Kapitel Zwei
E twa eine Stunde später fand sich David Radley mit einem Whiskyglas in der Hand wieder und beobachtete einige der anderen Gäste beim Tanzen.
Der riesige Sommerballsaal war voll mit hochrangigen Mitgliedern der Londoner Gesellschaft, die alle gekommen waren, um den frisch vermählten Marquis und die Marquise von Brooke zu feiern.
Er sah auf und lächelte an die reich verzierte und vergoldete Decke. Wie oft hatte er stolz Gäste beobachtet, die zum ersten Mal in Strathmore House waren und bewundernde Kommentare, über die mit Szenen aus Aesops Fabeln geschmückte Decke fallenließen. Er kannte jede der Geschichten auswendig, korrigierte schweigend den Neuankömmling, der falsch vermutete, und lächelte zufrieden, wenn dieser die Niederlage einräumte.
Zusätzlich zu den gewohnten Dekorationen in den beiden riesigen Ballsälen war eine Reihe imposanter goldener Banner an den Wänden aufgehängt worden. Auf jedem der Banner war das Strathmore-Wappen abgebildet: ein großer schwarzer Schild, auf dem ein goldenes Pferd prangte, das sich auf seinen Hinterbeinen aufrichtete. Über dem Pferd, das über einer Reihe von drei vier zackigen Sternen stand, befand sich eine Krone.
Er musste es seinem Vater zugestehen: Diese Nacht war nicht nur die Feier von Alex‘ Hochzeit, sondern eine Gelegenheit, wieder einmal die Macht und den Reichtum der Familie Radley hervorzuheben. Stumm hob er sein Glas auf das Wappen von Strathmore.
Von der Seite der Tanzfläche her beobachtete er die verschiedenen Paare, als sie eine Quadrille tanzten. Dabei war er nur halb bei der Sache, da er jede Form des Tanzes, bei der er keine Frau in den Armen hielt, als sinnlos erachtete.
Dem Genie, das den Walzer erfunden hatte, hätte er zu gern die Hand geschüttelt. Ein Tanz, bei dem ein Mann tatsächlich eine Frau berühren konnte, ohne dabei in Gefahr zu sein, gleich anschließend vor den Traualtar gezerrt zu werden. Ein Tanz, bei dem ein Paar Zeit hatte, sich zu unterhalten, ohne dass es jemand hören konnte. Kein Wunder, dass dieser Tanz unter den strengeren Müttern der unverheirateten Fräuleins des Ton verpönt war.
Ebenso wie sein Bruder Alex war auch David ein versierter Walzertänzer geworden, sobald der Tanz die Schwelle zur gesellschaftlichen Akzeptanz überschritten hatte. Bei jedem Ball und jeder Party, an denen sie teilnahmen, bemühten sie sich, eine Partnerin dafür zu finden. An Quadrillen und Menuett beteiligten sie sich nur unter Protest, oder wenn die betreffende Dame eine geeignete und willige Partnerin für andere nächtliche Aktivitäten war.
David Radley war jung, unverheiratet und mit dem Hauch von Illegitimität, der ihn umgab, ein Magnet, dem nur wenige Matronen des Ton widerstehen konnten. Dann fiel sein Blick auf seine letzte Eroberung, die wartend auf der anderen Seite des Saales verharrte. Er fluchte, bevor er schnell seinen Blick abwandte. Ausgerechnet heute Abend war er daran interessiert, die Aufmerksamkeit dieser Dame nicht auf sich zu ziehen. Anfang des Jahres hatte eine Bekanntschaft von drei Nächten auf dem Soho Square mit der harten, kühlen Gemahlin eines Politikers ihm endlich die Sinnlosigkeit seines Verhaltens als Lebemann offenbart.
Da Lady Clarice Langham sich jetzt seiner Liebe zu ihr bewusst war, widerstand er der Versuchung, eine neue Mätresse zu finden. Er spielte jetzt um höhere Einsätze.
«Wie war denn noch mal ihr verdammter Name?», murmelte er zu sich selbst, bevor er die Erinnerung aus seinem Kopf verdrängte. Die Zeiten, in denen gelangweilte Ehefrauen und fröhliche Witwen ihn für ihre sexuelle Befriedigung benutzen durften, waren vorbei. Er leerte das letzte Glas Whisky und reichte es einem vorbeikommenden Lakaien. Er räusperte sich leise. Wem wollte er denn etwas vormachen? Er hatte sie genauso oft benutzt, wie sie ihn benutzt hatten.
Nachdem er nun Zeuge geworden war, wie sein jüngerer Bruder freudig in die Arme des Eheglücks sprang, stellte er fest, dass seine Gedanken ständig zu seiner eigenen misslichen Lage als Unverheirateter zurückkehrten.
Als anerkannter Sohn des Herzogs von Strathmore wurde ihm ein gewisses Maß an Freiheiten innerhalb der Gesellschaft gewährt. In Bezug auf die Ehe waren die Dinge jedoch komplizierter. Die jüngere Tochter einer guten Familie würde in den Augen der Londoner Gesellschaft wahrscheinlich eine akzeptable Verbindung sein, aber die junge Dame, der David sein Herz geschenkt hatte, war eine ganz andere Sache.
Beim Abendessen hatte er angenehme zwei Stunden in Clarices Gesellschaft verbracht. Seine Schwester Lucy, die die Verkupplerin spielte, hatte sie so nah beieinander gesetzt, wie es die gesellschaftlichen Einschränkungen erlaubten.
Er lächelte. Um ehrlich zu sein, das Abendessen war wunderbar gewesen. Clarice hatte über all seine unerhörten Geschichten gelacht. Es war ihm nicht entgangen, dass sie mindestens zwei Gänge des Essens abgelehnt hatte, weil sie so sehr darauf bedacht war, ihm zuzuhören.
Ihre Lippen hingen an jedem meiner Worte.
Die Musik hörte auf, und Davids Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Er blickte sich um und sah Lucy auf sich zukommen.
«Wo warst du?», fragte sie, als sie an seiner Seite stehenblieb und seinen Arm ergriff.
«Was?»
