Mit jedem Schritt, den ich voranging, kam es mir vor, als würde ich bloß weglaufen. Ich war feige und hatte keineswegs nur die Erwartungen meiner Mutter, sondern auch die von Rachel und Tyson nicht erfüllt. Und das Schlimmste: Ich war sogar von mir selbst enttäuscht. Machte ich denn gar nichts richtig?
Die grellen Lichter der Nacht bohrten sich förmlich in meinen Kopf. Dort spielte sich eine unendliche Dramatik ab. Ich versuchte, immer wieder herauszufinden, wie es dazu kommen konnte. Wann war der Punkt gekommen, an dem ich versagt hatte?
Ich kickte einen herumliegenden Stein weg. Meine geballte Wut ließ ich durch meinen Fuß nach außen strömen. Es war, als hätte ich einen Auslöser betätigt. Mit einem Mal sah ich vor meinem inneren Auge, wie viel ich verloren hatte. Zwischen die Wut mischte sich auch Trauer.
Ich rannte, musste sie loswerden. Doch nichts befreite mich. Ich durfte unter keinen Umständen mehr vor mir selbst fliehen. Ich beschloss, mich Tyson und Myles zu stellen, ihnen zu sagen, dass ich versagt hatte, dass wir einen neuen Plan brauchten.
***
Als ich das Lager am frühen Morgen betrat, befanden sich Tyson und Myles bereits vor Ort.
»Wo zur Hölle warst du?« Es war Tyson, der mich nach meiner langen Abwesenheit so derbe anging. Jetzt kam auch Myles dazu. Er musterte mich von oben bis unten.
»Alles okay?«
Ich nickte ihm dankbar zu. »Hatte zu tun«, gab ich Tyson widerwillig zurück, der nun ganz andere Probleme bemerkte.
»Wie siehst du eigentlich aus, Mann?«
Ich blickte an mir herunter. Meine Kleidung war dreckig. Es wunderte mich kein bisschen, denn ich hatte seit einiger Zeit nicht mehr geduscht. Wo sollte ich meine Klamotten waschen? Es war mir unangenehm, darüber zu sprechen. Warum, das wusste ich nicht so genau, schließlich waren Tyson und Myles meine Freunde. Doch ich konnte ihnen nicht mehr alles anvertrauen. Ich fühlte mich alleine, wollte ihre Hilfe nicht und vor allem kein Mitleid.
Ich strich mir übers Auge, blickte dann zu meiner Hand. Ob sich die Wunden wohl bereits auf dem Weg der Besserung befanden? Ich hatte den Blick in Schaufenster und blecherne Tonnen vermieden, um mich nicht ansehen zu müssen. Es musste ein jämmerlicher Anblick sein und jetzt von meinen Kumpels darauf angesprochen zu werden, war wie ein Schlag ins Gesicht.
»Ach, hab geübt«, log ich.
»Geübt?« Ich konnte ihnen unmöglich sagen, dass ich nun obdachlos war. Für Tyson gab es ohnehin keine Ausrede für ein ungepflegtes Äußeres. Er selbst stylte sich immer – wenn auch auf seine ganz eigene Art und Weise. Doch irgendwie stand ihm sein sportlich-eleganter Look.
»Ja, für ein neues Fading«, log ich, denn in Wahrheit hatte ich schon ewig nicht mehr in mein Blackbook gezeichnet, aber der Gedanke an den fließenden Übergang zweier Farben gefiel mir. Am liebsten hätte ich neu angefangen, so wie die beiden Farbtöne auch in frischem Glanz erstrahlten. Immerhin reichte meine Ausrede für einen Themenwechsel, weil Tyson mir glaubte.
»Ach, dafür hast du also Zeit. Was ist mit Dee-Kay?«
Ich schluckte. Dieses Thema behagte mir noch weniger, allerdings gab es jetzt kein Zurück mehr.
»Er hat mich rausgeworfen.«
»Schon klar, wir waren dabei. Stimmt’s, Myles?«
Unser Freund nickte stumm.
»Ich meine …«
»Ja?«
»Er wollte das Geld nicht, hat es mir aus der Hand geschlagen.«
Jetzt sah Tyson mich wissend an. »Das hatte ich befürchtet.« Er schien nachzudenken, was mich verwirrte. Was wusste Tyson?
