Kapitel Drei
E s war weit nach Mitternacht, als Clarice endlich wieder zu Hause war. Ihr Vater hatte den Abend damit verbracht, so viele Risse mit dem Rest der Londoner Gesellschaft zu glätten, dass sie viel länger als beabsichtigt geblieben waren.
Clarice war es gelungen, sich einige dieser Stunden im Ruhezimmer der Damen und dann in der Strathmore-Familienbibliothek zu verstecken, bevor ihr Vater ein Dienstmädchen schickte, um seine entschwundene Tochter zu finden.
Erst als die Herzogin von Strathmore ein drittes Mal gegähnt hatte, gelang es Clarice, ihren Vater zu überreden, sich zu verabschieden.
«Ich hoffe, der Abend hat dich nicht allzu sehr ermüdet, meine Liebe. Ich weiß, dass es deine Nerven angreift, wenn du dich zu sehr anstrengst», sagte ihr Vater, als er sie die Treppe hinauf und durch den Haupteingang von Langham House führte.
«Nein, mir geht es gut, danke. Der Abend hat Spaß gemacht. Ich hatte eine sehr schöne Zeit. Das Abendessen war wunderbar», antwortete sie.
Von den Auseinandersetzungen mit Lady Susan brauchte ihr Vater von ihr nichts zu erfahren. Seine Spione hatten ihn zweifellos über jedes Detail von Clarices Bewegungen informiert, bevor sie den Ball verlassen hatten.
«Clarice?»
«Ja, Papa?»
«Ich habe gesehen, wie genau David Radley dich den ganzen Abend beobachtet hat. Aber ich freue mich, dass du dich an meine Anweisungen gehalten hast. Für einen Moment dachte ich, er würde während des Walzers den Platz seines Vaters bei dir einnehmen.»
Clarice schüttelte den Kopf.
«Gut. Es hätte den Rest des Abends ziemlich schwierig gemacht, wenn ich gezwungen gewesen wäre, einzugreifen.»
«Darf ich mich jetzt bitte ins Bett zurückziehen? Ich habe Kopfschmerzen», bat sie.
«Natürlich, meine Liebe, gute Nacht», antwortete ihr Vater und küsste sie auf die Wange.
Als sie ihr Schlafzimmer betrat, weckte Clarice ihre Zofe, die in einem Sessel beim Kamin döste.
«Geh ins Bett, Bella, ich werde mich selbst um meine Haare kümmern. Du hättest nicht auf mich warten müssen, besonders mit deiner schrecklichen Erkältung. Geh nach Hause und Ruh dich ein wenig aus. Gute Nacht.»
Sie führte das Mädchen mit den übernächtigten Augen schnell aus ihrem Schlafzimmer und schloss die Tür hinter ihr ab. Dann lehnte sie sich gegen die Tür zurück und schloss die Augen.
Der Klang des Orchesters kam ihr wieder in den Sinn, aber diesmal waren es Davids Arme, die sie stark und sicher hielten, als er sie auf der Tanzfläche herumwirbelte. Andere Gäste beobachteten, was für ein schönes Paar sie waren und wie gut sie zueinander passten.
Die Worte seines Briefes schlichen sich in ihre Gedanken zurück.
Deine Hand in meiner bereitwillig hingegeben in Vertrauen und Liebe.
«Oh David, all diese Jahre, und ich habe es nie gesehen», flüsterte sie.
Während des ganzen Abends hatte er sie bei jedem Schritt beobachtet. Mehr als einmal hatte sie in dem überfüllten Raum mit den Augen nach ihm gesucht, nur um zu sehen, dass er sie mit einem hoffnungsvollen Lächeln im Gesicht anstarrte.
«Was soll ich nur tun?», fragte sie sich und zog ihre Tanzschuhe aus.
