«
W
ir haben Sie in den letzten Wochen vermisst, Mr. Radley. Es ist schön, Sie wiederzuhaben, Sir.»
«Danke», antwortete David.
Gentleman Jacksons Salon
in der Bond Street war für ihn fast ein zweites Zuhause. Solange er sich erinnern konnte, hatte er sich jeden Donnerstagnachmittag eine Stunde lang hartes, Muskelaufbauendes Boxen gegönnt. Während andere den Sport als einen oft schmerzhaften Test ihrer Männlichkeit betrachteten, konnte David dabei wunderbar entspannen.
«Sitzen sie eng genug, Sir?», fragte ihn der technische Assistent, Mr. Smith.
David sah auf die gepolsterten Fäustlinge hinunter, die alle Mitglieder des Ton
beim Boxen in der Akademie an ihren Händen tragen mussten.
«Danke, ja», antwortete er.
In anderen Teilen Londons wurde noch immer mit bloßen Händen geboxt, aber wenn ein Gentleman vorhatte, später in gemischter Gesellschaft zu speisen, konnte er es sich kaum leisten, im Gesicht verletzt zu werden. Schwarze, geprellte Augen und genähte Risse sorgten nicht für höfliche Gespräche beim Abendessen.
Nicht, dass es in letzter Zeit jemandem gelungen wäre, einen Schlag innerhalb von zwei Fuß von Davids Kopf zu
landen. Er war Meister im K.O., wenn er dazu in Stimmung war. Seine sechs Siege an einem Nachmittag waren immer noch der aktuelle Hausrekord.
«Sind heute hier noch andere Herren anwesend, die Lust auf eine Runde leichtes Training haben?», fragte er und wusste, dass nur wenige Männer ihn bereitwillig in einen echten Kampf verwickeln würden.
«Ich werde mich umsehen, Sir, aber wenn niemand verfügbar ist, bin ich sicher, dass einer der jungen Herren der Mannschaft zustimmen wird.»
Als der Mann die Tür hinter sich schloss, bewegte David seine Finger in der weichen Wollpolsterung. Seine Arbeit auf Sharnbrook Grange, wo er sich zuletzt ausgiebig dem Holzhacken gewidmet hatte, spiegelte sich in seinen empfindlichen, rissigen Knöcheln wider. Er lachte leise und erinnerte sich an den Ausdruck auf den Gesichtern der Landarbeiter, als sie sahen, wie ihr neuer Meister eine Axt aufhob und sie mit erfahrener Hand schwang.
Sie ahnten nichts von den unzähligen Stunden, die die Söhne des Herzogs von Strathmore mitten im schottischen Winter auf Strathmore Castle mit Holzhacken verbringen mussten. Charakterbildung, so nannte der Herzog das. Harte Arbeit war die Realität für alle drei seiner Söhne. Auch der buchvernarrte junge Lord Stephen war nicht verschont geblieben.
Der Assistent kehrte bald mit einem nachdenklichen Gesichtsausdruck zurück.
«Es gibt einen Gentleman, der angeboten hat, Sie zu einem Drei-Runden-Match einzuladen, Sir», sagte der Mann.
«Aber?», fragte David.
Der Mann scharrte unbehaglich mit den Füßen. «Der Herr ist ein potenzielles neues Mitglied hier bei uns. Er hat einige Erfahrungen mit dem Boxen auf dem Land, kennt aber noch nicht die Regeln des Clubs.»
David schnaubte. Was der Mann wirklich meinte, war, dass David den armen Kerl schonen sollte. Andernfalls zahlte der möglicherweise seinen Mitgliedsbeitrag nicht. Er nickte.
«Natürlich.»
Er erhob sich von der Holzbank und folgte Mr. Smith hinaus in den Trainingsraum.
Sobald er seinen Gegner sah, verwandelte sich sein Blut in Eis.
Der Mann, der in der Ecke gegen unsichtbare Schatten boxte, komplett mit brandneuen Boxhandschuhen und Stiefeln ausgestattet, war Thaxter Fox.
David blieb stehen und schätzte seinen Gegner ein. Er war groß, breit in den Schultern, und hatte wahrscheinlich einen ordentlichen Schlag. Davids Fäuste ballten sich, als er sich an die unfreundliche Art erinnerte, wie Thaxter Clarice Anfang dieser Woche auf dem Ball behandelt hatte. Die Angst, die er in ihren Augen gesehen hatte, verfolgte ihn immer noch.
Er machte sich ein stilles Versprechen. Er würde Mr. Fox keine Veranlassung geben, seinen eigenen Gentleman-Status infrage zu stellen. Er würde aber auch dafür sorgen, dass der Schurke ihn keineswegs mit seinen behandschuhten Fäusten berührte.
