Kapitel Vierzehn
A m nächsten Morgen wurde David von einem lauten Klopfen an seiner Schlafzimmertür geweckt.
«Geh verdammt nochmal weg!», brüllte er. Er hatte kaum geschlafen und war nicht in der Stimmung für frühe Besucher. Bailey hatte die Zeitung früher am Morgen unter die Tür geschoben, blieb aber darüber hinaus auf Distanz.
«Nein», kam die feste Antwort.
Er öffnete ein Auge und sah Alex, mit Hut und Handschuhen in der Hand, über sich stehen.
Bevor er die Gelegenheit hatte, die Decken zu packen und sie sich wieder über den Kopf zu ziehen, wurden sie gewaltsam aus dem Bett gezogen und auf den Boden geworfen.
«Steh auf. Wir beide werden jetzt im Park ausreiten», sagte Alex.
«Verschwinde, du Bastard», antwortete David.
«Ich werde nicht verschwinden, und ich kann beweisen, dass meine Eltern verheiratet waren, als ich geboren wurde», antwortete Alex.
Andere hätten diese Art des frühmorgendlichen Wortwechsels mehr als nur ein bisschen heftig gewesen gefunden, aber die Radley-Brüder waren einander treu ergeben. Jeder, der ihnen vorhielt, dass sie gar keine richtigen Brüder waren, stieß auf Widerstand. Und trotzdem schreckten sie, als Brüder, nicht davor zurück, einander gegenseitig zu beleidigen.
David setzte sich auf und sah Alex finster an. Es war offensichtlich, dass seine Familie bemerkt hatte, dass er am Abend zuvor erneut einem wichtigen gesellschaftlichen Ereignis ferngeblieben war. Das hatte er nun davon, Teil einer so engen Familie zu sein.
«Hat Mama dich geschickt?», fragte David.
Alex schüttelte den Kopf. «Millie.»
David hob fragend eine Augenbraue. «Sag mir nicht, dass deine neue Braut deine Schlafzimmerfähigkeiten schon satthat?»
Alex lachte herzlich.
David schnaubte und schwang ein Bein über die Bettkante. Alex würde auf so einen plumpen Versuch, ihn aus der Reserve zu locken, nicht hereinfallen.
«Meine Frau sagt, ich muss raus und etwas Energie ablassen. Sie murmelte etwas darüber, mehr Schlaf zu brauchen, als ich sie vor einer Stunde in unserem Bett zurückließ. Ich habe vor, nachher noch in der Apotheke in der Bond Street vorbeizuschauen.»
«Um ihr ein Schlafmittel zu verschaffen?»
Alex verdrehte die Augen. «Nein, um etwas zu bekommen, das ihr mehr Ausdauer gibt.»
David kratzte sich die Stoppeln am Kinn und grinste.
«Warum sollte Mama mich hierherschicken?», wollte Alex wissen.
David seufzte. «Weil ich gestern mit ihr gesprochen und dabei einige ziemlich beunruhigende Neuigkeiten über meine echte Mutter herausgefunden habe. Ich wusste immer, dass sie weggelaufen ist, um Papa nicht zu heiraten, aber ich wusste nicht, dass sie mich absichtlich zu einem Leben als Bankert verurteilt hat. Wusstest du, dass er sie zurückgenommen hätte, selbst wenn sie nicht mit mir schwanger gewesen wäre?»
Alex verzog das Gesicht. «Verzeih mir, wenn das etwas gefühllos klingt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sich anfühlen würde, wenn ich wüsste, dass alles, was ich erben werde, dir gehört hätte, wenn nicht ein Akt unverzeihlicher Selbstsucht genau das verhindert hätte. Aber keiner von uns kann etwas tun, um die Vergangenheit zu ändern.»
David sah seinen Bruder an und nickte. Er konnte Alex niemals sein Glück missgönnen, als rechtmäßiger Erbe ihres Vaters geboren worden zu sein.
«Mein Gespräch mit Clarice lief eigentlich ganz gut. Sie nahm die Kette, sagte aber, wenn sie sie tragen würde, dann erst, wenn sie selbst bereit dafür wäre. Ich bin mir plötzlich und sehr genau bewusst, wie prekär meine Situation mit ihr ist. In all den Jahren ist meine Sehnsucht nach ihr heimlich gewesen. Nur du, und erst seit Neuestem ein paar andere Familienmitglieder, habt gewusst, dass ich in Clarice verliebt war. Jetzt weiß sie es.»