»Warum befürchtet? Was geht hier ab?«
»Es war zu wenig Knete«, gab er beiläufig zurück, aber ich projizierte meine gesamte Wut auf ihn. Die Bilder von Dee-Kay und seiner Neun-Millimeter schossen mir durch den Kopf. Ich hätte tot sein können!
»Dee-Kay hatte vor, mich wegen der verfluchten Scheiße abzuknallen!« Ich schrie, was Tyson keineswegs beeindruckte.
»Was ist mit dem Deal?«
»Der Deal ist geplatzt! Er hatte vor, mich zu erschießen, hast du das nicht kapiert?« Ich sprach es noch einmal aus, langsam und bewusst geformt: »Dee-Kay wollte mich töten!«
Jetzt wurde Tyson wütend, Myles schien es kommen zu sehen und warf sich dazwischen.
»Hey, beruhigt euch. Wir haben größere Sorgen.« Er zeigte auf die Reifen und wir wussten sofort, was er meinte.
Doch Tyson ließ nicht wirklich locker. »Der Deal ist geplatzt, weißt du eigentlich, was das bedeutet?« Seine Stimme nahm einen säuerlichen Tonfall an.
»Schätze schon.«
»Schätze schon?« Tysons Zorn blieb mir nicht verborgen. Ich schwieg. Er atmete tief ein und übersprang damit die ganzen Details. »Wann können wir den Deal wiederholen?«
Jetzt schluckte ich. »Gar nicht.«
»Gar nicht?« Tyson wurde richtig wütend. Das sah ich an seinen Augen. Er schnaubte und schrie mich an. »Was soll das heißen?«
»Tyson, er wollte mich abknallen!«
Er ignorierte, was ich ihm zum wiederholten Male versuchte, klarzumachen.
»Weißt du eigentlich, was das bedeutet? Wir haben hier zig Felgen stehen, für die es keine Verwendung gibt.«
Ich bemühte mich, ihn zu besänftigen. »Vielleicht kann Prince sie ja verkaufen.«
»Die Dinger sind geklaut, Sky! Schon vergessen?«
Er würde jeden Moment ausrasten. Tyson ging einen Schritt auf mich zu, er schnaubte und biss sich so hart auf den Unterkiefer, dass dieser dezent bebte. Das konnte ich sehen, weil er so dicht vor mir stand.
»Tyson!«, schrie ihn Myles wieder an. »Beruhig dich!« Es war ein seltenes Bild, aber die Vorfälle häuften sich. Tyson nahm die Sache zu ernst. Die illegalen Deals bedeuteten mittlerweile alles für ihn. Unsere Freundschaft war ihm egal. Er schubste mich leicht und ich begann zu taumeln. Ich war schwach. Die Nächte auf den Straßen machten mich kraftlos. Ob ich zu kämpfen bereit war, wusste ich nicht.
Plötzlich ein kräftigerer Stoß von Tyson.
»Wehr dich, du Pussy!« Er provozierte mich, aber es war mir gleichgültig. Ich bekam fast gar nicht mit, was er schrie, ich ahnte, dass es Beleidigungen waren, doch sie prallten alle an mir ab. Ich hielt es für das Beste.
»Tyson!« Myles riss unseren gemeinsamen Freund zurück und redete auf ihn ein. Ich nahm kaum noch etwas wahr, außer die glasige Welt um mich herum. Die Wirklichkeit verschwamm in diese unendlich vielen hellen Punkte, die sich mit der Zeit zu einem großen Ganzen zusammentaten und dann ins Dunkle übergingen.
»Alles okay?« Myles rannte zu mir, setzte mich auf den Boden. Tyson schien das Ausmaß zu erkennen, denn nun kam auch er zu mir herüber. Sie gaben mir Wasser zu trinken. Die weißen und schwarzen Flecken vor meinen Augen lösten sich trotzdem nur langsam auf. Die Situation war neu für mich, aber ich mochte sie nicht. Sie war mir fremd und ich wollte nicht, dass sich irgendetwas änderte. Doch dafür war es offenbar schon längst zu spät.
