C
larice kam spät am nächsten Morgen die Treppe hinunter, nicht so sehr, weil sie in der vergangenen Nacht erst sehr spät endlich eingeschlafen war, sondern als Trick, um ihrem Vater auszuweichen.
Sobald sie den Frühstücksraum betrat, wusste sie, dass ihr Plan gescheitert war.
Am Kopfende des Frühstückstisches saß ihr Vater Henry, der sechste Earl of Langham. Er war ein Mann, der innerhalb des Ton
für seine unheimliche Fähigkeit bekannt war, aus nichts riesige Geldsummen zu machen. Diejenigen, die dumm genug waren, sich mit Lord Langham zu überwerfen, stellten schnell fest, dass sein Zorn mindestens ebenso unheimlich und auch sehr furchterregend war.
Die einzige Person, die dem Zorn von Lord Langham zu entgehen vermochte, war sein einziges Kind, Clarice.
«Guten Morgen Clarice», sagte der Earl, als er seine Zeitung ausschüttelte und die Seite umblätterte.
«Du frühstückst spät», antwortete sie.
«Ich bin früh im Hyde Park geritten und habe mich dann entschlossen, auf dich zu warten», antwortete er und blickte dabei weiter in der Zeitung.
Sie setzte sich und sah schweigend zu, wie ein Diener ihr eine Tasse Kaffee einschenkte. Im Gegensatz zu vielen ihrer
Bekannten konnte Clarice den Geschmack von Tee nicht ertragen. Der Diener brachte einen Teller mit Eiern, Speck und Bratkartoffeln. Mit der Erinnerung an ihre Nahtoderfahrung in der vergangenen Nacht noch frisch in ihren Gedanken, ließ sie die Kartoffeln lieber liegen.
Einige Minuten lang herrschte Stille, nur unterbrochen, als ihr Vater die Diener aus dem Raum entließ.
Sie schluckte ein Stück Speck und wartete.
«Was sind deine Pläne für heute? Wirst du heute Nachmittag mit Lady Susan und ihren Cousinen im Park spazieren?», fragte er.
Sie sah ihren Vater an. Gab es irgendwelche Zweifel, was sie heute tun würde? Das gleiche wie an jedem einzelnen Tag während der Saison. Bis zum späten Nachmittag würde sie sich zu Hause verstecken und dann mit Susan und den Winchester-Schwestern zu ihrem täglichen Streifzug durch den Hyde Park ausgehen.
Sie begann langsam von eins bis zehn zu zählen. War heute der Tag, an dem sie weiter als bis drei kommen würde?
«Du solltest heute Morgen mit ihnen zusammen ein bisschen einkaufen gehen. Ich bin sicher, ihr würdet etwas zu kaufen finden», fügte ihr Vater hinzu.
Zwei.
Sie lächelte ihren Vater an, während sie mit ihrer Gabel ein weiteres Stück Speck aufspießte. Jeder Morgen kam mit der gleichen Liste von Fragen. Und jeden Morgen gab sie ihm die gleichen Antworten.
«Ja Papa, ich werde sehen, ob ich mich dazu aufraffen kann.»
Er hielt ihren Blick für einen Moment fest. Und wie an jedem anderen Tag dachte Clarice, ihr Vater würde noch etwas sagen. Dass er sie bitten würde, aus ihrer Trauer, um ihre Mutter herauszukommen. Aber jeden Tag sah er sie einfach an und nickte dann resigniert.
Einmal, vor wenigen Wochen, als Gerüchte über eine mögliche Verlobung zwischen Clarice und dem Marquis von Brooke im Umlauf waren, war ihr Vater von seinem Stuhl aufgestanden und an ihre Seite getreten. Mit einer Hand sanft auf ihre Schulter gelegt, hatte er erwähnt, dass Wilding und Kent einen Ausverkauf veranstalteten und dass er ein neues Konto in dem Warenhaus eröffnet hatte.
Sie hatte zugestimmt, den Laden zu besuchen, aber es bis heute nicht geschafft, einen Fuß dorthin zu setzen.