Selbst als er seine Bedenken mit seinem Bruder teilte, wagte David es nicht, seine größte Angst auszusprechen. Er hatte mit Clarice gesprochen und ihr seine Liebe gestanden, aber sie hatte nicht auf gleiche Weise geantwortet. Unerwiderte Liebe wäre die bitterste Pille, die man nach so vielen Jahren stiller Anbetung schlucken konnte.
«Ich habe gestern mit Mama gesprochen, weil ich genau wissen muss, wer ich bin. Manchmal habe ich das Gefühl, im Körper eines Fremden zu stecken.»
Alex tippte mit den Fingern gegen seinen Hut. «Du warst ein Trunkenbold, ein Frauenheld und ein Glücksspieler, aber die gute Gesellschaft scheint dich dafür nicht zu verurteilen. Nur die Tatsache, dass du auf der falschen Seite des Bettes geboren wurdest, scheint für einige ein Problem zu sein. Natürlich, sobald du Sharnbrook in ein erfolgreiches Gut verwandelt hast und über genügend eigenes Geld verfügst, wirst du erkennen, wie schnell einige Leute ihre Meinung ändern.»
«Ich habe keine Ahnung, was du mit Frauenheld meinst. Ich bin für meine Diskretion als wahrer Gentleman bekannt, wenn es um das schöne Geschlecht geht», antwortete David.
Ein vorgetäuschter Husten war Alex‘ Antwort.
Bailey klopfte vorsichtig an die geöffnete Tür und unterbrach die Diskussion. Auf Davids Nicken hin begann er, die Reitgarderobe seines Herrn zusammenzustellen. Alex marschierte zum Fenster, warf die Vorhänge zurück und flutete den Raum mit Morgenlicht.
Er bedeckte seine Augen gegen die plötzliche Helligkeit.
«Also mach dich fertig. Ich werde unten warten. Die neuen Pferde, die Vater letzte Woche gekauft hat, sind im Stall von Strathmore angekommen. Er möchte, dass wir sie ein bisschen bewegen. Es hat wenig Sinn, im Bett zu bleiben und gegen das unerträgliche Unglück des Lebens zu jammern.»
Mit müdem Widerstreben stieg David vom Bett und begann, sich fertigzumachen.
Eine halbe Stunde später ritten er und Alex mit halsbrecherischer Geschwindigkeit die Rotten Row im Hyde Park entlang um die Wette. Da seine Wunde immer noch nicht vollständig geheilt war, wagte er es nicht, sich auf dem Pferd ganz auszustrecken. Er spornte sein Reittier an, so gut er konnte, aber es war unmöglich, seinen Bruder einzuholen. Er brüllte vor Frustration, als Alex ihm ganz leicht davongaloppierte. Am Ende der Strecke drehte Alex sein Pferd herum und trabte zurück zu David.
«Schlafen wir noch?»
David ignorierte den Scherz. Er und Alex teilten viele Geheimnisse, aber er hatte den Vorfall mit Thaxter Fox im Box Salon nicht erwähnt. Er würde sich um Mr. Fox auf seine eigene Art kümmern, sobald er bereit dazu war.
«Die sind gut. Vater ist immer noch ungeschlagen darin, Pferde zu beurteilen», bemerkte David, als er sein Pferd verlangsamte und neben seinen Bruder zog.
Alex sprang von seinem Pferd herunter und klopfte ihm gratulierend auf den Hals.
«Guter Junge.»
David lehnte sich auf seinem Reittier zurück und blickte auf die frühmorgendliche Szenerie. Im Park war schon viel los. Jeder, der sich als versierter Reiter betrachtete, genoss die frische Londoner Luft. Er berührte seinen Hut, um eine vorbeikommende Gruppe von Gentlemen zu grüßen.
«Bleibst du da oben oder kommst du runter, um ein Stück mit mir zu gehen?», fragte Alex.
«Entschuldigung», antwortete David und stieg von seinem Pferd ab.
Sie begannen zu gehen, kamen aber nur ein paar Meter weit, bevor David fluchte und anhielt.
«Was?», fragte Alex.
David nahm seinen Hut ab. «Ich bin die Sache mit Clarice völlig falsch angegangen. Ich brauche einen Schlag an den Kopf.»
Alex lachte und holte zu einem leichten Schlag aus, aber David wich dem schlecht gezielten Hieb einfach aus.