Während dieser Abend alle Zweifel beseitigt hatte, dass David den Brief geschrieben hatte, stand an der Stelle dieser Zweifel nun Verwirrung und Besorgnis. Wenn er sie wirklich liebte, warum hatte er dann Mrs. Chaplin gestattet, so offen mit ihm zu flirten? In der Weise, wie sie seinen Körper berührt hatte, war die Besitzergreifung mehr als nur angedeutet gewesen. Clarice war sich sicher, dass er sie angelogen hatte, als sie ihn nach der Frau des Unterstaatssekretärs fragte.
Sie rieb sich die müden Augen und versuchte, die Ereignisse des Abends zu vergessen. Nichts konnte daraus werden, und David war ein Dummkopf, wenn er etwas anderes dachte.
Sie setzte sich an ihren Schminktisch und begann methodisch, die Nadeln aus ihrem Chignon herauszuziehen. Jede Nadel legte sie ordentlich in eine kleine Schachtel auf ihrem Schminktisch gelegt. Als ihr das blass goldene Haar auf ihre Schultern fiel, starrte sie sich im Spiegel an. Ihre Haare waren nicht im neuesten Stil geschnitten, und ihre Kleidung auch nicht.
In den drei Jahren seit dem Tod ihrer Mutter hatte sich Clarice langsam vom Tragen hochgeschlossener schwarzer Trauerkleider verabschiedet und immer häufiger Kleider in dunklen Lavendel tönen getragen. Das letzte Mal, dass sie Weiß getragen hatte, war der Morgen gewesen, an dem ihre Mutter starb. Als sie damit fertig war, die Nadeln zu entfernen und ihre Haare auszubürsten, stand sie auf.
Das viel zu große Kleid hing an ihr hinunter.
Es schlackerte soweit über ihrem schlanken Körper, dass kein sichtbarer Umriss ihrer Figur erkennbar war. Keine Brüste und keine Hüften. Unter ihrer Kleidung war Clarice völlig unsichtbar. Sie nickte ihrem Spiegelbild zu. Die Dinge waren genauso, wie sie sein sollten.
Mit solch einer unzulänglichen Garderobe wurde sie von keiner Matrone der hohen Gesellschaft gefragt, wann sie heiraten würde. Die wenigen Männer, die sie auf Bällen um einen Tanz baten, waren normalerweise Geschäftspartner ihres Vaters oder Männer, die ihm Geld schuldeten.
Sie lächelte und dachte daran, wie nahe sie einem Tanz mit David gekommen war. Der Duft seines Gesichtswassers, als er in ihrer Nähe stand, hatte ihre Sinne mit berauschender Freude erfüllt.
Plötzlich war ihr, als sei er hier bei ihr im Zimmer, ergriff ihre Hand und drehte sie in den Tanz. Sie summte die Musik des unsichtbaren Orchesters mit, um den Takt zu halten, als sie sich mit ihm durch den Raum bewegte. Erinnerungen an seine witzigen Bemerkungen zum Abendessen kamen ihr in den Sinn, und sie lachte laut auf.
«Oh David, was für ein ungezogener Mann du bist», murmelte sie zu ihrem imaginären Tanzpartner. Sie klimperte mit den Wimpern. Mrs. Chaplin war nicht die einzige, die die Aufmerksamkeit eines Mannes einfangen konnte. Das einzige, was fehlte, war der kraftvolle, aber sanfte Griff seiner Hand, die ihre hielt.
Sie drehte sich ein letztes Mal um und erhaschte einen Blick auf ihr eigenes Abbild im Spiegel. Sie hielt inne. Das Lachen verstummte auf ihren Lippen, und sie war wieder allein.
Ein kalter Hauch strich durchs Zimmer.
Sie schloss die Augen und kämpfte gegen eine andere, schmerzhaftere Erinnerung. Lachen und Liebe hatten keinen Platz in ihrem Leben. Sie wurden nur denen gegeben, die solche wunderbaren Geschenke verdienen.
Sie zog sich das übergroße Kleid über den Kopf und drapierte es über einen Stuhl. Dann kehrte sie zum Spiegel zurück und dachte über ihre Reflexion nach. Eine schüchterne junge Frau, der Körper fest mit Bändern aus Musselin umwickelt, sah sie aus dem Glas an. Unter den Bändern waren ihre Kurven und Brüste versteckt.