«Ich habe dich seit Ewigkeiten gesucht. Als Nächstes kommt ein Walzer.»
Er zuckte mit den Schultern. Es war niemand im Raum, die er zum Tanzen auffordern wollte. Er nickte resigniert. Als Mitglied der Familie des Gastgebers sollte er sich mehr darum bemühen, sicherzustellen, dass alle Damen zu jeder Zeit einen Tanzpartner hatten.
«Ich verstehe. Mit welchem Fräulein möchte Mama mich tanzen sehen?»
Lucy gab ihm einen harten Schlag auf den Arm. «Nicht Mama. Ich, du Trottel. Ich habe nicht die ganze Woche damit verbracht, die Sitzplätze beim Abendessen neu zu ordnen, nur damit du sie am Ball im Stich lassen kannst.»
«Mama?», antwortete David völlig verwirrt.
«Nicht Mama. Clarice», schnappte Lucy. Sie gab ihm einen weiteren Schlag auf den Arm. «Du musst mit Clarice tanzen!»
David sah auf seinen schmerzenden Arm hinunter. Für eine junge Frau von guter Abstammung hatte Lucy einen ganz schön bösen Hieb.
«Bist du verrückt geworden? Du weißt, ich kann nicht mit ihr tanzen. Der Earl würde sich Strumpfbänder aus meinen Eingeweiden herstellen lassen.»
Lucy knurrte. «Lord Langham und Papa sind heute Abend damit beschäftigt, das Kriegsbeil in aller Öffentlichkeit zu begraben, also wird Langham kaum eine Szene mitten im Ball verursachen, oder?»
David schüttelte den Kopf. Clarices Vater hatte sehr deutlich gemacht, dass er David nicht als geeignete Gesellschaft für seine Tochter ansah. Der Marquis von Brooke war für den Earl eine ganz andere Angelegenheit gewesen.
Alex war ein legitimer Sohn und der Erbe des Herzogtums Strathmore. David hingegen war ein Bankert mit nichts als einer jährlichen Zulage. Nur der gute Wille seines Vaters verhinderte, dass er eine Militärkarriere aufnehmen oder dem Klerus beitreten müsste.
«Ich kann nicht, Lucy. Er hat mir verboten, mit ihr zu tanzen, und der Anordnung von Clarices Vater kann ich nicht zuwiderhandeln», antwortete er.
«Oh, du bist unmöglich!», jammerte Lucy. Sie warf die Arme hoch und stürmte davon.
«Daaavvvviiid, wo bist du gewesen, du ungezogener Junge?»
Als er seinen Namen auf diese Weise ausgesprochen hören musste, erinnerte er sich plötzlich an den Namen seiner ehemaligen Geliebten. Das unverbindlich-höfliche Lächeln fest ins Gesicht geklebt, streckte er die Schultern und drehte sich um.
«Mrs. Chaplin, wie schön, Sie wiederzusehen», antwortete er mit einer formellen Verbeugung.
Fiona Chaplin, die Gemahlin eines Kabinettssekretärs, antwortete mit einer perfekten Imitation vom Lachen eines jungen Mädchens und klimperte mit den Augenlidern.
«So haben Sie aber nicht mit mir gesprochen, als wir uns das letzte Mal getroffen haben.» Sie beugte sich vor und rieb ihre Hüfte provokativ an seinem Oberschenkel.
«Tatsächlich erinnere ich mich nicht so richtig an das, was gesagt wurde. Sie neigen dazu, Ihre Hände für Sie sprechen zu lassen. Alles, was ich weiß, ist, dass Sie mich gemieden haben.»
David schluckte. Es war einige Monate her, seit er sich von Mrs. Chaplin getrennt hatte. Jede Hoffnung, dass sie inzwischen einen neuen Bettgefährten gefunden haben mochte, zerstreute sich.
«Ich war einige Zeit in Schottland und bin seit meiner Rückkehr nach London beschäftigt gewesen», antwortete er.
Ich habe auch sehr deutlich gemacht, als wir uns das letzte Mal gesehen haben, dass unsere Affäre vorbei ist.
Eine sehr unangenehme Diskussion mit seinem Vater darüber, sich mit den Frauen anderer Männer einzulassen, hatte der Sache ein Ende gesetzt. Das Dröhnen der Standpauke seines Vaters klang ihm immer noch in seinen Ohren nach.
«Nun, keine Sorge. Ich vergebe es Ihnen, mich so sehr vernachlässigt zu haben. Zum Glück ist mein Mann die ganze nächste Woche nicht in der Stadt. Er begleitet den spanischen Botschafter und seine Frau auf einer Reise zum Priorat Lanercost in Cumbria. Wie furchtbar langweilig. Ich werde ganz allein zu Hause sein und Gesellschaft brauchen. Dann können Sie alles wieder gut machen», antwortete Fiona selbstgefällig.
David schüttelte den Kopf.
«Es tut mir leid, Mrs. Chaplin, aber als wir uns Anfang des Jahres trennten, war ich mir sicher, dass ich meine Ansicht deutlich gemacht habe.»
Sie stieß einen enttäuschten Seufzer aus. Dann schlug sie ihm mit ihrem gefalteten Fächer hart auf den Arm. Er zuckte zusammen. Es schien der Abend zu sein, an dem er ständig von unzufriedenen Frauen angegriffen wurde.
«Sie haben jemand anderes gefunden, nicht wahr?», fragte sie etwas zu laut. Diskretion war der Schlüssel zum Erfolg mit seinen früheren Mätressen gewesen, aber Mrs. Chaplin war nie jemand gewesen, die gewisse Regeln beachtete.
Sie trieb ihn in die Enge. Wenn er nein sagte, würde sie nicht von ihm ablassen. Wenn er ja sagte, würde sie wissen wollen, wer es war und ob die Dame ebenfalls hier anwesend war. Danach würde sie zweifellos den Rest des Abends damit verbringen, seine neue Geliebte auszuspionieren.
«Ich verfolge die Angelegenheiten nicht mehr, auf die ich keinen Anspruch habe», antwortete er.