«Immer der Faustkämpfer», sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. Er brachte ein Lächeln zustande, aber der scharfe Schmerz seiner Verletzung ließ ihn um Luft ringen. Er griff nach der Stelle, wo die Bandagen an seiner Haut klebten, und fluchte noch einmal. Alex stand auf und sah ihn von oben bis unten an, seine Besorgnis deutlich in sein Gesicht eingraviert.
«Was hast du getan?», fragte er.
David holte erneut schmerzhaft Luft. «Fox», antwortete er.
Sein Bruder trat schnell an seine Seite, zog das Hemd ein Stück hoch und enthüllte die frischen Bandagen.
«Was hat er getan?»
«Ich habe im Gentleman Jackson gegen ihn geboxt. Erst als ich ging, wurde mir klar, dass er auf mich eingestochen hatte», antwortete David und war überrascht, wie ruhig er sich fühlte.
«Was?! Warum hast du den Schuft nicht verhaften lassen?», rief Alex. Sein Gesicht verzog sich vor Wut.
David hob beide Hände.
«Aus dem gleichen Grund, aus dem du Vater nicht von Lord Langham erzählt hast. Es sind auch Personen involviert, die nichts damit zu tun haben. Wie würde es wohl aussehen, wenn ich Langhams Erben beschuldigen würde, mich töten zu wollen? Ich kann nicht auf zehn Schritte an Clarice herankommen, wenn ihr Vater in der Nähe ist. Er würde mir wahrscheinlich nicht dafür danken, wenn sein Erbe meinetwegen in Ketten gelegt wurde.»
Alex öffnete die Arme und blickte in den Himmel.
«Was sollen wir also tun? Gegen Fox muss vorgegangen werden, du kannst ihn nicht mit dieser Widerlichkeit davonkommen lassen», sagte er.
«Wie gesagt, ich bin ein Dummkopf gewesen. ich habe Langham gestattet, uns eine mögliche Zukunft zu verweigern. Damit soll jetzt Schluss sein. Und plötzlich ist mir auch klar geworden, dass ich Clarice um jeden Preis beschützen muss. Fox kann mich nur angegriffen haben, weil er mich als Bedrohung für seine Chancen sieht, sich ihre Mitgift zu sichern.»
Ich habe mein ganzes Leben lang versucht, die Umstände meiner Geburt nicht zu einer wichtigen Angelegenheit zu machen. Ich habe mich nie beleidigt gezeigt, wenn andere versucht haben, mich in den Dreck zu ziehen. Und was hat es mir gebracht? Wenn es um die Frau geht, die ich liebe, mit Sicherheit nirgendwohin. Wenn Langham wüsste, dass ich Clarice geküsst habe, würde er sich Strumpfbänder aus meinen Eingeweiden machen lassen.»
Ein wissendes Lächeln huschte über Alex‘ Lippen. David stöhnte. Natürlich hatte Lucy Millie mitgeteilt, was sie im Sommerhaus gesehen hatte. Und wenn Millie es wusste, hatte sie es Alex erzählt.
David schüttelte den Kopf, bevor er seinen Bruder fest anstarrte.
«Ich bin es leid, mich korrekt zu verhalten, immer derjenige zu sein, der um des Anstands willen Platz machen muss. Von diesem Moment an werde ich alles tun, um Clarices Herz und Hand zu gewinnen. Und wenn es ihrem Vater nicht gefällt, kann er sich zum Teufel scheren. Ich werde beschützen, was mir gehört.»
«Handelt es sich bei deiner Todessehnsucht tatsächlich um einen Plan?», fragte Alex.
David nickte.
«Ja, aber was Clarice davon halten wird, steht in den Sternen. Sie bat um Zeit, um über ihre Zukunft nachzudenken, aber ich fürchte, ich muss mein Versprechen brechen. Ich muss meine Anstrengungen verstärken.»
Da Thaxter Fox sich nun also darauf verlegte, schmutzige Guerillataktiken anzuwenden, wusste David, dass er keine Wahl hatte. Als er langsam mit Alex den Weg zurückging, tröstete er sich mit dem Wissen, dass er den Rest seines Lebens haben würde, um sich mit Clarice zu versöhnen, nachdem er seine Pläne erfolgreich umgesetzt hatte.
«Millie hat mir gesagt, dass Clarice heute Abend bei den Tates sein wird», antwortete Alex.