Es verging einige Zeit, in der wir stillschweigend nebeneinandersaßen. Ich schwieg, denn ich war dafür verantwortlich, dass das Geschäft mit Dee-Kay geplatzt war. Sie hatten allen Grund, sauer auf mich zu sein.
Tyson blickte zu Boden, während sich Myles im Lager umsah. Ich fragte mich, was wir jetzt mit den restlichen Reifen machen sollten. Ich war kraftlos, schaffte es nicht mehr, einen neuen Deal zu besorgen. Außerdem wollte ich keineswegs noch tiefer in die Sache hineingezogen werden.
Mir kam der Zeitungsausschnitt in den Sinn und damit der eigentliche Anlass, warum ich hier war. Vor diesem Hintergrund durchbrach ich die Stille.
»Ich muss mit euch reden, sofort!« Die beiden sahen sich an, überlegten kurz und willigten schließlich ein. Wir schlossen die Tür zum Lager, Myles setzte sich auf einen alten Karton, ich auf die Treppenstufe und Tyson auf einen der Reifen.
»Also, was gibt’s?«, eröffnete Tyson das Gespräch.
»Rachel, sie hat mir das hier gezeigt.« Ich präsentierte den Jungs die druckfrische Zeitung, die ich vorhin am Kiosk gekauft hatte, als ich auf den Weg zur Werkstatt war.
Tyson riss sie mir aus der Hand. »Ach du Scheiße!«
Myles sprang auf, um sich den Artikel ebenfalls anzusehen, und blieb dann mit offenem Mund stehen. »Alter, wir sind so was von geliefert!«
»Im Grunde genommen wurde nur ich erkannt«, erklärte ich kleinlaut.
»Im Ernst?« Tyson sah fast erleichtert aus.
»Ja, es gibt eine Täterbeschreibung.«
»Scheiße!«
Eine lange Pause entstand.
»Was machen wir jetzt?«, ergriff ich das Wort.
»Na, was wohl?« Für Tyson schien die Antwort klar zu sein. »Es geht weiter.«
»Weiter?« Hatte er das gerade wirklich gesagt? Auch Myles sah ihn schockiert an, aber sagte, wie so oft, nichts.
»Ja, wir können jetzt nicht aufhören!«
»Wir müssen!« Kapierte er denn gar nichts mehr?
»Sky, wenn wir jetzt aufhören, dann fallen wir hundertpro auf.«
»Das stimmt«, warf Myles ein, »wir müssen das Zeug erst loswerden.«
Tyson stellte sich auf. »Sky, wir erwarten dich morgen.« Er nickte Myles zu, der meinem fragenden Blick auswich und ebenfalls aufstand.
»Was meinst du?«, wollte ich wissen.
»Wir besorgen uns wieder ein bisschen Bares«, gab er kurz zurück, als ob es das Normalste von der Welt wäre.
»Wir wären beinahe aufgefallen!«, schrie ich ihn an und sprang jetzt auch auf. »Wir können nicht noch mehr Geld klauen!«
Ich musste wieder an unsere Flucht denken, wie uns die Frau mit ihrem Hund nachgerufen hatte, und an den Bankangestellten, der nur versuchte, seine bestohlene Kundin zu schützen. Es war unser erster Überfall auf eine Bank gewesen und ich wollte, dass es der Letzte blieb. Außerdem war morgen die Abschlussprüfung.
»Was ist mit den Prüfungen? Geht ihr nicht hin?«, wollte ich wissen.
Tyson schüttelte den Kopf. »Wir müssen den Verlust wieder reinholen. Ich will vorbereitet sein.«
»Und du, Myles?« Ich sah in seine kleinen Augen, die hilfesuchend auf Tyson starrten.
»Ähm … ich weiß nicht.«
Tyson drückte die Brust nach vorne. »Nein!« Er sah nun mich an. »Myles kommt nicht! Wir haben morgen Wichtigeres zu tun. Business!«
»Und was ist mit dem Abschluss?«
»Ist doch eh nix wert.«
»Du könntest hier rauskommen.«
»Ach quatsch. Hast du den Scheiß wieder von Rachel?« Jetzt starrten sie mich beide gespannt an und ich blickte zu Boden.