Sein Stolz darauf, dass ihm eine so ehrliche, beredte Antwort eingefallen war, wurde durch den kalten Schweiß gemildert, der über seinen Rücken rann.
Fiona Chaplin trat näher. Nah genug, dass ihre Brüste vorn gegen seine Abendjacke rieben. Als sie aufblickte, schenkte sie ihm das verlockende Lächeln, das ihn mehr als einmal erfolgreich in ihr Bett gelockt hatte.
«Also gut, David, Liebling. Sie haben meine Erlaubnis, den Unnahbaren zu spielen. Ich mag es gern, mich vor dem Zubettgehen ein bisschen anstrengen zu müssen.»
Über Mrs. Chaplins Schulter hinweg erkannte er Lucy, die im Laufschritt herüberkam. Seine Schwester rümpfte die Nase, als sie die Frau sah, die an Davids Vorderseite klebte.
«Mrs. Chaplin, wie schön, Sie hier zu sehen», sagte Lucy, als sie die Seite ihres Bruders erreichte.
Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse. Seine Schwester wusste, mit wem sie es zu tun hatte, ohne das Gesicht von Fiona überhaupt gesehen zu haben.
Soviel zu diskreten Affären.
Die Frau des Politikers knickste tief vor Lucy. Seine Augenbrauen hoben sich. Eins musste er Fiona zugestehen. Sie war nicht mal zusammengezuckt, als Lucy sie ansprach. Vielmehr war sie beiläufig von ihm weggetreten und hatte dabei darauf geachtet, der ältesten Tochter eines Herzogs vollen Respekt entgegenzubringen.
«Mama hat gesagt, dass das Orchester in Kürze beginnen wird und dass Mr. Chaplin drüben bei den Fenstertüren wartet», sagte Lucy und starrte ihren Bruder scharf an.
«Oh, danke», erwiderte Mrs. Chaplin. Sie verabschiedete sich hastig und ging in die entgegengesetzte Richtung zu den Türen.
Lucy lächelte.
«Ich dachte, du wärst mit ihr fertig?»
Er runzelte die Stirn. Woher um alles in der Welt wusste seine Schwester von Fiona Chaplin?
«Ich weiß nicht, was du meinst», log er.
Lucy brummte frustriert. «Du glaubst doch wohl nicht, dass Papa dich zusammenstaucht, ohne dass das ganze Strathmore House davon hört? Zugegeben, es hat mich ein paar Münzen gekostet, den Grund dafür herauszufinden, aber ich halte es für gut angelegtes Geld.»
Wieder einmal und wie schon viel zu häufig, hatte David den fatalen Fehler gemacht, seine jüngere Schwester zu unterschätzen.
«Du solltest die Diener nicht bestechen. So was macht man nicht», antwortete er.
«Angesichts der Tatsache, dass ich das von niemand anders als dir und Alex gelernt habe, denke ich, dass es etwas zu spät ist, mir Belehrungen über die Moral des Bezahlens für Informationen zu halten. Wie auch immer, ich bin nicht hierher zurückgekehrt, um mit dir darüber zu diskutieren, was ich von deinen Ausschweifungen halte. Ich bin zurückgekommen, damit du mir nachher dafür danken kannst, dass ich deinen Abend gerettet habe.»
David neigte sich vor und gab seiner Schwester einen Kuss auf die Wange.
«Danke. Ich wusste nicht, wie ich Mrs. Chaplin loswerden sollte», murmelte er.
Sie drückte ihn von sich. «Nicht, weil ich dich vor dieser schrecklichen Frau gerettet habe. Sondern weil ich einen Weg gefunden habe, wie du zu einem Tanz mit Clarice kommst!»
Er seufzte. Lucy gab niemals auf. «Es ist unmöglich», antwortete er.
Sie wedelte mit dem Finger in seine Richtung, und David wusste, dass sie seine Antwort nicht akzeptieren würde.
«Ich habe eine Lösung gefunden. Du wirst mit mir den Walzer tanzen», verkündete sie zufrieden.
«Was ist denn das für eine Lösung?», antwortete er.
Lucy beugte sich vor.
«Vertrau mir, lieber Bruder. Alles wird sich zum Guten wenden. Jetzt komm, wir müssen Papa finden.»
Der letzte Teil von Clarices Abend wurde so langweilig, wie sie gehofft hatte. Sie betete, dass ihre Anwesenheit beim Hochzeitsfest bei allen außer den schärfsten Beobachtern unbemerkt bleiben würde. Ihr Vater hatte glücklicherweise nicht mitbekommen, wie David ihr Leben gerettet hatte, und sie beabsichtigte, dafür zu sorgen, dass das so blieb. Sie konnte die Aussicht auf ein Dutzend oder mehr messerscharfe Fragen nicht ertragen, die ihr Vater stellen würde, wenn er es wüsste.
Nach dem Ende des Abendessens im verhältnismäßig kleinen Kreis versammelten sich alle Gäste in den beiden riesigen angrenzenden Ballsälen. Sie hatte vorgehabt, einen schönen ruhigen Ort zu finden, an dem sie sitzen und sich verstecken konnte, ohne wirklich verborgen zu sein. Aber ihr Vater hatte beschlossen, dass eine weitere Demonstration der Einheit der Familie Langham erforderlich war. Sie stand neben ihm und beobachtete, wie Paare über das Parkett des riesigen Sommerballsaals glitten. Sie vertrieb sich die Zeit damit, mitzuzählen, wie oft ihr Vater einen Kommentar zur Größe von Strathmore House abgab. Eine Münze für jedes Mal, wenn er Geld erwähnte.
«Ich möchte gar nicht darüber nachdenken, was Strathmore bezahlt, um diesen Ort im Winter zu heizen. Ich habe allein in diesem Raum zehn Kamine gezählt», sagte Earl Langham.
Sie steckte innerlich einen weiteren Penny in ihre Tasche.
Ihr Vater sah sie an und schaute dann zurück zur Tanzfläche. In der Mitte seiner Stirn erschien eine Furche, von der Clarice wusste, dass sie niemals ein gutes Zeichen war.
«Du solltest tanzen, meine Liebe. Ich bin sicher, ich könnte mich umsehen und einen oder zwei Partner für dich finden, wenn du das willst.»