«Gut, dann fange ich heute Abend an.»
Clarice holte noch einmal tief Luft.
«Ich hoffe, er mag es», flüsterte sie vor sich hin.
Hinter ihr befestigte Bella die letzten Haarnadeln. Die einfache Tiara aus kleinen roten Rosen war eine spezielle Anfertigung, um ihr neues Abendkleid zu ergänzen. Ihre jüngsten Einkäufe bestanden aus mehreren atemberaubenden Kreationen, die ihre Figur optimal zur Geltung bringen sollten. Selbst zwei aus schlichtem Musselin-Stoff waren dabei.
Da von ihrem Vater an diesem Abend ein späteres Erscheinen erwartet wurde, hatten Clarice und Lady Alice ein bescheidenes weißes Kleid mit einem von roten Rosen umringten Oberteil gewählt. Eine Rosengirlande rankte sich am Rock hinab und lief in einem kleinen See aus Blüten über dem Saum aus.
Einfach und elegant, es war sehr gut für eine junge unverheiratete Frau geeignet. Ihr Vater würde es zweifellos gutheißen, aber in ihrem Innersten wusste sie, dass es David war, für den sie sich an diesem Abend anzog.
«Sie sehen so schön aus, Lady Clarice», bemerkte Bella. Ihre Zofe war schon den ganzen Nachmittag in fröhlicher Stimmung, seit Clarice endlich nachgegeben und ihr die Erlaubnis gegeben hatte, ihre alten Kleider zu entsorgen. In ihrem Alter und mit ihrer etwas molligen Figur würde Bella sie nicht tragen können, aber Clarice wusste, dass zwischen den Dienstmädchen der großen Häuser ein blühender Handel mit alten Kleidern bestand. Bella würde sich eine ordentliche Summe dazuverdienen, indem sie Clarices Trauerkleider verkaufte.
Clarice warf ihrem Spiegel einen letzten Blick zu und erhob sich vom Stuhl.
Davids Geständnis im Sommerhaus und sein Geschenk belasteten sie schwer. Die Ablehnung seines Antrags war die praktischste und offensichtlichste Antwort. Es war das, was ihr Vater verlangen würde.
Aber was ist mit mir?
Ihn zu akzeptieren, würde ihre ganze Welt verändern. Sie würde einen Ehemann bekommen, aber zu welchem Preis? Bella schlang einen warmen cremefarbenen Kaschmirschal um Clarices Schultern, aber sie bemerkte es kaum. In Gedanken versunken erinnerte sie sich kaum daran, wie sie das Haus verließ, um wieder einmal zu einer der vielen Abendveranstaltungen zu gehen.
«Clarice, meine Liebe, du lebst mal wieder in den Wolken», sagte Lady Alice einige Minuten nach ihrer Ankunft in Lord und Lady Tates elegantem Zuhause. Clarice drehte sich um und runzelte die Stirn, bevor sie bemerkte, dass sie mitten in einem überfüllten Raum stand.
«Ich bitte um Verzeihung», antwortete sie.
Ihre Großmutter lächelte, bevor sie sich näher beugte. «David ist heute Abend hier. Ich habe ihn mit seiner Familie gesehen, als wir ankamen.»
Clarice schüttelte den Kopf. «Papa wird in Kürze hier sein. Wir dürfen uns nicht sehen.»
«Das ist also deine Antwort. Du wirst den Rest deines Lebens damit verbringen, dem Mann auszuweichen, den du liebst, nur weil es deinem Vater missfallen könnte?»
Dem Mann, den ich liebe?
Sie starrte Lady Alice an. «Wer hat gesagt, ich sei in ihn verliebt?»
Die Witwe räusperte sich. «Sag mir nicht, dass ich Liebe nicht sehen kann, wenn sie einer jungen Frau ins Gesicht geschrieben steht. Welchen anderen möglichen Grund könnte es für die Veränderung deines gesamten Verhaltens geben, sobald David Radleys Name erwähnt wird?»
Ein Schauer flatterte zwischen Clarices Schulterblättern hinab, und bei den Worten ihrer Großmutter formten ihre Lippen ein kleines «o». Sie legte eine Hand auf ihre Lippen, aber ein Glucksen entkam.
«Liege ich falsch?», fuhr Lady Alice fort.
«Ich weiß es nicht, wirklich nicht», antwortete Clarice.