Mal sehen, wie sehr du ein richtiger Mann bist. Hier sind keine Frauen, also musst du dich mit mir auseinandersetzen.
Thaxter Fox kam zuversichtlichen Schrittes zu David herüber und blieb stehen. Er rollte den Kopf von einer Seite zur anderen und tänzelte ein wenig auf der Stelle. Er machte den Anschein von jemandem, der sich beim Faustkampf durchaus zu verteidigen wusste.
Keiner von ihnen kümmerte sich um die sozialen Feinheiten einer formellen Begrüßung.
«Verdammtes Ärgernis, diese Fäustlinge. Warum darf man heutzutage einen Mann nicht mehr mit bloßen Fäusten bekämpfen? Ich wusste nicht, wie viele Gecken es in London
gibt. Es würde mich nicht wundern, wenn sie Mädchen erlauben würden, diesem Club beizutreten», spottete er.
«Hausordnung, Fox», antwortete David und weigerte sich, den Köder zu nehmen. Ein kurzes Nicken zu seinem Sekundanten, und David war bereit.
Er schlug seine Handschuhe gegeneinander und probte geistig schon einmal den Augenblick durch, in dem er beabsichtigte, Thaxter einen festen Schlag gegen den Kopf zu versetzen.
Der Herr weiß, dass du einmal richtig vermöbelt werden musst.
«Mr. Smith, würden Sie uns die Ehre erweisen, den Kampf zu leiten?», fragte David. Er trat zurück und nahm die übliche Eröffnungshaltung für einen Kampf ein.
Thaxter stand auf und blickte ihn an, sehr langsam von Kopf bis Fuß und wieder zurück. Verachtung brannte in seinen Augen.
David holte tief Luft und klärte seinen Kopf. Er war schließlich nicht mehr feucht hinter den Ohren. Thaxter würde mehr als seinen erbärmlichen Einschüchterungsversuch brauchen, um ihn aus der Reserve zu locken. Die Sportplätze von Eton hatten ihm beigebracht, wie man sein Temperament in einem Kampf zügelte. Dieser neugebackene Erbe eines Titels musste erst noch lernen, wie sich ein wahrer Gentleman innerhalb des Ton
aufzuführen hatte.
Mr. Smith trat zwischen die beiden Männer und streckte die Hände aus. «Es gelten die Broughton-Regeln, daher muss ich Sie daran erinnern, dass kein Treten, Beißen oder Schlagen unterhalb der Taille erfolgen darf. Jeder Verstoß gegen diese Regeln führt zur sofortigen Niederlage und zum möglichen Ausschluss aus dem Verein. Ist das klar, meine Herren?»
David nickte seine erforderliche Zustimmung.
«Nun machen Sie schon, Mann», schnappte Thaxter, den es ganz offensichtlich juckte, endlich an seinen Gegner heranzukommen.
Sie tanzten einige Minuten umeinander, wobei jeder Mann den anderen abschätzte. Thaxter deutete ein paar Finten an, aber David trat einfach aus dem Weg. Er suchte nach den üblichen verräterischen Anzeichen eines schlechten Boxers.
Am Ende der ersten Runde klingelte Mr. Smith mit einer kleinen Glocke. David schlenderte zu einem Stuhl und ließ sich von seinem Sekundanten eine Tasse heißen Tee bringen. Es war seine unumstößliche Regel, beim Boxen niemals Alkohol zu trinken, weil ein klarer Kopf von entscheidender Bedeutung war. David lächelte, als er Thaxters angewidertes Schnauben bei der Wahl des Getränks seines Gegners hörte.
Thaxter nahm seinem eigenen Sekundanten eine geöffnete Flasche aus der Hand und klemmte sie zwischen seine Handschuhe, um einen langen Schluck daraus zu trinken.
Runde zwei war fast eine Wiederholung der ersten Runde. Am Anfang tanzten sie umeinander und schafften es schließlich gegen Ende, auch mal ein paar Schläge auszutauschen.
Beim Klang der zweiten Glocke konnte David sehen, dass Thaxter mehr als nur ein bisschen frustriert war. Es erforderte viel innere Stärke, um seinen Gegner nicht anzulächeln. Er spielte mit ihm, und Thaxter wusste es. Während Thaxter Schweißbahnen über den Nacken liefen und sein Hemd bereits durchnässt war, musste David erst noch ins Schwitzen kommen.
Er hatte gerade einen weiteren Schluck Tee getrunken, als er einen dumpfen Schlag auf seiner Schulter spürte.
