruhig er konnte, »sprich mit Dee-Kay! Ich rede mit Prince!« Für Tyson wäre es ein Klacks, mit Prince zu sprechen, schließlich lebte er bei seinem älteren Bruder, nachdem er sich mit seinen Eltern gestritten hatte. Ich war mir sicher, sie hießen seine Entscheidung nicht gut, aber waren machtlos gegen ihn. Tyson tat sowieso schon immer, was er wollte.
Er sprang abrupt auf. Aus seiner Hosentasche kramte er ein Bündel Geldscheine. Myles und ich staunten nicht schlecht.
»Hier«, sagte er und streckte mir das Geld entgegen, »gib das Dee-Kay.« Er schien es plötzlich eilig zu haben.
Ohne, dass ich etwas entgegnen konnte, ging er weg. »Man sieht sich.«
Myles stand ebenfalls auf. Kein Wunder, denn schließlich folgte er Tyson überallhin. Mein loyaler Freund grinste mich noch einmal an, ehe er Tyson nachlief. Sie verschwanden in der Dunkelheit und ich verharrte auf dem Treppenabsatz. Es war spät, mittlerweile zwei Uhr nachts. Ich wollte auf keinen Fall nach Hause und auch alles andere als mit Dee-Kay sprechen. Zumindest nicht heute.
Ich sah auf die Geldscheine und steckte sie in meinen roten Rucksack. Das Geld durfte ich keinesfalls verlieren.
Ich schaute zum Himmel und blickte in die klare Dunkelheit hinaus. Es war schön, die funkelnden Sterne zu erblicken, wie sie so hell am Himmelsbild tanzten. Sie wirkten unbeschwert auf mich und strahlten voller Freude. Schade, dass ich nicht einer von ihnen sein konnte.
Ich hatte die Zeit vergessen, während ich mir das Schaubild so ansah. Nach einer gefühlten Ewigkeit sprang ich auf. Ich hatte den plötzlichen Wunsch, meine Mutter zu sehen – ganz gleich, was gestern auch geschehen sein mochte. Sie war alles, was ich noch hatte, und ich wollte nicht, dass sie sich von so einem Arschloch wie Scott verbiegen ließ.
Schnell rannte ich die paar Blocks zur Wohnung. Es machte mir nichts aus und es war gut fürs Training. Ich passierte im Weg stehende Hindernisse und zog mich an ihnen hoch, sprang darüber oder übte daran. Ich liebte das. Es brachte mich auf neue Gedanken. Seit ich Parkour für mich entdeckt hatte, verging kein Tag mehr ohne den Sport. Er belebte mich und es ließ sich nicht leugnen, dass wir die Brüche auf diese Weise schneller abfertigen konnten. Ich machte es keineswegs für das Adrenalin, die Überfälle selbst gaben mir nichts. Durch Parkour war ich frei. Es war nicht meine Idee, das Hobby für die Raubzüge zu missbrauchen, aber es kam mir gelegen. Das musste ich zugeben. Ohne das Geld hätte ich an manchen Tagen wohl nichts zu essen gehabt.
Vor der Tür machte ich einen Salto. Es war ein unbeschreibliches Gefühl. Diese wenigen Millisekunden, die ich da in der Luft schwebte – ganz ohne einen Boden unter meinen Füßen. Ich war frei. Doch mit dem Asphalt unter den Schuhen kam die Realität wieder und mit ihr der dringende Wunsch, wegzulaufen. Aber es half nichts. Ich musste nach meiner Mom sehen.
***
Ich schloss die Tür vorsichtig auf und vernahm ein leises, wimmerndes Schluchzen. Es war eindeutig meine Mutter.
»Mom?«, rief ich behutsam. Das weinende Geräusch unterbrach.
»Skyler, bist du es?« Ich hörte den Ruf aus der Küche und folgte ihm. Dort angekommen fand ich niemanden vor.
»Mom?«, schrie ich nun energischer und sie wimmerte erneut. Ich lauschte den Lauten und ging noch einen Schritt weiter. Rechts neben der Essgruppe lag meine Mom, zusammengekauert an der Heizung. Sie hielt ihre Arme schützend vors Gesicht und ich konnte ihre vielen blauen Flecken erkennen, die sich im Laufe der Zeit bereits lila, gelb und grün verfärbt hatten. Ihre leichte Mascara war verlaufen und sie zitterte am ganzen Körper.