Wie ein Geheimversteck.
Unter ihrer uneleganten, langweiligen Kleidung in Übergröße trug Clarice ihre Rüstung. Ihr Körper war vollständig verhüllt und sie blieb vor dem Rest der Welt verborgen. Sicher und geschützt.
Sie sah nach unten und fand die Nadel, die die Bänder an ihrem Ausschnitt zusammenhielt. Sie öffnete die Nadel, entfernte sie und begann dann langsam und akribisch, die Bänder abzuwickeln.
Niemand, der versuchte, an den schlaffen, nichtssagenden Kleidern vorbeizusehen, die sie trug, konnte erkennen, dass sie weibliche Kurven besaß. Kein Mann konnte von ihr angezogen werden. Sogar Davids Worte des Begehrens waren für eine Frau, die nur in seiner Vorstellung lebte. Er sah die wahre Clarice nicht. Clarice Langham existierte nicht.
Vor langer Zeit hatte sie akzeptiert, dass es eine angemessene Strafe war, ein Niemand mit wenigen Freunden zu sein. Davids Erklärung seiner Hingabe bedrohte nun ihre abgeschlossene, sichere Welt.
Sie schürzte die Lippen und erinnerte sich an seinen lebensrettenden Schlag auf ihren Rücken. Selbst ihr Held des Abends hatte das dicke Bündel von Musselin unter ihrem Kleid nicht gespürt. Oder, wenn ja, hatte David seine Überraschung gut maskiert.
Als ihre nackte Haut unter den Bändern hervorkam, sah sie die roten Flecken, die sich auf ihrem Körper kreuzten. Sie fuhr mit einem Finger sanft über die schockierenden Linien und biss die Tränen zurück. Würde sie jemals frei von Scham und schuld sein?
Sie schloss die oberste Schublade ihrer Kommode auf und schob das Bündel Musselin in einen kleinen Stoffbeutel. Neben der Tasche standen mehrere andere Bündel neuer Musselin streifen. Sie hatte seit dem Tod ihrer Mutter jeden Tag eine neue Rüstung angezogen.
Morgen, wie an jedem zweiten Tag, würde Clarice den kleinen Beutel in ihrem Täschchen verbergen, und sobald sie weit vom Haus entfernt war, würde sie die Bänder wegwerfen. Ihr Geheimnis war ihr eigenes, zu beschämend, um es zu teilen.
Sie schloss die Schublade wieder zu und zog den Schlüssel ab.
David hatte ihr einen kraftvollen und leidenschaftlichen Liebesbrief geschrieben, oder so hatte sie es sich törichterweise vorgestellt. Doch, nachdem sie ihn mit Mrs. Chaplin gesehen hatte, fragte sie sich, ob die Wahrheit etwas weniger rein war.
Sie öffnete die zweite Schublade ihrer Kommode und holte ein Nachthemd heraus. Lang und schmucklos, war es nur eine andere Art von den Leichenhemden, in die sie sich kleidete. Sie drehte sich um und ging zum Bett, blieb aber noch einmal stehen und kehrte zurück zur Kommode.
Sie schloss die oberste Schublade wieder auf und holte eine kleine Schachtel heraus. Sie runzelte die Stirn und dachte kurz darüber nach, dass ihr Leben wie eine Reihe verschlossener Schachteln war. Alle enthielten ihre wertvollsten Geheimnisse.
Sie schloss die Schachtel auf und zog zwei Briefe heraus.
Der Erste war von einer Anwaltskanzlei. Sie warf einen Blick auf ihren Namen, der auf dem Umschlag stand, bevor sie ihn beiseitelegte. Sie hatte diesen Brief nur einmal gelesen und sich ständig gefragt, warum sie ihn immer noch aufbewahrte.
Der zweite Brief war eine Kopie des Liebesbriefs, den David geschrieben hatte. Bevor sie Alex das Original zurückgab, hatte sie ihre eigene Kopie angefertigt. Wie beim ersten Brief fragte sie sich regelmäßig, warum sie ihn behielt. Sie konnte ihn auswendig rezitieren.