«Nächste Runde möchte ich einen richtigen Kampf, Radley. Nicht mehr dieser Ringelpietz mit Anfassen rundherum im Raum. Wenn du denkst, du kannst mich schlagen, dann versuche es, verdammt noch mal.»
David drehte sich um und sah, wie sein zorniger Gegner an seinen Platz zurückstürmte und dabei mit den Armen in einem deutlichen Zeichen der Aggression zur Seite ausschlug.
Er blickte auf seine Handschuhe hinunter und überprüfte
ruhig, dass sie richtig zugebunden waren, bevor er seinen Sekundanten mit einem Nicken entließ.
Es war Zeit, die Daumenschrauben anzuziehen.
Sobald zu Beginn der letzten Runde die Glocke läutete, kam Thaxter mit Riesenschritten auf ihn zu. Er schwang seine Arme wild nach David, traf aber nur die Außenseite seines Hemdes. Schnell zog er sich dann in seine Ecke zurück.
David spürte einen Stich in seiner Seite und erinnerte sich an die Stunden, die er mit einer Axt verbracht hatte. Er war offensichtlich nicht in einem so guten Zustand, wie er gedacht hatte.
Er wandte sich an den Schiedsrichter. «Mr. Smith, sind Sie zufrieden, dass ich mich richtig verhalten habe?», fragte er.
Der Schiedsrichter nickte. «Ja, haben Sie, Sir. Sie können den Kampf zu Ende führen. Mr. Fox, bitte setzen Sie den Kampf fort.»
Thaxter machte einen zweiten wilden Versuch, David einen Schlag zu versetzen. Er öffnete den Mund und begann sich zu beschweren, dass der Kampf zu einer Farce wurde, als David schließlich ausholte und einen kräftigen Schlag gegen die Seite seines Kopfes landete.
Thaxter blieb stocksteif stehen.
Für einen Moment stand er einfach nur da und starrte David an, offensichtlich unfähig zu registrieren, dass sein Gehirn in seinem Kopf hin- und herschwappte. Er zwinkerte einige Male heftig, bevor seine Beine unter ihm einknickten und er zu Boden stürzte.
Mr. Smith und die anderen Mitarbeiter kamen ihm schnell zu Hilfe, hoben ihn auf die Füße und halfen ihm zu einem nahe gelegenen Stuhl.
«Mr. Radley hat den Kampf durch einen K.O.-Schlag für sich entschieden. Wenn Sie einen Revanchekampf wünschen, Mr. Fox, müssen Sie dafür zunächst ein voll bezahlendes Mitglied des Clubs werden», sagte Mr. Smith. Er hielt Thaxter eine
kleine Flasche mit Riechsalz unter die Nase.
Der zuckte zusammen und fluchte heftig.
Sobald er sich von seinen gepolsterten Handschuhen befreit hatte, ging David zu dem Stuhl, auf dem Thaxter ein bisschen schief saß. Er bot seine Hand an, wie es üblich war, aber sie wurde abgelehnt.
«Ich kann zwar gegen einen Bankert boxen, aber ich schüttle ihm nicht die Hand», kam die bittere Antwort. Er winkte dem Assistenten zu und forderte ihn auf, ihm die Handschuhe auszuziehen.
David zuckte mit den Schultern. «Wie Sie wollen, Fox. Oh, und Mr. Smith, stellen Sie sicher, dass Sie für jeden der Jungs, die heute bei dem Kampf mitgeholfen haben, ein Pint gutes Bier auf meine Monatsrechnung schreiben. Sie haben gute Arbeit geleistet.»
Er drehte sich auf dem Absatz um und ging schnell zurück in die Umkleidekabinen, um sich Jacke und Mantel zu schnappen. Wenn er sich beeilte, hatte er nach dem Verlassen von Gentleman Jacksons Salon
noch eine Stunde Zeit, sich umzuziehen, ehe er sich auf den Weg zum Hyde Park machte. Ein Versprechen an Alex und Millie, dass er heute Nachmittag mit ihnen spazieren gehen würde, war eine Verpflichtung, die er einhalten wollte. In Anbetracht dessen, wie selten er sie seit ihrer Hochzeit, abgesehen von Partys und Bällen, gesehen hatte, freute er sich darauf, sich dem Gedränge der Londoner Elite für die tägliche Promenade anzuschließen.
«Das nächste Mal werde ich dich in der ersten Runde erledigen», murmelte er, als er in die Bond Street trat und sah, wie Thaxter Fox sich ganz in der Nähe in eine Mietkutsche helfen ließ.
Er bewegte seine Finger. «Ich dachte gar nicht, dass ich ihn so hart getroffen habe», murmelte er.