»Ich werde aufs College gehen«, gab ich möglichst cool zurück.
»College also.« Tyson lachte laut und heftig.
»Was ist?«
»Du willst aufs College? Du ?«
»Ja, hast du ein Problem damit?«
»Aber nein.« Er machte in Richtung Myles eine vielsagende Geste.
»Was soll das?« Ich merkte, wie die Wut in mir aufstieg.
»Mach dich nicht lächerlich!« Tyson ging zu den Reifen, die wir geklaut hatten.
»Was willst du damit sagen?«
»Ich will sagen«, er holte Luft, um zwei Felgen zu heben, »dass du nicht der College-Typ bist.«
»Ach nein, was bin ich deiner Meinung nach denn dann?«
Er lachte und drückte mir die zwei Autoreifen in die Hände. »Mehr der Reifen-Typ.« Auch Myles grinste jetzt.
»Das ist überhaupt nicht witzig.« Ich ließ die beiden Felgen zu Boden sacken.
»Myles?« Unser Freund verstummte. »Was sagst du dazu?«
Er sah erst mich, dann Tyson durch seine kleinen Augen an. Seine Antwort war ein Schulterzucken.
»Er findet’s beschissen, will’s dir nur nicht sagen. Hab ich recht?« Tyson ergriff das Wort und sah den hilflosen Myles an. Auch ich blickte zu ihm.
»Kann … kann schon sein.« Er stotterte und zuckte wieder mit den Schultern.
»Ich sag’s ja und jetzt hilf uns gefälligst!«
»Nein!«
Meine Freunde starrten mich an.
»Was soll das heißen, Mann?« Tyson war offenbar schockiert, dass ich mich ihm widersetzte. »Du hast ein Problem, wenn du nicht kommst! Denk an den geplatzten Deal. Du bist uns was schuldig.« Tysons Blick wurde kalt. Er war wild entschlossen, und wenn Tyson sich etwas in den Kopf setzte, dann ließ er niemals locker.
»Tyson, das können wir nicht machen!«, schrie ich.
»Du hast keine Wahl!«, brüllte er mich an und setzte sich in Bewegung, während er weitersprach. »Prince stellt mir hier auch nicht alles kostenlos zur Verfügung.« Er fuchtelte aufgebracht mit den Armen und schritt schließlich zu den Reifen. »Denk das nächste Mal daran, wenn du uns wieder im Stich lässt!« Tyson traf damit einen wunden Punkt. Dachte ich nur an mich?
»Was kann ich denn dafür?«, gab ich trotzdem unnahbar zurück. Allerdings verfehlte das seine Wirkung.
»Pass mal auf.« Tyson kam zu mir herüber. »Weißt du überhaupt, für wen wir uns so den Arsch aufreißen?« Ich starrte ihn nichts ahnend an. »Hab ich’s mir doch gedacht. Du hast den Deal platzen lassen. Du bist schuld, dass Prince uns einen Neuen besorgen musste und es ist dein Fehler, dass uns ein Haufen Kohle flöten gegangen ist. Also mach hier nicht einen auf Pussy und pack mit an!«
Ich hasste es, wenn er so mit mir sprach und eigentlich lehnte ich mich gegen seine dominante Art auf, aber diesmal nicht. Er hatte recht. Es war mein Verschulden, also musste ich es in Ordnung bringen. Außerdem brauchte ich das Geld, um aus South Brooks rauszukommen.
Tyson sah mich finster an, er wartete auf meine Reaktion und auch Myles hatte seine Arbeit niedergelegt, um das Schauspiel zu verfolgen.
Ich sah erst Tyson, dann Myles an und schließlich wieder Tyson. Ich griff mit einem Ruck zwei Reifen und beförderte sie zum Wagen. Das war meine Antwort. Ich war dabei.
***
Als sämtliche Autoreifen und Felgen verstaut waren, dämmerte es bereits. Der Transporter war riesig und die Reifenmenge der Wahnsinn. Wir hatten sie natürlich nicht alle an einem Tag mitgehen lassen, sondern nach und nach. Dee-Kay wollte damit eigentlich ein paar geklaute Fahrzeuge bestücken, doch wegen mir kam das Geschäft nicht mehr zustande. Wohin die Reifen nun verfrachtet wurden, wusste ich nicht. Aber all das, was Prince anfasste, war illegal. Prince ging seinem kleinen Bruder Tyson also mit ›gutem‹ Beispiel voran.