»Mom!«, brüllte ich entsetzt. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter, als ich sie da so hocken sah. Ich nahm ihre Hand und wollte ihr hochhelfen, doch dann erschrak ich. Sie hatte eine Platzwunde direkt unter dem Auge, aus ihren Lippen quoll das Blut. Dieser Anblick machte mich so wütend, dass ich ihr Handgelenk losließ und wild entschlossen durch die Wohnung stampfte.
»Wo ist er?«, schrie ich. Doch meine Mom wimmerte nur.
»Skyler!«, versuchte sie mich zu beruhigen. Ich riss die Schlafzimmertür auf und knipste das Licht an. Ich malte mir aus, wie ich ihm eine reinhauen würde, aber er war nicht da. Ich wollte gerade zum nächsten Zimmer schreiten, da hörte ich meine Mutter winseln. »Er ist nicht da.«
Ich glaubte ihr kein Wort, denn sie schützte ihn aber und abermals.
Als ich alle Räume der kleinen Wohnung betreten hatte – einschließlich meines eigenen – kam ich jedoch zum selben Schluss: Er war nicht da.
Ich rannte zurück in die Küche. Wütend – noch immer. »Wo ist er?«
Meine Mom weinte. »Ich weiß es nicht.«
Es zerriss mir das Herz, sie so hilflos zu sehen. Schnell ging ich auf sie zu, half ihr diesmal hoch und setzte sie an den Küchentisch. Ich holte ein halbwegs sauberes Glas aus dem Schrank und füllte es mit Leitungswasser. »Hier.«
Ich setzte mich zu ihr. »Was ist passiert?«
Sie nahm einen großen Schluck des kalten Wassers und starrte dann auf die Tischplatte, als ob sich diese bald auftun und sie darin verschwinden lassen würde.
»Was ist los?« Sie gab keinen Laut von sich, was typisch für sie war.
»Mom!«, schrie ich und blickte auf ihre blutgetränkten Wunden.
»Ich weiß«, schoss es aus ihr heraus. »Ich bin verrückt!«
»Mom, nein!«, versuchte ich, sie zu beruhigen.
Doch sie redete sich in Rage. Ich verstand von der Hälfte nicht das kleinste bisschen, denn ihre langsam anschwellenden Lippen und das wieder anfangende Schluchzen ließen sie undeutlich sprechen. Ich war gezwungen, mir alles zusammenzureimen. Er würde sie betrügen, das wüsste sie sehr wohl. Sie habe es angesprochen, aber er sei ausgerastet. Er habe sie geschlagen. Nein, um es in ihren Worten auszudrücken: Ihm sei ›nur‹ die Hand ausgerutscht. Es sei auf keinen Fall ernst zu nehmen. So lächerlich!
»Mom!«, schrie ich empört. Wie konnte sie so etwas nur sagen? Sie blutete, ihre Lippen waren dick und meine Wunden waren auch kein bisschen verheilt. Sah sie denn nicht, was hier vor sich ging? »Mom, du blutest!«, ermahnte ich sie.
»Ach, das wird schon wieder.« Sie sah mich an und lächelte, als wollte sie mir irgendetwas beweisen.
»Wo ist er?«, rief ich. Ich konnte es nicht fassen, was er aus meiner Mutter gemacht hatte. Diesem dreckigen Schwein würde ich es noch zeigen!
»Er sagt, er muss sich erholen.« Sie machte eine Pause.
»Erholen?« Ich schnappte nach Luft. Checkte sie denn nicht im Geringsten, was los war?
»Skyler!« Ihre Stimme wurde lauter und fester. »Halt dich da raus!« Sie sah mich eindringlich an. Ihre großen dunklen Augen waren von Trauer gefüllt. Es war, als würde ich in ein tiefes, schwarzes Loch blicken, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. Sie verengte ihre Pupillen, ihre Stirn warf Falten. »Versprich es mir, Skyler!«
Ich konnte es nicht begreifen. »Aber, Mom?« Ich sah sie entgeistert an. In mir zog sich alles zusammen. Sie sah mich flehend an und ich stimmte widerwillig – ihr zuliebe.
»Ich denke … Scott hat gesagt …« Sie stockte und ich wollte gerade wieder ansetzen, um ihr meine Meinung über den Loser zu geigen, da hörte ich, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.