«Ich könnte mich vielleicht auf den Weg zum Textiliengeschäftt machen. Ich habe gehört, dass neue, schöne Stoffe eingetroffen sind», sagte sie.
Clarice nahm ein Stück Toast und zerdrückte etwas Orangenmarmelade darauf. Mit etwas Glück würde, das ihren Vater beruhigen. Der Earl stand auf und kam zu ihrem Stuhl. Er gab ihr eine Notiz, die sie kurz las.
Das Schreiben kam von Lady Alice, ihrer Großmutter väterlicherseits. Als sie zu der Stelle kam, wo die Witwe Gräfin Langham ihre Absicht verkündete, innerhalb der nächsten Tage in London anzukommen, biss Clarice die Zähne zusammen. Ihr Leben war gegenwärtig kompliziert genug. Die Aussicht, dass Lady Alice für den Rest der Saison bei ihnen wohnen würde, war noch ein weiterer Punkt auf der Liste ihrer Leiden.
«Vielleicht könntest du ein oder zwei Tage warten, bevor du einkaufen gehst, und deine Großmutter mitnehmen. Ich bin sicher, sie wird gern ihre Meinung zum Ausdruck bringen, welchen Stoff du kaufen solltest.»
Sie faltete das Papier zusammen und gab es ihm zurück.
«Ja, natürlich.»
Lady Alice Langham hatte zu jedem Thema eine Meinung.
«Gut» antwortete er, bevor er einen väterlichen Kuss auf ihre Stirn drückte.
Als er sich umdrehte und zur Tür ging, stieß Clarice den
Atem aus, den sie angehalten hatte. Ihr Vater blieb stehen, kurz bevor seine Hand den Türgriff erreichte.
«Mein Terminkalender ist in den nächsten Wochen ziemlich voll, und da deine Großmutter in den nächsten Tagen eintreffen wird, werde ich sie bitten, dich für den Rest der Saison zu den meisten gesellschaftlichen Veranstaltungen zu begleiten. Ich hoffe, das stößt auf deine Zustimmung. Sie wird gut auf dich aufpassen.»
«Ja, Papa.»
Er schloss die Tür hinter sich.
Sie nahm das schnell abkühlende Stück Toast und leckte die Marmelade von der Oberseite, bevor sie die Scheibe wieder auf den Teller legte. Die Mischung aus süßen und würzigen Zitrusfrüchten erfüllte ihren Mund.
Da niemand mehr hier war, um sie für ihre Manieren zu schelten, beugte sie sich vor und legte ihre Ellbogen auf den Tisch, wobei sie ihr Kinn in die Hände nahm.
«Schlaf, ich brauche nur Schlaf», murmelte sie.
Müde von den langen Festlichkeiten, hatte sie gehofft, einzuschlafen, sobald sie ins Bett ging. Aber letzte Nacht lag sie wie auch sonst fast immer wach im Dunkeln. Als der Schlaf endlich kam, gab er ihr wenig Ruhe.
Irgendwann in der Stunde kurz nach Sonnenaufgang war sie aufgewacht, gekühlt von dem feuchten Schweiß auf ihrer Haut. Sie saß im Bett und wischte die Tränen weg, die sie an ihren Traum erinnerten.
Es war immer der gleiche Traum. Ihre Mutter fiel, und Clarice rannte, um sie aufzufangen, bevor sie auf dem Boden aufschlug. Jedes Mal erreichte sie mit den Fingerspitzen die ausgestreckte Hand ihrer Mutter, und jedes Mal konnte sie nicht retten. Die Strafe für ihr Verbrechen schien zu sein, dass sie diesen Moment jede Nacht immer wieder neu erlebte.
Sie gähnte und rieb sich mit den Fingern die geschwollenen Augen.
«Ein weiterer guter Grund, heute drinnen zu bleiben.»
Sie lehnte sich auf dem Stuhl zurück und blickte über den Tisch. Da jetzt nur noch sie beide hier wohnten, nutzten sie und ihr Vater den Frühstücksraum für alle Mahlzeiten im Langham House.