Myles holte drei kühle Biere aus der Werkstatt und öffnete sie der Reihe nach. Erst gab er Tyson eins, dann mir. Heute war ein besonders heißer Tag und so tat die Erfrischung gut. Neuerdings hing ich nicht mehr so oft mit den Jungs ab, was ich einerseits bereute, andererseits auch gut fand. Myles und Tyson hatten sich verändert.
Das Einzige, was uns seit jeher verband, waren unsere Erinnerungen, die albernen Tätowierungen und unsere Ketten. Trotz allem dachte ich gerne an die alten Zeiten zurück. Es war eine bessere Zeit – zumindest gab es da noch keinen Scott, der mir meine Mutter wegnahm. Dieser Gedanke schon wieder! Ich versuchte, ihn abzuschütteln, und nutzte die Gelegenheit, um mehr über den anstehenden Überfall zu erfahren.
»Was habt ihr vor?«
»Mit?« Myles gönnte sich gerade einen Schluck des Alkohols und machte ein erfrischtes Geräusch.
»Mit unserem … Geldbeschaffen«, sprach ich leise, obwohl ich wusste, dass wir alleine waren. Ich fühlte mich nirgends sicher.
»Diesmal wird es die GBB-Hauptzentrale«, sagte Tyson so ruhig, als würden wir nur besprechen, was wir heute Abend noch unternehmen wollten. Die GBB, also die »Giant Bank Brooks«, war die größte Bank im gesamten Umkreis. Sie verband alle Banken in South Brooks und war damit ein heißes Pflaster.
»Die GBB?« Ich spuckte fast meinen Schluck Bier aus.
»Ja, Mann, wir machen es so wie immer.«
»Aber beim letzten Mal ging es beinahe schief.«
»Jetzt krieg dich wieder ein, Sky! Wir machen es so und es wird klappen. Wann vertraust du mir eigentlich mal?«
Er war leicht sauer, allerdings wäre die ehrliche Antwort ›nie‹ gewesen, denn ich konnte Tyson keinesfalls trauen. Ich wusste schon lange nicht mehr, wozu er fähig war. Doch welche Wahl hatte ich?
»Wann geht’s los?«, fragte ich cool.
Tyson grinste. »Morgen früh, neun Uhr. Sei pünktlich.« Das war mitten im Prüfungszeitraum! Offenbar sah man mir meine Gedanken an. »Können wir auf dich zählen?«, hakte Tyson zähneknirschend nach.
Ich hatte zwar ein ungutes Gefühl bei der Sache und wusste nicht, wie ich beides vereinen sollte, aber ich willigte ein.
Der weitere Abend verlief ruhig, wir sprachen über alte Zeiten und ich war hin- und hergerissen. Auf der einen Seite verstanden wir uns gut, auf der anderen Seite waren meine Freunde mir plötzlich so fremd.
Tyson schnappte sich seine Schlüssel, dann verließen Myles und er das Lager und ließen mich zurück. Wie so oft waren da nur ich und die Stille, gepaart mit der Angst vor dem kommenden Tag.
***
Es war bereits stockdunkel, als ich die Werkstatttür hinter mir schloss. Alleine und ein bisschen angetrunken entschied ich mich dazu, den Weg zu Fuß zurückzulegen, obwohl das mit einem langen Fußmarsch verbunden war. Ich glaubte, die frische Luft würde mir guttun und das tat sie auch.
Eine kräftige Brise der angenehmen Sommerabendluft blies mir ins Gesicht und ich streckte die Nase höher, um mehr von diesem herrlich lebhaften und freien Gefühl zu erhaschen. Nach all den Schwierigkeiten war ich glücklich, dass es vorwärtsging. Ich würde die Stadt bald verlassen können. Meine Probleme würden verschwinden und sich alsbald in Luft auflösen.