Clarices bereits düstere Stimmung verdunkelte sich weiter. Das Letzte, was sie brauchte, war, dass sich die Geschäftspartner ihres Vaters in langer Schlange anstellten, um ihre Pflicht ihm gegenüber zu erfüllen und seine Tochter durch einen Tanz zu führen.
Sie sah auf ihr tristes, schlecht sitzendes Abendkleid hinunter. Sie hatte vergessen, ihre Lieblingsperlenkette anzulegen, und so fiel ihr Kleid wie ein graues Totenhemd bis hinunter auf ihre Tanzschuhe. Ihre schwarzen Schuhe lugten unter dem Saum ihres Kleides hervor.
Kein Wunder, dass die jüngeren Herren des Ton nicht nach ihrer Tanzkarte fragten. Lange nachdem ihr Vater und ihre Großmutter ihre Trauer über den Tod der Gräfin Langham überwunden hatten, hatte Clarice sich immer noch ganz in Schwarz gehüllt.
Der Tanz endete, und zum ersten Mal seit dem Abendessen fiel ihr Blick auf David. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie sehen, dass er eine ziemlich lebhafte Diskussion mit Lucy führte, an deren Ende Lucy ihre Arme hochwarf und wegging.
Ungewöhnlich.
Von noch größerem Interesse für sie war die nächste Person, mit der David am Rand der Tanzfläche sprach. Eine ältere Matrone trat an ihn heran und zeigte wenig diskretes Interesse an ihm.
Clarice blinzelte. Obwohl sie den Namen der älteren Frau nicht kannte, war es offensichtlich, dass er und die Dame mehr als nur Bekannte waren. Mit ihrem Handfächer ging sie geradezu auf ihn los. Clarice hatte in den Jahren, die sie in der gehobenen Gesellschaft verbracht hatte, genug gesehen, um etwas darüber zu wissen, wie es in der Welt zuging. Fremde verhielten sich nicht so zueinander.
«Mrs. Chaplin. Ihr Gemahl hat einen recht hohen Posten im Außenministerium», sagte ihr Vater. Sie bemerkte den entschiedenen Ton der Missbilligung in seiner Stimme, bevor sie als Antwort kurz mit dem Kopf nickte.
«Denk an das, was ich dir gesagt habe. Leute wie er sind kein Umgang für eine Dame von so hoher Qualität, wie du es bist. Dir steht Besseres zu», fuhr er fort.
«Ja, Papa», antwortete sie.
Als Mrs. Chaplin David stehenließ, verspürte Clarice ein ungewohntes Gefühl der Erleichterung. David hatte überhaupt kein Interesse an der Frau gezeigt. Für ihren Geschmack hatte er eher unbehaglich ausgesehen. Sie hatte Mühe, ihre unerwartete emotionale Reaktion auf eine Dame zu verstehen, die versuchte, Anspruch auf David zu erheben.
Hatte sie gerade zum ersten Mal den Schmerz der Eifersucht gespürt?
Der Earl klopfte ihr auf den Arm und zeigte auf Lord Strathmore, der jetzt auf sie zukam.
«Langham, genießen Sie den Abend?», fragte der Herzog. Die beiden Männer gaben sich die Hand und tauschten ein Lächeln, ein weiteres Zeichen der Freundschaft für jeden, der zufällig zusah.
Clarice lächelte Lord Strathmore an. Dankbar, dass zwischen den beiden alten Freunden Frieden geschlossen worden war, war sie glücklich, ihre Rolle zu spielen.
«Und Clarice, warum tanzen Sie nicht? Ich bin sicher, es gibt viele junge Männer, die heute Abend gerne mit Ihnen tanzen würden», sagte der Herzog.
Sie errötete, seine Aufmerksamkeit machte sie verlegen.
«Ich habe vergessen, eine Tanzkarte mitzubringen», antwortete sie, ohne zu erwähnen, dass sie es absichtlich getan hatte.
«Nun, das geht einfach nicht», antwortete er. Der Herzog verneigte sich und bot Clarice seine Hand an.
«Darf ich?»
Sie warf ihrem Vater einen kurzen Blick zu und bemerkte sein zustimmendes Nicken.
«Danke, Euer Gnaden. Ich würde mich freuen», antwortete sie.
Sie nahm den Arm des Herzogs und begleitete ihn auf die Tanzfläche. Die ersten Töne eines Walzers klangen auf.
«Mögen Sie Walzer, Lady Clarice?», fragte der Herzog mit einem Lächeln.
«Ja, aber ich würde nicht sagen, dass der Walzer diese Liebe meinerseits erwidert», antwortete sie.
Er lachte. «Vertrauen Sie mir, ich werde Sie nicht an etwas scheitern lassen, das Sie so lieben.»
Es brauchte keinen besonders hellen Verstand, um Lucys Plan zu durchschauen, als sie und David mit dem Walzer begannen. Am Ende der ersten Runde erspähte er Clarice auf der anderen Seite der Tanzfläche. Sie befand sich in den Armen seines Vaters, der sich freundschaftlich mit ihr unterhielt. Clarice lächelte Ewan an und lachte sanft als Antwort auf seine Worte.
Genau in diesem Moment stieß Lucy ein Wimmern aus, und als David nach unten blickte, sah er einen schmerzhaften Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie verlangsamte ihre Schritte, und er musste seine Füße einziehen, um nicht auf ihre Zehen zu treten.
«Was ist los?», flüsterte er.
«Oh, mein Rücken. Ich habe einen schrecklichen Stich gespürt», antwortete Lucy. Sie ließ seinen Arm los und legte eine Hand in ihren Rücken.
«Sollen wir aufhören? Ich könnte dich zu einem der Stühle an der Wand begleiten, wenn du willst, damit du dich ausruhen kannst», antwortete er.
Lucy schnappte nach Luft und ergriff schnell wieder seine Hand, um den Tanz fortzusetzen.
«Aber nein, es wird schon gehen. Man muss sich bei solchen Veranstaltungen einfach durchkämpfen. Familienerwartungen und so weiter.»