«Nun, nur du kannst entscheiden, meine Liebe. Denk daran, wenn du zu dem offensichtlichen und unvermeidlichen Schluss kommst, dass du in ihn verliebt bist, musst du auch die Meinung deines Vaters berücksichtigen.»
Clarice nickte. «Das heißt, er würde sich der Verbindung widersetzen.»
«Das heißt, ihr beide müsst vielleicht durchbrennen», murmelte Lady Alice, als sie sich von Clarice abwandte und eine Freundin begrüßte, die gerade gekommen war.
Clarice sah zu, wie Lady Alice mit ihrer Freundin ein kleines Gespräch führte. Nichts an ihrer Haltung zeugte noch davon, dass sie erst vor einer Minute vorgeschlagen hatte, ihre Enkelin sollte mit dem unehelichen Sohn eines Herzogs durchbrennen.
Clarice lächelte. Ihre Großmutter hatte für jedes Problem eine Lösung.
Könnte sie es tun? Wenn sie sich tatsächlich in David verliebte, war sie bereit, sich ihrem Vater zu widersetzen? Ein einziger Walzer in der Öffentlichkeit, ohne dass ihr Vater anwesend war, und ein privates Treffen waren das Äußerste, wozu ihre Tapferkeit bis hierher gereicht hatte.
Als sie auf ihr Abendtäschchen hinunterblickte, erinnerte sie sich an die Onyx Kette, die sie hineingeschoben hatte, bevor sie Langham House verließ, um zum Ball zu gehen. Vielleicht hatte Lady Alice recht. Warum sonst hätte sie die Kette mitgebracht?
Sie folgte ihrer Großmutter durch die Menge, immer dankbar, dass ihr Vater noch auf einem Geschäftsessen war, ehe er nachkommen konnte. Die Menge teilte sich, als sie sich der Tanzfläche näherten, und sie erhaschte ihren ersten Blick auf David.
Er war wie immer in ein Gespräch vertieft. Das Licht eines nahe gelegenen Kronleuchters ließ sein schwarzes Haar glänzen. Seine elegant geschnittene Abendjacke schmiegte sich an seine breiten, muskulösen Schultern.
Sie schluckte.
Lady Alices Aufmerksamkeit kehrte zu ihr zurück. «Siehst du», flüsterte sie.
Clarice nickte und betrachtete ihn in all seiner Pracht. Er drehte seinen Kopf in ihre Richtung und fing an zu lächeln, dann schien ihm etwas einzufallen, und er blieb stehen. Er wandte sich wieder seinem Begleiter zu.
Enttäuschung umklammerte ihr Herz. Er hatte sie kaum bemerkt.
Der Grund für seine angebliche Gleichgültigkeit wurde bald deutlich, als Lady Alice neben ihr zischte: «Herr, rette uns.»
Clarice schaute in die Richtung, in die ihr Spazierstock zeigte, und ihr Mund wurde trocken. Thaxter Fox schritt durch den Raum, dicht gefolgt von Lady Susan Kirk. Als sie näherkamen, sah Clarice, dass sie beide den gleichen überheblichen Ausdruck auf ihren Gesichtern trugen. Sie wünschte, sie könnte irgendwo anders sein.
«Guten Abend, Lady Alice. Guten Abend, Lady Clarice. Wie gut, Sie beide bei so guter Gesundheit zu sehen, dass Sie sich für einen so anspruchsvollen Anlass hinauswagen», sagte Thaxter und tauchte in eine seiner übertriebenen Verbeugungen.
Lady Susan knickste tief vor Lady Alice, bevor sie Clarice bei der Hand nahm. Sie betrachtete Clarices Kleidung von oben bis unten und nickte zustimmend.
«Ich freue mich sehr, Sie heute Abend hier zu sehen, meine liebste Clarice. Und so ein hübsches Kleid. So viel besser geeignet für eine unverheiratete Miss als dieses freizügige Kleid, das Sie auf der Gartenparty getragen haben.»
Lady Alice schnaubte missbilligend. Clarice biss sich auf die Zunge. Ihre Großmutter hatte das Kleid für die Gartenparty ausgewählt.
«Ich freue mich, Sie und Mr. Fox zu sehen, und dass Sie einander so schnell näherkommen», antwortete sie und erinnerte sich an ihre Seite des Handels.
Susan wurde rot. «Nun ja, wir ...»