Nur der Gedanke daran formte meine Gesichtszüge zu einem Lächeln. Ich vergaß, welche Hürden ich noch in Angriff nehmen musste, und ich dachte auch nicht darüber nach, was aus der Polizeiangelegenheit werden würde. Ich hoffte einfach darauf, dass sich in meinem Leben jetzt endlich alles zum Guten wenden würde.
Als ich von der Hauptstraße in die enge Gasse abbog, die neuerdings mein ›Zuhause‹ war, konnte ich schon von weitem das Licht des Feuers aufflackern sehen. Irgendwie war ich froh, mit Frank und Bob über all die Dinge reden zu können.
Aber umso näher ich kam, desto deutlicher erkannte ich, dass dieser Junge nichts mit Frank und Bob zu tun hatte. Es war ein recht kleiner Knirps, ich schätzte ihn auf neun Jahre, vielleicht zehn, höchstens elf. Er stand dort in Lumpen vor den Flammen, seine braunen Haarsträhnen im Gesicht hängend. Ich ging auf ihn zu, und als sich unsere Augen trafen, registrierte ich seine Angst.
Er lief bereits los, da rief ich ihm zu. »Warte!«
Der Kleine rannte noch ein Stück, ehe er stehen blieb.
»Ich will dich nur etwas fragen.« Ich machte keinen Schritt weiter auf ihn zu, wollte ihn nicht verängstigen.
»Was willst du?«, schrie er mir durch den Abstand zu. Seine Stimme war schrill, fast piepsig.
»Kann ich mich mit dir ans Feuer setzen?«
Der Junge zögerte mit einer Antwort. Was er genau tat, konnte ich aufgrund der Entfernung und der Dunkelheit nicht sehen.
»Sagst du es auch nicht meiner Mama?«
»Versprochen.«
Er kam zurück, musterte mich von Kopf bis Fuß und ließ sich vor den Flammen nieder.
»Ich bin Stan.«
»Sky.«
Ich setzte mich zu ihm, allerdings wechselten wir keine Worte. Eigentlich brauchten wir die lodernde Tonne nicht unbedingt, aber es war schön, denn es erhellte die Nacht und spendete uns Wärme. Obwohl es Sommer war, fror ich in der Dunkelheit – nicht zwingend vor Kälte, jedoch vor Einsamkeit. Die Gemütlichkeit des Feuers erinnerte mich an Geborgenheit und sie verband uns, all die verlorenen Seelen, die kein echtes Zuhause mehr hatten.
Nach einer Zeit wollte ich nicht länger schweigen.
»Stan, richtig?« Der Junge nickte eifrig. »Stan, sag mal, wieso bist du hier?«
Ich sah in sein Gesicht, auf dem sich Schatten von den Flammen abzeichneten. Er war nicht begeistert von meiner Frage.
»Warum willst du das wissen?«
»Du musst es mir nicht sagen.«
Wir schwiegen erneut. Doch dann unterbrach Stan die Stille.
»Ich mag den Typen meiner Mom nicht.« Er rollte mit den Augen. »Wir hatten Streit. Ich wollte weg.« Er schluchzte. Auch das noch!
»Hey!«, versuchte ich ihn zumindest ein wenig zu trösten. »Ich kann dich verstehen.«
»Ach ja?«
Ich war zwar sonst nicht so darauf bedacht, meine Gefühle offenzulegen, aber ich konnte Stans Situation absolut nachvollziehen und ich wollte nicht, dass ihm das Gleiche passierte wie mir. Das hätte ich mir niemals verzeihen können.
Stan sah mich mit seinen Augen erwartungsvoll an und ich erzählte ihm einen Teil meiner Geschichte. Die Gewaltakte von Scott ließ ich allerdings weg. Stan hörte aufmerksam zu und es tat gut, darüber zu sprechen.
»Wow!«, sagte er schließlich. »Wo ist dein richtiger Papa?«
Ich musste schlucken. Damit hatte ich auf keinen Fall gerechnet. Es war das Puzzleteil meines Selbst, das ich immerzu verdrängt hatte. Ich kannte ihn überhaupt nicht.
»Das ist nicht so einfach«, stammelte ich und der Junge sah mich noch immer mit großen Augen an. »Ich weiß nur, dass du besser nach Hause gehen solltest«, wechselte ich schließlich das Thema und war dankbar, dass Stan diesen Wechsel annahm.