Der Earl hatte seit dem Tod seiner Frau keine Dinnerparty im Haus mehr abgehalten. Da seine Mutter den größten Teil des Jahres auf dem Land lebte und Clarice immer noch trauerte, fehlte ihm eine Gastgeberin für eine große Gesellschaft.
«Und niemand, der bei klarem Verstand ist, würde mich für eine geeignete Alternative halten», murmelte sie in den leeren Raum. Susans unfreundliche Worte vom Vorabend hallten immer noch in ihren Gedanken wider.
Sie zuckte zusammen und erinnerte sich an das einzige Mal, als ihre Großmutter es gewagt hatte, ihrem Sohn vorzuschlagen, wieder zu heiraten. Der heftig entbrannte Streit hatte stundenlang unvermindert angedauert, woraufhin Lady Alice ihre Kutsche kommen ließ und zum Familienbesitz in Norfolk aufbrach. Mutter und Sohn hatten den größten Teil eines Jahres damit verbracht, kaum miteinander zu sprechen. Weihnachten 1816 war für die Familie Langham nicht glücklich gewesen.
«Vielleicht wird dieses Jahr anders sein. Wer weiß?», meinte sie und erhob sich von ihrem Stuhl.
Sie öffnete die Tür und erschrak, als sie entdeckte, dass jemand auf der anderen Seite war.
«Was machst du denn hier?»
Lady Susan Kirk warf Clarice ihren üblichen arroganten, aufgesetzten Blick zu und seufzte. Sie winkte mit der Hand und zeigte träge den Korridor hinunter. Clarice trat in den Flur und sah den Grund für den Ausdruck ihrer Freundin. Susans beide Cousinen standen dort und starrten auf ein großes Ölgemälde, das ein Pferd zeigte.
Die Winchester-Schwestern. Zu sagen, dass sie geistig ein bisschen unterbelichtet waren, wäre eine nette Umschreibung. Die Natur hatte Heather Winchester zu deren Glück mit verblüffender Schönheit gesegnet, aber der Inhalt ihres Gehirns bestand hauptsächlich aus Spitze und Schnickschnack. Von Geburt an einem viel älteren, aber begüterten Mann versprochen worden zu sein, schien sie nicht im geringsten zu beunruhigen. Sie würde am Ende der Saison verheiratet sein, und ihr zukünftiger Ehemann wäre einfach eine neue Quelle an Geld, das sie ausgeben konnte.
Die andere Winchester-Schwester, oder «Screech», wie Susan sie hinter ihrem Rücken nannte, war die talentloseste angehende Geigenspielerin in ganz London.
«Ich wusste nicht, dass wir uns für heute Morgen verabredet hatten», sagte Clarice.
Susan schüttelte den Kopf. «Haben wir auch nicht, aber wenn ich bleiben und Daisy dabei zuhören müsste, wie sie noch eine Katze zu zersägt, würde ich einen Mord begehen. Tut mir leid, Clarice, aber du bist die einzige, auf die ich zählen kann, dass sie um diese Zeit schon aus dem Bett ist. Außerdem gibt dir das die Möglichkeit, dich nach den Vorkommnissen vergangener Nacht wieder gut mit mir zu stellen.»
Clarice musste sich entscheiden. Sollte sie sich darüber ärgern, als Ausrede benutzt zu werden, um Daisys Geigenübungen zu entkommen, oder sollte sie froh sein, dass Susan daran interessiert war, ihre Freundschaft zu reparieren?
Heather Winchester zeigte auf das Gemälde und flüsterte ihrer Schwester hastig etwas ins Ohr. Sie legten beide eine Hand auf den Mund und kicherten.
«Oh Himmel. Sie haben den männlichen Teil der Anatomie des Pferdes gesehen, wir werden jetzt nie mehr hier rauskommen», stöhnte Susan.
Clarice unterdrückte ein Kichern.
«Hast du also einen Plan, dass wir vier heute irgendwohin gehen, oder überlassen wir die beiden einfach sich selbst und schlüpfen durch die hinteren Stallungen?», fragte sie.