David sah noch einmal auf seine Schwester hinunter. Ihr plötzliches Unwohlsein schien sich nicht nachteilig auf ihre Bewegungen auszuwirken. In der Tat, wenn ihn nicht alles täuschte, dann war sie es, die den Tanz führte.
Langsam näherten sie sich Clarice und dem Herzog. Als Lucy gekonnt ein paar anderen Gästen auswich, fing David an, Lunte zu riechen.
«Also, du hast dich jetzt erholt und der Schmerz ist weg?», wagte er zu fragen.
Sie seufzte traurig und antwortete müde. «Nein.»
Er unterdrückte ein Schnauben.
Sie zogen neben dem Herzog und Clarice, woraufhin Lucy stolperte und ihr Vater Clarice schnell losließ, um seine Tochter aufzufangen.
«Oh Papa, danke, du hast mich gerettet!», rief sie aus und umklammerte heftig seinen Arm.
Im Laufe der Jahre hatte er Lucy zu vielen Theaterstücken begleiten müssen, deshalb wusste David genau, woher sie ihren Sinn für Melodramatik hatte.
Der Herzog half Lucy, wieder Fuß zu fassen. «Mein armes Mädchen, was um alles in der Welt ist los?»
Sie klapperte hastig mit den Wimpern und fächelte sich mit den Fingern Luft zu «Ich habe keine Ahnung. Mir ist ganz plötzlich schwindelig geworden.»
«Ich dachte, du hättest dir den Rücken verletzt», antwortete David. Lucy warf ihm einen Blick zu wie einen Pistolenschuss.
«Mein Rücken hat wahrscheinlich den Schwindelanfall ausgelöst», sagte sie.
David verdrehte die Augen und gestand die Niederlage ein.
«Nun, was auch immer die Ursache für dein Unwohlsein sein mag, du kommst jetzt mit mir. Wir werden deine Mutter aufsuchen. Ich bin sicher, sie wird wissen, was zu tun ist», sagte Lord Strathmore und legte einen Arm beruhigend um seine Tochter.
«Bitte entschuldigen Sie, Clarice. David, würdest du bitte meinen Platz für den Rest des Tanzes einnehmen?»
Als sein Vater Lucy wegführte, stand David da und verbarg sein heimliches Lachen. Er wandte sich an Clarice und lächelte.
«Sie ist gut, meine Schwester. Das muss ich ihr zugestehen.»
Clarice wandte ihren Blick vom Rückzug ihres Tanzpartners ab und sah stattdessen ihn an.
«Also da wären wir, Mr. Radley. Was schlagen Sie vor, wie wir fortfahren sollen?»
«Sie kennen das Edikt Ihres Vaters. Er wird uns nicht erlauben, zusammen zu tanzen», antwortete er, und sein Lächeln verschwand.
Sie murmelte leise; und wie nicht anders zu erwarten, verhärtete sich sein Körper als Reaktion darauf, wie immer, wenn er ihr nahe war.
«Ja, und er schaut zu. Er und Ihr Vater scheinen sich wieder versöhnt zu haben, aber ich möchte das Ausmaß der Versöhnung nicht auf die Probe stellen, indem ich ihm nicht gehorche. Er war vorhin böser Stimmung, und ich denke, seine Fassade ist ziemlich bröckelig.»
Sie gingen zur anderen Seite des Ballsaals, weg von den Tänzern und ihrem Vater. David fühlte sich wie der Wolf, der ein Schaf von der Herde getrennt hatte. Ein Schaf, das sich schnell in einen Löwen verwandelte.
«Ich habe gesehen, wie Sie mit Mrs. Chaplin gesprochen haben. Ist sie eine Freundin der Familie?», fragte Clarice und entzog ihm ihre Hand.
Ein eisiger Finger der Vorahnung berührte ihn an der Schulter. Wenn Clarice seinen Austausch mit Fiona Chaplin gesehen hatte, wie lange würde es dauern, bis sie die wahre Natur seiner Beziehung zur Gemahlin des Politikers erkannte?
Er knirschte frustriert mit den Zähnen. Er war ein Dummkopf gewesen, seiner ehemaligen Geliebten zu erlauben, sich so offen auf ihn zu stürzen. Jetzt, da Clarice und wahrscheinlich ihr Vater den Austausch gesehen hatten, konnte er nur noch lügen.
Er hasste sich dafür.
«Ja, sie ist eine alte Freundin der Familie. Leider hatte sie beim Abendessen übermäßig viel Wein getrunken und fand den Boden etwas rutschig. Ich musste sie auf den Beinen halten.»
In dem Moment, als er die Worte sagte, konnte er sich vorstellen, wie sich eine Schaufel in den Boden grub und das Loch, in dem er stand, noch weiter vertiefte.
«Oh, die Ärmste. Es war ein Glück, dass Sie zur Stelle waren, um ihr zu helfen. Zweimal heute Abend waren Sie ein Held.»
Ihre Blicke trafen sich, und sie starrten einander schweigend an. Ihm fiel einfach nichts ein, was die Situation verbessern würde.
«Würden Sie mich bitte zu meinem Vater zurückbringen?», fragte Clarice, als sie schließlich blinzelte.
Sie ergriff Davids Arm, und sie begannen den langen Weg zurück durch den Raum, dorthin, wo Lord Langham wartete.
Davids Abend wandte sich langsam zum Schlechten. In Clarices Gesicht hatte sich zwar nur der leiseste Hauch einer Emotion gezeigt, als er sie dreist angelogen hatte, aber es war genug, zu wissen, dass sie seiner Geschichte nicht glaubte. Er spürte, dass sie ihn viel länger vernichtend hätte anstarren wollen, als sie es tatsächlich getan hatte.
«Würden Sie mich zu einem Imbiss begleiten?», fragte er. Lucy behauptete immer, Essen sei ein guter und sicherer Weg, um ein misslungenes Gespräch mit einer jungen Dame zu retten.
Er sah Clarice an, wie sie neben ihm ging, und sah, dass sie den Kopf schüttelte.