»Ich habe keine Ahnung, wo das ist.« Er weinte schon wieder. Ich war zwar völlig übermüdet und auch ein wenig betrunken, aber ich konnte den Jungen keinesfalls im Stich lassen.
»Okay, ich werde dir helfen.«
»Wirklich?«
»Ja.«
Der Kleine freute sich und ich war froh, ihn so schnell umgestimmt zu haben. Ich dachte daran, wie Frank versuchte, für mich da zu sein und wie undankbar ich zu ihm war. Für mich war es zu spät.
Meine Mutter hatte unmissverständlich klargemacht, dass ich für sie gestorben war. Das versetzte mir beim bloßen Gedanken noch immer einen Stich in die Brust.
Aber ich durfte jetzt nicht an mich denken. Stan hatte die Möglichkeit, alles besser zu machen, und ich wollte ihm dabei helfen.
Wir sprangen beide auf und gingen in die dunkle Nacht hinein. Stan erklärte mir, wo er sich zuletzt aufgehalten hatte und dank meiner guten Ortskenntnis konnte ich mir sogar vorstellen, was er meinte.
***
Nach einer langen Fahrt bis ans andere Ende der Stadt, in einen Bereich namens Cuetown, kamen wir endlich bei Stans Zuhause an.
»Da, da ist es!«, schrie er aufgebracht.
»Bist du sicher?«
»Ja!«
Er rannte vor. Ich war nie zuvor in Cuetown gewesen, aber es gefiel mir hier. Schöne Häuser, ein bisschen wie in der Vorstadt, nur dass es hier noch recht städtisch war.
Als wir in Stans Straße einbogen, kamen dann jedoch die alten Reihenhäuser zum Vorschein. Also doch nicht so schick, wie es auf den ersten Blick aussah.
Ich wusste nur, dass es bereits spät war. Wie viel Uhr es genau war, konnte ich nur erahnen, denn eine Uhr hatte ich nicht dabei und mein Handy war nicht mehr aufgeladen. Ohne mich vorher zu informieren, rannte Stan los und klingelte aufgebracht. Ich lief ihm nach und erreichte ihn noch gerade rechtzeitig, als uns eine Frau mittleren Alters die Tür öffnete. Sie sah etwas kaputt aus – jedoch vor Sorge.
»Mama, Mama!«, schrie Stan und umarmte sie. Das zauberte mir ein Lächeln aufs Gesicht.
»Oh, mein Schatz, da bist du ja!« Sie küsste ihn. Dann erblickte sie mich und ihre Mimik verfinsterte sich. »Was wollen Sie hier?«
»Ich habe Stan draußen gefunden. Sie müssen besser aufpassen.«
»Sie wollen mir sagen, dass ich eine schlechte Mutter bin? Was haben Sie sich nur dabei gedacht, meinen Sohn nachts mitzunehmen?«
»Ich wollte doch nur helfen!«
»Mama, es stimmt«, mischte sich Stan ein, allerdings ignorierte sie ihn.
»Machen Sie, dass Sie hier wegkommen oder ich rufe die Polizei!« Wow, was für ein Miststück!
»Aber Mama!«
»Ciao, Stan.« Ich winkte ihm zu und sie starrte mich feindselig an.
Ich konnte nicht riskieren, dass sie tatsächlich die Bullen rief, weshalb ich mich lieber davonmachte. Auch wenn ich ein ungutes Gefühl hatte, Stan mit ihr alleine zu lassen. Aber immerhin hatte sie sich Sorgen gemacht, also war sie anders als meine Mutter.
Dieser Gedanke stimmte mich traurig und so kaufte ich mir am nächsten Kiosk ein Billig-Dosenbier, das ich in einem Atemzug wegtrank.
Ich blickte in den Himmel und sah mir das Sternenbild an. Sie alle funkelten so fröhlich vor sich hin. Ob mir einer von ihnen einmal Glück bringen würde? Ich bezweifelte es langsam stark. Völlig benommen von der Müdigkeit, der Anstrengung und dem Alkohol legte ich mich auf eine Parkbank und schlief ein.