Susan schnippte mit den Fingern, und als die Winchester-Schwestern die Köpfe drehten, zeigte sie auf einen Punkt auf dem Teppich, der ungefähr einen Meter vor ihr lag. Heather und Daisy tauschten ein letztes fades Kichern aus, bevor sie sich auf den Weg zu ihr machten.
«Es ist wirklich so, als hätte ich manchmal zwei kleine Kinder bei mir. Wir brauchen keinen Diener, der uns beaufsichtigt, wir brauchen ein Kindermädchen», sagte Susan.
Sie drehte sich um und sah Clarice an, wobei ihr endlich deren Blässe aufzufallen schien.
«Wieder eine schlechte Nacht gehabt?»
Clarice nickte. «Ich war wieder übermüdet und konnte dann nicht einschlafen. Papa hatte beschlossen, bis zum bitteren Ende zu bleiben.»
Die oberflächlichen Gründe für ihre Schlaflosigkeit waren einfach genug. Seit dem Tod ihrer Mutter waren Clarices Nerven angespannt, und sie fand es schwierig, Schlaf zu finden. Da sie wusste, dass alle Vertraulichkeiten, die sie mit Susan teilte, den Weg zurück zu ihrem Vater finden würden, hielt sie an dieser gesellschaftlich akzeptablen Erklärung fest. Die Wahrheit über ihre ständigen von Schuldgefühlen geprägten Albträume gehörte nur ihr.
«Also, wohin gehen wir?», fragten die Winchester-Schwestern gleichzeitig. Sie sahen einander an, bevor sie sich in einen weiteren Kicheranfall auflösten.
«Tattersall’s! Wir können die Pferde sehen!», rief Heather aus. Sie klatschte über ihre eigene Klugheit in die Hände.
«Würdest du bitte deine Sachen holen, Clarice?», befahl Susan durch zusammengebissene Zähne.
Clarice stöhnte.
Es würde ein langer Tag werden.
Nachdem sie einen ganzen Tag mit Susan und den Winchester-Schwestern verbracht hatte, fand Clarice, dass diese die Geduld aller Heiligen auf die Probe stellen würden.
Endlose Stunden in der Handschuhabteilung verschiedener Geschäfte in der Cranbourn Alley, wo Daisy nicht weniger als zwanzig Paar fast identischer weißer Handschuhe anprobierte, und Clarice war bereit, Susan zu helfen, die beiden zu ermorden und ihre Leichen zu verstecken. Im letzten Geschäft wählten Daisy und Heather schließlich zueinander passende Paar Ziegenlederhandschuhe und gingen zur Theke, um ihre Einkäufe zu bezahlen.
«Dir ist schon klar, dass es, abgesehen von dem winzigen blauen Knopf am Handgelenk, genau
die gleichen Handschuhe sind, die beide bereits tragen», murmelte Clarice Susan zu.
«Erwähne es nicht. Sonst muss ich schreien», antwortete Susan.
Clarice kaufte ein Paar einfache weiße Handschuhe. Da die Saison noch einige Wochen andauern würde, würde sie garantiert irgendwann ein Paar verlieren. Susan ihrerseits hielt ihr Täschchen fest geschlossen.
Der Gedanke, ihr ein neues Paar als Friedensangebot anzubieten, kam Clarice in den Sinn, aber wie sie Susan kannte, würde diese die Geste ohnehin falsch verstehen und es würde nur zu einem neuen Streit führen. Als die Gruppe nach fast zwei Stunden im Hyde Park nach Langham House zurückkehrte, hatte Clarice dumpfe Kopfschmerzen, die hinter ihrem linken Auge pochten. Susan verlor schließlich die Beherrschung mit den Winchester-Schwestern, als sie die Park Lane hinauffuhren, und sowohl Heather als auch Daisy verließen das Langham House unter Tränen.