«Danke, nein. Meine Freundin Lady Susan Kirk ist soeben gekommen, und ich muss einige Zeit mit ihr verbringen. Ich danke Ihnen, dass Sie mich von der Tanzfläche zurückgebracht haben, aber ich fürchte, ich kann Sie nicht länger davon abhalten, sich unter die anderen Gäste zu mischen.»
Lord und Lady Kirk und ihre Tochter führten gerade einen angenehmen Austausch mit Lord Langham, als David Clarice schließlich auf die andere Seite des Ballsaals brachte. Er verbeugte sich vor dem Earl und dem Viscount und erhielt von Lord Langham und Lord Kirk gerade mal ein kurzes Kopfnicken zur Antwort. Unter normalen Umständen erkannten beide Männer kaum an, dass er überhaupt existierte.
Zum Teufel mit euch beiden.
David wusste genau, dass sie ihn überhaupt nur deshalb begrüßt hatten, weil sie im Ballsaal von Strathmore House standen.
Als Clarice seinen Arm losließ und zur Begrüßung Susans Hände ergriff, bemerkte er, wie Lady Susan ihm ihren üblichen missbilligenden Blick zuwarf.
«Du hast aber hoffentlich nicht mit ihm getanzt?», flüsterte Susan Clarice zu, aber laut genug, dass David es hören konnte.
Er lächelte Susan an und gratulierte sich schweigend, dass er den Köder nicht genommen hatte.
Du denkst, du bist die Erste, die mich in der Öffentlichkeit bloßstellen will? Ich werde mich an diesen Moment erinnern, wenn es dir mit aller Not gelingt, den sechsten Sohn eines mittellosen Barons auf dem Heiratsmarkt zu ergattern. Gott weiß, dass kein wohlhabender Mann sich jemals an eine solche Kratzbürst e binden würde.
«Meine Schwester hat sich auf der Tanzfläche den Rücken verletzt. Ich habe nur dafür gesorgt, dass Lady Clarice sicher zu ihrem Vater zurückgebracht wurde», antwortete er und dämpfte den Zorn, der in ihm aufstieg.
«Ladies», sagte er. Er verbeugte sich tief vor den Frauen und ging.
Er atmete schwer und suchte den nächsten Lakaien mit einem Tablett mit Getränken auf, den er finden konnte. Er streckte die Hand nach einem Glas Whisky aus, hielt aber inne, als er sah, dass seine Faust immer noch fest geballt war.
Er winkte den Diener weg. Während sein eigener Abend einen unbefriedigenden Punkt erreicht hatte, war er entschlossen, nicht in die Falle zu tappen, sich mit Alkohol zu betäuben. Dies war das Fest von Alex und Millie. Er würde es ihnen nicht verderben, indem er sich bis zur Besinnungslosigkeit betrank.
Sein persönliches Credo war, Trinken diente zwar dem Amüsement, aber es erforderte einen nüchternen Geist, um eine rasende Wut unter Kontrolle zu halten. Nach einem langen Blick in den Ballsaal, gefüllt mit der Crème de la Crème der Londoner Gesellschaft, schalt er sich leise. Als Mitglied der Gastgeberfamilie war er in seinen Pflichten nachlässig. Es gab Geschichten zu erzählen und zu lachen. Während Lord Langham und seine Freunde nicht an seiner Gesellschaft interessiert waren, so gab es doch genügend andere Anwesende, die auf ihn warteten.
Er erspähte seinen Cousin Bartholomew in der Nähe einer Gruppe von Gästen und machte sich mit einem derben Witz auf den Lippen auf den Weg zu seiner Beute.
«Ich kann nicht glauben, dass du tatsächlich zugelassen hast, dass er deine Hand hält», spöttelte Lady Susan eine Weile später. Bei dem angewiderten Ausdruck auf ihrem Gesicht drehte sich Clarice der Magen um.
«Wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre, hätte ich ihn auf der Tanzfläche stehen lassen. So einer, wie er verdient nichts Besseres.»
Warum Susan David so wenig schätzte, hatte Clarice nie wirklich verstanden. Zuerst dachte sie, es lag daran, dass er nicht das geringste Interesse an ihr zeigte. Aber schließlich war sie zu dem Schluss gekommen, dass es Susan ein Gefühl der Überlegenheit verlieh, auf jemanden herabblicken zu können.
Sie hatte gehofft, Lady Susan Kirk, die Freundin, die Vater ihr aufgezwungen hatte, würde heute Abend nicht anwesend sein, aber das Schicksal hatte es anders bestimmt. Nachdem Lord Kirk angeblich ein Vermögen durch eine kürzlich getätigte Fehlinvestition verloren hatte, war klar, dass seine Tochter sich die Hand des ersten geeigneten Mannes sichern musste, der ihr die Ehe anbot. Große Gesellschaften waren das perfekte Jagdrevier für potenzielle Ehepartner.
«Mr. Radley war einfach ein Gentleman. Er war zur Stelle, als Lady Lucy ohnmächtig wurde», antwortete Clarice.
Susan hob eine Augenbraue.
Clarice stand inmitten des völlig überfüllten Sommerballsaals und konnte soeben die vertraute Figur von David ausmachen, wie er sich durch den Raum arbeitete. Bei jeder Gruppe von Gästen hielt er an und unterhielt sich kurz, wobei die anderen Gäste immer lächelten.
Die Leute, bei denen er in diesem Augenblick stand, hörten ihn mit vor Staunen aufgerissenen Augen andächtig zu. Sie alle verstummten für einen Moment, bevor lautes Gelächter aus der Gruppe aufstieg, gefolgt von einem anerkennenden Applaus. David bedankte sich mit einer Verbeugung, die eines Bühnenkünstlers würdig war.
«Charmeur», flüsterte sie.
«Verzeihung?», fragte Susan.
«Nichts.»
Susan stieß ein missbilligendes Geräusch aus. «Du bist heute Abend wirklich recht unausstehlich, Clarice, Schatz. Jeder würde denken, du hättest andere Dinge im Kopf. Ich mache mir manchmal Sorgen darüber, was in deinem Kopf vorgeht. Persönlich denke ich, es liegt daran, dass du zu vielen Büchern gelesen hast.»