Sein eigener Wagen fuhr zum vereinbarten Zeitpunkt vor, und er stieg ein.
David war enttäuscht von sich selbst, weil er die Kraft seines Schlags nicht zurückgehalten hatte, und warf sich in den mit Leder gepolsterten Sitz.
«Verdammt noch mal!», brüllte er auf, rutschte auf der Bank nach vorn und hielt sich die linke Seite. Sengender Schmerz schoss durch seinen Körper und nahm ihm den Atem.
Als er endlich in der Lage war, ruhiger zu atmen und klar zu sehen, zog er die Seite seiner Jacke auf. Dort fand er einen etwa fünf Zentimeter langen, sauber geschnittenen Schlitz im Stoff seines Hemdes. Unter dem Hemd befand sich eine kleine Wunde in seiner Hüfte.
Jemand hatte auf ihn eingestochen.
Es dauerte einen Moment, bis die Realität dessen, was passiert war, einsank. Er steckte seine Hand in die Tasche seines Mantels und fand seine Brieftasche noch intakt. Kein Straßenkind hatte versucht, an sein Geld zu gelangen, als er den Salon verließ.
«Nein, das kann nicht er
gewesen sein», flüsterte er.
Er sah noch einmal auf die Wunde in seiner Seite hinunter. Die Klinge, die in seine Seite eingedrungen war, musste kurz und dünn gewesen sein. Gerade genug, um in einem Boxhandschuh versteckt zu sein. Er hatte nicht gespürt, wie das Messer in seine Haut eindrang, und sehr wenig Blut sickerte aus der Stichwunde. Thaxter Fox war ein Mann, der wusste, wie man mit einer Klinge umging.
David setzte sich zurück auf die Bank, während der Wagen die kurze Strecke zur George Street zurücklegte, und dachte über den Grund für Thaxter Fox‘ bösartigen Angriff auf ihn nach.
Als er sein Quartier erreichte, war er in der Stimmung, einen Mord zu begehen.
Die Art und Weise, wie Thaxter Fox unverhohlen mit Clarice gesprochen hatte, und die offensichtliche Aufmerksamkeit, die er Lady Alice geschenkt hatte, deuteten darauf hin, dass er
eine Auge auf Lord Langhams Tochter geworfen hatte. Vor allem auf ihre Mitgift.
Er fluchte ein zweites Mal. Sosehr er versucht hatte, es zu leugnen, aber Mr. Fox als zukünftiger Earl präsentierte einen weitaus geeigneteren Kandidaten für Clarices Hand, als er selbst es war. Und indem Henry Langham seine Tochter mit seinem Erben verheiratete, stellte er sicher, dass seine eigene Abstammungslinie weiterhin an den Familientitel gebunden war.
Davids Situation war schlimmer als je zuvor. Thaxter sah ihn offensichtlich als Bedrohung an. Jemand, der seinen Plänen im Weg stand, sich Clarices Hand zu sichern. Jemand, der eliminiert werden musste.
Als er in der George Street ankam, stieg er unbehaglich die Treppe zu seiner Suite hinauf. Einmal drinnen, zog er Jacke und Hemd aus und untersuchte die Wunde genau. Zum Glück hatte die Klinge nur Haut und Muskeln durchschnitten. Die Stichwunde war weit von allen lebenswichtigen Organen entfernt.
Er knirschte langsam mit den Zähnen, als er über die wachsende Angst nachdachte, die seinen Geist durchdrang. Wenn Thaxter Fox bereit war, ein Messer gegen ein Mitglied der Familie des Herzogs von Strathmore zu ziehen, wozu war er sonst noch in der Lage?
Clarice war eine verletzliche junge Frau. In den Händen von jemandem wie Thaxter könnte sie nicht überleben.
Sein Kammerdiener Bailey, ein Mann von vielen Talenten, nähte und verband die Wunde ohne größere Schwierigkeiten. Er bot an, das Hemd zu flicken, aber David lehnte ab. Er hängte es über einen Stuhl in seinem Schlafzimmer. Es würde das Erste sein, was er sah, als er morgens aufwachte, und das letzte, was er nachts sah, ehe er die Nachtkerze löschte.
Nachdem Bailey den Raum verlassen hatte, stand David mit geschlossenen Augen da, hob sehr langsam die Lider und
ballte dann fest die Fäuste. Er war nicht in der Stimmung, sich mit Millie und Alex im Hyde Park zu treffen. Als er seine Augen auf das Hemd richtete, war er fest entschlossen.
Um die Hand von Lady Clarice Langham war ein Krieg ausgebrochen, und es konnte nur einen Sieger geben.