Die Wohnungstür ging auf und die Panik stieg in mir auf. Ich hielt die Luft an, versuchte, die Angst zu unterdrücken, aber sie kam einfach und übermannte mich. Meine Mom wischte sich mit ihrer grünen Strickjacke die Tränen weg und setzte sich aufrecht hin. Ich konnte es nicht fassen.
»Hase, ich bin zurück!«, rief Scott mit einer süßlichen Stimme. Er kam mit einem billigen Tankstellenstrauß zur Tür hinein. Die mickrigen Blüten waren teilweise nicht mal geöffnet. Er machte sich lächerlich und dennoch strahlte er starke Zuversicht aus.
Als er mich auf der Sitzecke bemerkte, verging ihm das Grinsen jedoch schlagartig.
»Hast du noch nicht genug?«, schrie er mich an und warf den Strauß auf den Küchentisch. »Für dich, mein Hase!«, fügte er hinzu.
Mir drehte sich der Magen fast um, als meiner Mom bei dieser herzlosen Geste ein Lächeln übers Gesicht huschte. Sie sah sogar verlegen zu Tisch, als ob diese Tankstellenblumen etwas Wertvolles wären, als ob Scott etwas Besonderes wäre. Er war speziell, aber das sicherlich nicht im positiven Sinne.
Scott krempelte die Ärmel seiner gefälschten Sportjacke hoch und stand mir drohend gegenüber – nur der Esstisch war zwischen uns.
»Hast du es ihm noch nicht gesagt?«, rief Scott. Meine Mutter schüttelte nun schüchtern den Kopf. Sie blickte erneut zu Tisch, aber sah nun nicht mehr annähernd so erfreut aus wie vorhin.
»Was gesagt?«, brüllte ich aufgebracht.
»Wir werden heiraten«, gab Scott zurück. »Nicht wahr, mein Hase?« Meine Mutter nickte eifrig, sah aber alles andere als glücklich aus.
»Spinnst du jetzt völlig?«, schrie ich meine Mutter an und es tat mir augenblicklich leid. Aber ich war so entsetzt.
»Wie redest du mit deiner Mutter?«, spielte Scott sich als Gutmann auf, der in Wahrheit wie ein alter Mafiaboss aussah.
»Erklär mir mal lieber, warum du meine Mutter verprügelst.« Ich sprang auf und kletterte über den Tisch. Mom griff nach dem Glas, damit es nicht zu Bruch ging. Ich stand nun direkt vor Scott. Er sah mich mit seinem widerlich-grimmigen Gesicht an und ich war bereit, ihm eine zu verpassen.
»Du hast es versprochen!«, mischte sich meine Mutter nun ein und blickte mich mit ihren Kulleraugen an. Ihr zuliebe wich ich zurück.
»Und jetzt verpiss dich hier!« Scott zog Rotze nach oben und spuckte mir auf die Schuhe. Es war ekelhaft und ich ging ihn reflexartig an. Ich drückte ihn an die Küchenwand und presste seinen Kopf mithilfe meines Unterarms gegen die Wand.
»Skyler!«, schrie meine Mutter. »Hör auf damit.« Ich drehte mich zu ihr um, ließ Scott aber nicht los.
»Sag es ihm!«, forderte Scott meine Mom eindringlich auf.
»Skyler …« Sie atmete schwer, während sie diesen Satz beendete. »Es ist besser, wenn du gehst.«
Ich ließ Scott abrupt los, mein Herz setzte aus und ich hatte das Gefühl, als hätte mir jemand den Boden unter den Füßen weggezogen – allerdings nicht wie bei meinen Saltos. Es war weder schön noch befreiend, sondern beängstigend.
»Mom?«, brachte ich kleinlaut hervor.
Scott rappelte sich auf und stand jetzt direkt neben meiner Mutter. »Klein Scott ist unterwegs«, erklärte er übertrieben stolz und mir blieb die Spucke weg. Scott tätschelte den Bauch meiner Mutter und legte seinen Arm um sie.
»Und warum schlägst du sie?«
»Skyler!« Es war meine Mom.
»Halt dich da raus, Kleiner!« Er machte wieder einen Schritt auf mich zu und schubste mich kräftig. Ich schaffte es, mich im letzten Moment am Türrahmen festzuhalten. »Geh!«, brüllte Scott mich an. Mir wurde schwindelig.
»Mom?!« Ich war verzweifelt.
Sie blickte zu Boden. »Es ist besser so.«