Eine Nachricht ihres Vaters, die sie über seine erwartete späte Ankunft zu Hause informierte, war die perfekte Ausrede
für sie, in ihrem Zimmer zu Abend zu essen und sich früh zurückzuziehen. Bella bereitete ein starkes Tonikum für Clarices Kopfschmerzen zu und legte ein sauberes Nachthemd im Ankleidezimmer aus.
«Ist alles in Ordnung mit Ihnen, Mylady? Möchten Sie, dass ich Ihnen ein heißes Bad einlasse?», fragte Bella.
Clarice versuchte, den Kopf zu schütteln, überlegte es sich aber schnell anders.
«Danke, Bella, aber nein. Ich werde versuchen, ein wenig zu schlafen oder mich zumindest hinzulegen, damit das Drehen in meinem Kopf aufhört.»
Bella öffnete das kleine verschnürte Paket vom Einkaufsbummel und legte die neuen Handschuhe zu den anderen in die Schublade. Clarice tat so, als würde sie das enttäuschte Seufzen ihrer Zofe nicht hören, als sie das einzelne Paar weiße Handschuhe herausnahm. Einkaufen war noch nie eine von Clarices Lieblingsbeschäftigungen gewesen. Die endlosen Stunden, die sie damit verbracht hatte, hinter ihrer Mutter her von Geschäft zu Geschäft zu pilgern, während Lady Elizabeth nach dem perfekten Perlenknopf suchte, hatten einen bleibenden Eindruck auf sie hinterlassen.
«Sind Sie heute in die Nähe von Wilding und Kent gegangen? Eines der Hausmädchen sagte mir, sie hätten ein Schild in ihrem Fenster, auf dem eine brandneue Stofflieferung angekündigt sei, die gerade aus Paris eingetroffen sei. Die neuesten exotischen Drucke», sagte Bella und schloss leise die Schublade.
«Nein», antwortete Clarice und wusste, dass ihr Vater enttäuscht sein würde. Hinter der spanischen Wand entfernte sie die Bandagen und versteckte sie unter einem Kissen. Sie zog sich das Nachthemd über den Kopf.
Langsam durchquerte sie den Raum und stieg die Stufen zu ihrem Bett hinauf. Bella zog die Bettwäsche zurück und entfernte die wärmende Pfanne. Clarice glitt unter die Decke
und legte sich hin. Sie liebte es, die Hitze der Laken zu spüren, kurz nachdem die Pfanne weggenommen worden war.
«Ist es warm genug für Sie, Mylady?», fragte Bella, als sie die Decke hochzog.
«Ja, danke», murmelte sie. Das Tonikum begann zu wirken. Bevor sie die Chance hatte, dagegen anzukämpfen, überkam sie der Schlaf.
Clarice versteckte sich den größten Teil des folgenden Tages in ihrem Zimmer und ging nur zum Mittagessen nach unten. Wenn Lady Alice an ihrer üblichen Reiseroute festgehalten und in Harlow übernachtet hatte, wäre sie wahrscheinlich innerhalb eines Tages in London. Dann würden die Fragen beginnen.
Es war nicht so, dass sie ihre Großmutter nicht mochte. Vielmehr hatte es sich Lady Alice in den Jahren seit dem Tod ihrer Mutter zur persönlichen Aufgabe gemacht, Lady Elizabeths Platz als Clarices Mutter einzunehmen.
Und weil Clarice ständig von Schuldgefühlen geplagt wurde, fühlte sie sich in Gegenwart ihrer klugen und fröhlichen Großmutter entschieden unbehaglich.
«Ah, da bist du ja, meine Liebe. Ich begann schon zu glauben, du seist auf die Äußeren Hebriden geflüchtet. Komm und umarme mich, Kind.»
Clarice hatte kaum eine andere Wahl, als ihre Großmutter zu begrüßen, als sie am späten Nachmittag die Treppe heruntergeschlichen kam und dabei erwischt wurde. Umgeben von ihren Reisekoffern stand Lady Alice mitten im Foyer von Langham House. Sie ging die Treppe hinunter, wenn auch widerstrebend.