«Hmmm», murmelte Clarice. Ihr Blick war immer noch fest auf einen bestimmten dunkelhaarigen Gentleman gerichtet.
Die Perlen von Susans übergroßem Täschchen streiften Clarices Arm. Sie drehte sich überrascht um, stellte jedoch fest, dass Susan passenderweise plötzlich den Kopf weggedreht hatte.
Hat sie mich gerade geschlagen?
Clarice sah auf die hässliche, mit unzähligen Perlen besetzte Tasche hinunter, entschied sich aber gegen einen Kommentar. Susan war nie besonders subtil, weder in ihrem Sinn für Mode noch in ihren Manieren.
«Möchtest du mit mir den Imbiss einnehmen?», wagte sie zu fragen. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war, Susan in schlechte Laune zu versetzen. Gemäß ihrem Vorsatz für diesen Abend würde sie sich bemühen, Frieden zu bewahren.
Susan wandte sich zurück zu Clarice und nickte zustimmend.
«Ich verstehe immer noch nicht, warum du Lord Brooke nicht dazu gedrängt hast, dich zu heiraten. Er hätte keine andere Wahl gehabt, wenn du das getan hättest. Dieser Abend hätte deine Hochzeitsfeier sein können, Clarice, und eines Tages wärst du die Herrin dieses Hauses gewesen. Du hättest das alles haben können», sagte Susan mit einer ausschweifenden Handbewegung.
«Stattdessen lässt du ihn das im Ausland geborene Mädchen heiraten. Um Himmels willen, Clarice, sie hat einen Ring in der Nase!»
Clarice warf einen letzten Blick durch den Raum zu David, bevor sie neben Susan trat, um mit ihr gemeinsam zum Speisesaal zu gehen.
«Du weißt genau, warum ich ihn nicht gezwungen habe. Alex hat einen Liebesbrief an das falsche Mädchen geschickt. Er sollte nicht den Rest seines Lebens damit verbringen müssen, dafür bestraft zu werden, dass er einen solchen Fehler gemacht hat. Er liebt Millie, und sie sind glücklich. Ich jedenfalls bin mit dem Ergebnis mehr als zufrieden», antwortete Clarice.
Zu keinem Zeitpunkt würde sie die Tatsache erwähnen, dass sie jetzt wusste, dass es David war, der den Brief für seinen schreiberisch nicht besonders bewanderten Bruder geschrieben hatte. Oder gar, dass Clarice Davids Muse bei diesem Unterfangen gewesen war.
Susan schnaubte angewidert.
Während Clarice erleichtert war, dass die Situation mit Alex nun gelöst war, hatte sich die Angelegenheit mit David dadurch erst richtig verkompliziert. Er hatte sie heute Abend angelogen, und sie verstand nicht, warum er das für nötig hielt.
Oder warum es ihr so weh tat.
Im Speisesaal war eine Fülle erlesenster Köstlichkeiten aufgebaut worden. Die Tische waren mit allerlei Gebäck, Torten und süßem Eis beladen. Clarices Augen weiteten sich bei dem Anblick. Bei der Menge, die sie beim Abendessen hatte essen müssen, bezweifelte sie, dass in ihrem Magen noch Platz genug war für mehr als nur die kleinsten Bissen.
Sie nahm eine kleine Hühnchenpastete und knabberte daran, während Susan sich Essen auf einen Teller häufte.
«Mama hat mich zu Hause auf diese strenge Diät gesetzt. Ich bekomme Suppe zum Abendessen und sehr wenig für den Rest des Tages», beschwerte sich Susan. Sie nahm neben Clarice in der hinteren Ecke des Raumes Platz.
Clarice nickte abwesend. Sie hatte kein Wort von dem gehört, was Susan gesagt hatte, seit sie den Hauptballsaal verlassen hatten. Gelegentlich zu nicken war immer sicher, wenn sie vorgab, in Gedanken bei ihrer Freundin zu sein.
Er kann eigentlich nicht glauben, dass aus uns etwas werden kann, oder? Nur ein sehr mutiger Mann oder ein Narr würde es mit meinem Vater aufnehmen.
«Das würde er doch nicht machen, oder?», murmelte sie vor sich hin.
Susan stand auf, drehte sich um und schob ihren immer noch halbvollen Teller in Clarices Hände.
«Ich weiß nicht, was heute Abend in dich gefahren ist, Clarice, aber du bist außergewöhnlich unhöflich. Ich nehme an, du hältst dich für etwas Besseres als mich, weil du eine Einladung zum Dinner im kleinen Kreis erhalten hast, aber …» Sie beugte sich zu Clarice, das Gesicht rot vor Wut.
«Glaub bloß nicht, dass deine Anwesenheit beim Abendessen mehr als ein Akt der Wiedergutmachung war. Lord und Lady Strathmore wissen, dass Alex dich und deinen Vater zum Narren gehalten hat. Sie versuchen einfach, die Dinge zu glätten, und hoffen, dass jeder diese hässliche Szene beim Bischofsball vergisst. Obwohl ich bezweifle, dass irgendjemand jemals das Drama vergessen wird, das du dort veranstaltet hast. Dein armer Vater war so peinlich berührt.»
«Du verstehst nicht ...», stammelte Clarice. Sie kannte das Temperament ihrer Freundin gut, nachdem sie es oft genug gesehen hatte. Aber dies war das erste Mal, dass sie die Zielscheibe für Susans scharfe Zunge war, und es war weitaus unangenehmer als erwartet.
Susan deutete wütend mit dem Finger auf sie.
«Nein, du bist diejenige, die nicht versteht, wie lächerlich du manchmal bist. Es würde mich nicht im geringsten überraschen, wenn die Familie Radley sich auf deine Kosten kaputt gelacht hätte. Wer weiß, was sie hinter deinem Rücken über dich sagen? Ich hoffe, dass du dich, wenn wir uns wiedersehen, daran erinnerst, wer deine wirklichen Freunde sind, im Gegensatz zu denen, die dich nur dazu benutzen, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Gute Nacht, Clarice.»