Sie öffnete den Liebesbrief und starrte ihn an.
Sie verstand jetzt, dass David den Brief im Namen von Alex geschrieben hatte und dabei seine eigene Liebe zu Clarice als seine Muse benutzte. Alex hatte vorgehabt, das Schreiben an Millie zu senden, aber es war an die falsche Adresse gegangen, und stattdessen hatte Clarice es erhalten.
Da sie wusste, wie ungestüm Alex sein konnte, hatte es Clarice nicht überrascht, dass er sich nicht die Mühe gemacht hatte, die Details auf der Vorderseite des versiegelten Briefes zu überprüfen, bevor er ihn abschickte.
Die gesamte Londoner Gesellschaft hatte dann auf die Ankündigung der Verlobung von Alex Radley und Clarice Langham gewartet, nur um dann Zeuge zu werden, wie eine sehr öffentlich veranstaltete Szene, bei der sie ihm den Laufpass gab, alle Hoffnung auf ihre zukünftige Verbindung beendete.
Wie viel mehr Aufsehen würden diese Worte der Hingabe verursachen? Alex, der fälschlicherweise den Brief an Clarice geschickt hatte, hatte Millie ihretwegen fast für immer verloren. Jetzt aber bestand die Gefahr, dass diese Worte ihre eigene zerbrechliche Existenz zunichtemachen würden. Indem sie sie der Welt aussetzten.
Sie hatte David als den älteren Bruder ihrer Freundin aus Kindertagen, Lucy, gekannt. Während sie aufwuchs, hatte sie ihn nur wenige Male gesehen, wenn er von der Schule nach Hause kam. Während Alex immer der Erste gewesen war, der Lucys Haare zerrauft und Clarice fröhlich begrüßt hatte, war David distanziert und verschlossen geblieben.
Als Clarice zwölf war, vertraute Lucy ihr an, dass David nur ihr Halbbruder war. Später hatte sie ihre Mutter danach gefragt, und die Gräfin hatte leise die Umstände von Davids Geburt erklärt und was es eigentlich bedeutete, ein Bankert zu sein. Elizabeth Langhams Hände hatten gezittert, als sie Clarice versprechen ließ, nie wieder über solche Dinge zu sprechen.
Zu der Zeit konnte sie den Grund für die emotionale Reaktion ihrer Mutter nicht verstehen. Aber Jahre später, als sie unerwartet den Brief des Anwalts erhielt, war es die Wahrheit ihrer eigenen Geburt, die ihr die Augen öffnete.
Ein Holzscheit zerbrach im Kamin des Schlafzimmers. Clarice rührte sich aus ihren Gedanken und blickte finster auf Davids Brief.
Warum jetzt? Warum musst du plötzlich erklären, dass du mich liebst?
Ihre Mitgift war bedeutend und würde es einem unehelich geborenen Sohn wie David ermöglichen, sich trotz seines Makels in der Welt zu etablieren. War seine plötzliche Demonstration von Charme und Interesse an ihr nur ein Trick, um eine wohlhabende Frau zu finden? Wenn sie bereit gewesen war, Alex‘ Antrag für eine reine Vernunftehe zu akzeptieren, warum sollte sie das nicht auch für seinen Bruder akzeptieren können? War das sein Gedanke dabei?
Sie wischte eine Träne weg, aber eine Zweite folgte bald. Enttäuschung war eine bittere Pille.
Alles ergab vollkommenen Sinn. Kein vernünftiger Mann würde sie attraktiv finden, niemand würde Clarice für sich selbst wollen. Die Götter waren entschlossen, ihre Bestrafung fortzusetzen. Sie sah auf ihre Hände hinunter und verschränkte fest ihre Finger.
«Es wäre kein Wunder, wenn er mit einer Geliebten weitermachen würde, selbst wenn er mich heiraten würde. Meine Mitgift und ein Erbe sind alles, was er wirklich von mir wollen könnte. Wie könnte mich jemand lieben, wenn ich meine eigene Mutter getötet habe?»