«Ich dachte, du würdest frühestens morgen ankommen», sagte sie.
Als sie Lady Alice erreichte, warf sie einen kurzen Blick auf die Koffer.
Lady Alices Lachen hallte durch den höhlenartigen Raum. «Ich bin noch nie mit leichtem Gepäck gereist, mein Schatz. Man weiß nie, wann man plötzlich aufgefordert wird, am Hof Seiner Majestät zu erscheinen oder einen ausländischen Prinzen zu treffen.»
Clarice lächelte. Die Gräfin-Witwe Langham war wirklich eine auffallende, flamboyante Frau. Warm, freundlich und voller Energie, war sie die Art von Frau, in die sich Könige verliebten und für die ganze Armeen in den Tod marschierten.
Ihre Großmutter streckte die Hand aus und zog Clarice in ihre Umarmung. Clarices Bein stieß gegen etwas Festes, und sie trat zurück. In Lady Alices rechter Hand lag ein Spazierstock aus Walnussholz.
Ihre Blicke trafen sich.
«Du brauchst jetzt einen Spazierstock», sagte sie mit besorgter Stimme. Obwohl Lady Alice nicht mehr die Jüngste war, war es undenkbar, in ihr etwas anderes als eine unbesiegbare Frau zu sehen.
Lady Alice lächelte. «Es ist alles in Ordnung, Kind; nichts, worüber man sich beunruhigen müsste. Ich bin auf einigen losen Steinen im Vorgarten meines Hauses ausgerutscht und ziemlich schwer gestürzt. Dies war früher der Spazierstock deines Großvaters, deshalb habe ich beschlossen, ihn auf Reisen zu nutzen. So lästig, ein verrenktes Knie, ich erwarte nicht, dass ich in der Stadt viel tanzen werde. Deshalb bin ich etwas früher als erwartet gekommen. Den ganzen Tag in einer Kutsche zu sitzen, in der mein Bein kaum ruhig liegen konnte, ist nicht meine Vorstellung von einer angenehmen Reise. Ich habe dem Fahrer befohlen, heute Morgen gefälligst Dampf zu machen, damit ich endlich ankomme und es richtig ausstrecken kann.»
Clarice versuchte wegzuschauen, aber ihre Großmutter hielt
sie mit einem allwissenden Blick fest.
«Etwas ist anders an dir, meine Liebe», sagte sie und nahm Clarices Hand. «Oder vielleicht ärgert dich etwas? Ich muss gestehen, dass ich es heutzutage ziemlich schwer finde, dich zu durchschauen. Du versteckst dich so gut vor der Welt.»
«Nur müde, das ist alles», antwortete sie und wusste, dass es kindisch und unklug sein würde, ihre Großmutter anzulügen.
Lady Alice hob eine Augenbraue. «Hast du immer noch Albträume?»
Sie errötete. Sie hatte vergessen, dass Lady Alice etwas von ihren unruhigen Nächten wusste. Sie wandte den Blick ab.
Ihre Großmutter strich mit einem Daumen über Clarices Wange.
«Du vergisst, dass mein Zimmer oben neben deinem ist. Viele Male, wenn ich spät noch wach war, habe ich dich im Schlaf schreien hören. Da du darauf bestehst, deine Schlafzimmertür verschlossen zu halten, konnte ich dir bei keiner dieser Gelegenheiten helfen.»
«Es sind nur dumme Träume», antwortete Clarice.
«Die dich aussehen lassen, als hättest du seit Wochen nicht geschlafen. Ich wünschte, du würdest mich dir helfen lassen, mein Schatz. Aber da du jetzt eine junge Frau bist, kann ich dich nicht zwingen, dich mir anzuvertrauen. Denk daran, wenn du mich brauchst, bin ich hier, um alles für dich zu tun.»
Ein Lächeln fand seinen Weg auf Clarices Lippen.
«Na, geht doch. Nun komm, meine Liebe. Sobald ich dieses teuflisch nervige Bein ausgeruht habe, musst du mir all die frechen Dinge erzählen, die du getan hast, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.»