Sie stürmte davon und ließ Clarice allein sitzen, die immer noch den Teller in der Hand hatte. Sie betrachtete einen Moment lang ein unberührtes Sandwich mit geräuchertem Lachs, bevor sie es sich in den Mund stopfte.
Sie gähnte, lehnte ihren Kopf zurück gegen die Wand und betete, dass ihr Vater nicht zu lange auf dem Ball zu bleiben plante.
Was für ein Durcheinander.
Sehr zeitig am nächsten Morgen stieg David in seine Kutsche für den kurzen Weg zu seiner neuen Unterkunft in der George Street.
Es war eine lange Nacht voller Reden und Toasts gewesen. Das Lächeln auf den Gesichtern von Millie und Alex zu beobachten, als sie zum ersten Mal als verheiratetes Paar Walzer tanzten, hatte ihn mit einer Mischung aus Freude und Eifersucht erfüllt.
«Schön, Sie wieder hier zu haben, Sir. Ich hoffe, die Feierlichkeiten waren angenehm», bemerkte sein Kammerdiener Bailey, als David durch den Haupteingang seines neuen Hauses trat. Es war seltsam, Diener ganz für sich zu haben.
Er und Alex hatten ihr Haus in der Bird Street erst seit weniger als einem Jahr geteilt, aber in den Tagen seit seinem Umzug hatte David um den Verlust seines alten Hauses getrauert.
Der Herzog von Strathmore hatte im vergangenen Sommer seine beiden ältesten Söhne aus Strathmore House geworfen.
«Ihr zwei habt das geflügelte Wort Besoffen wie ein Lord ein bisschen zu wörtlich genommen. Es ist Zeit, dass ihr erwachsen werdet und etwas anderes findet, um euch die Zeit zu vertreiben. Ihr könntet vielleicht sogar in Betracht ziehen, eine Frau zu finden», hatte sein Vater gesagt. Diesen Vortrag hatte er gehalten, während er über David und Alex aufragte, die beide betrunken auf den kalten Fliesen im Vordereingang von Strathmore House gelegen hatten.
Innerhalb weniger Stunden hatte der Herzog veranlasst, dass sowohl David als auch Alex und ihre Sachen gepackt hatten und in ein hohes, elegantes Stadthaus in der Bird Street umgezogen waren. Nach den anfänglichen Beschwerden über eine derartige Misshandlung entdeckten die Brüder Radley bald die Freude, die ihnen ein Haus für sie allein bescherte. Sie konnten kommen und gehen, wie es ihnen gefiel, und tun, was sie wollten, ohne dass das wachsame Auge ihres Vaters auf ihnen ruhte.
In den ersten Wochen war alles ein großartiges Abenteuer gewesen. Wilde Partys, betrunkene Orgien und ununterbrochener Schlaf auf den Fliesen ihres eigenen Foyers. Aber Langeweile und die Drohungen ihres Vaters, ihnen die Apanage zu kürzen, setzten dem Ausmaß an Frivolitäten, die die Brüder genossen, bald ein Ende.
«Ja, danke. Es war ein wundervoller Abend. Trotzdem ist es schön, zurückzukehren in mein eigenes Haus, wie spät es auch sein mag», antwortete er, als Bailey seinen Mantel und seine Handschuhe nahm.
Kurze Zeit später stand er, an eine Stuhllehne gelehnt, und starrte auf den vergoldeten Spiegel, der an der Wand zwischen den Fenstern seines Schlafzimmers hing. Er seufzte niedergeschlagen.
Heute Nacht hatte er Clarices Hand in seiner eigenen gehalten. In den Jahren, seit sie erwachsen geworden war, war er ihr nie so nahegekommen. Obwohl Baumwollhandschuhe seine Haut noch immer von ihrer trennten, war es für ihn nicht weniger als göttlich gewesen.
Das Spiegelbild, das ihn anstarrte, erinnerte ihn daran, dass er denselben Vater wie seine Geschwister hatte, aber nicht dieselbe Mutter. Er rieb mit den Fingern über die dunklen Stoppeln an seinem Kinn. Alle seine Brüder und Schwestern besaßen die hellen Haare und Teint von Lady Caroline Radley, während David die dunklen Locken seiner längst verstorbenen Mutter hatte.
Er schloss die Augen und erinnerte sich an den Schrecken, den er empfunden hatte, als er Clarice an ihrem Essen würgen sah. Die Sekunden, die er brauchte, um den Tisch zu umrunden und ihr zu Hilfe zu kommen, waren verschwommen. In diesem Moment konnte er nur daran denken, wie sehr er sich wirklich um sie sorgte. Dass sie im Begriff war zu ersticken, und er hatte nie die Gelegenheit gehabt, ihr ins Gesicht zu sagen, dass er sie liebte.
Er hatte ihr vielleicht das Leben gerettet, aber sie wollte ihrem Vater immer noch nicht widersprechen. Als er Clarice zurück zur Seite ihres Vaters gebracht hatte, war da wieder nur seine übliche Distanz zu Lord Langhams einziger Tochter.
Distanz.
Er begann langsam, sein Hemd aufzuknöpfen. Einen Kammerdiener als Hilfestellung beim Ausziehen zu benutzen, hielt er für unmännlich und seltsam. Die einzigen Menschen, von denen er sich gern berühren ließ, waren er selbst und seine Liebhaberinnen.
In den Monaten, seit er diesen Liebesbrief geschrieben hatte, war niemand mehr mit ihm in seinem Bett gewesen. Clarice wusste jetzt, wie er für sie fühlte, und er war entschlossen, sie zu seiner Frau zu machen. Die Aussicht, eine neue Mätresse zu finden, hatte ihren Reiz verloren. Bis Clarices Hand ihm gehörte, würde er eben lange, einsame Nächte sexueller Frustration ertragen müssen.
«Blödsinn», murmelte er.
Was würde er tun müssen, damit es Clarice war, die ihn mit ihren leichten, weiblichen Fingern berührte?
«Ein verdammtes Wunder ist das, was ich brauche», murmelte er vor sich hin, als er sich in seine Laken eingrub. Als er langsam in den Schlaf glitt, hallte ein Gedanke in seinem Kopf wider.
Es musste einen Weg geben.