«Ihr Vater hat uns vor ein paar Wochen einander vorgestellt. Lord Langham kümmert sich um diejenigen, die verstehen, dass das richtige Verhalten den Menschen helfen kann. Lady Susan hat mir eine Fülle von überlegten Ratschlägen gegeben. Obwohl ich sagen muss, dass es schade war, dass Sie nicht lange bei Lady Brearleys Gartenparty bei uns bleiben konnten. Ich fand Ihr plötzliches Verschwinden ziemlich enttäuschend», antwortete Thaxter mit eisiger Stimme.
Clarice sah Thaxter und Susan an und kam schnell zu dem Schluss, dass sie beide eine Art unheiliges Bündnis geschlossen hatten. Sie biss angewidert die Zähne zusammen.
Das war nicht Teil unserer Abmachung.
Clarice erspähte einen Diener mit einem Tablett mit Champagnergläsern.
Meine Damen und Herren, Taten sagen mehr als Worte.
Sie streckte die Hand aus und nahm zwei Gläser. Mit einem Blick auf ihre hinterlistige Freundin leerte sie eines davon in einem Zug und reichte dem Diener das leere Glas. Ein Hauch von Missfallen kräuselte Susans Lippen, aber Thaxter schwieg.
«Clarice!», zischte Susan, als sie das zweite Glas an ihre Lippen hob.
Clarice schenkte ihr ein böses Lächeln, das schnell verschwand, als Lady Alice eine Hand ausstreckte und ihr wortlos das Glas wegnahm. Da die Wirkung des ersten Glases ihre Sinne schnell trübte, war sie mehr als dankbar für das rechtzeitige Eingreifen ihrer Großmutter.
«Ich glaube, du hast heute Abend andere Prioritäten, Clarice», sagte Lady Alice und deutete auf David, der sich auf den Weg durch den Ballsaal zu ihnen machte.
«Mr. Radley, es ist wie immer eine Freude, Sie zu sehen», schwärmte Lady Alice, als er näherkam. Sie streckte ihm eine behandschuhte Hand entgegen und schenkte ihm das süßeste Lächeln. Clarice sah ihre Großmutter an und fragte sich, wer diese Frau war, die hier neben ihr stand.
«Lady Alice», antwortete David und gab ihr einen Kuss auf die Hand.
Bei dem angewiderten Ausdruck auf Susan und Thaxters Gesicht wäre Clarice am liebsten in heftigen Beifall ausgebrochen.
Oh, gut gespielt.
David begrüßte Lady Susan, wie ihr Status es erforderte, ignorierte jedoch Thaxter. Clarice rollte ihre Zehen in ihren Tanzschuhen zusammen. Man bekam nicht täglich zu sehen, wie jemandem die volle Breitseite verabreicht wurde. Lautlos schalt sie sich dafür, wie sehr sie die unangenehme Atmosphäre genoss. Ihre verstorbene Mutter hätte ein solches Verhalten niemals gebilligt.
Davids Blick fiel jetzt auf sie.
«Lady Clarice», sagte er.
Sie fragte sich, ob nur sie die Wärme und Sehnsucht in seiner Stimme hörte. Sie lächelte. In Gegenwart des Mannes, der ihr seine Liebe gestanden hatte, schaffte sie es nicht, die erforderliche Maske der Höflichkeit aufzusetzen.
«Mr. Radley», antwortete sie und kämpfte um ihre Gelassenheit.
«Lady Alice, ich möchte Sie um Erlaubnis bitten, mit Ihrer Enkelin zu tanzen», sagte er.
Thaxter trat vor und versuchte, zwischen Clarice und David zu kommen.
«Kommt nicht in Frage, Radley! Sie kennen Lord Langhams Dekret. Seine Tochter tanzt nicht mit Leuten wie Ihnen.»
«Sie vergessen sich, Mr. Fox. Sie mögen eines Tages ein Earl sein, aber in diesem Moment sind Sie nur ein unhöflicher Eindringling. Während mein Sohn anderweitig beschäftigt ist, werde ich entscheiden, ob ein Gentleman geeignet ist, mit meiner Enkelin zu tanzen oder nicht. Mr. Radley, Sie haben meine Zustimmung», sagte Lady Alice in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ.
Wut huschte über Thaxters Gesicht. Zweimal innerhalb von fünf Minuten vermutete Clarice, dass er sein wahres Selbst offenbarte.
«Ich entschuldige mich aufrichtig, Lady Alice, ich wollte Ihnen gegenüber nicht respektlos sein», antwortete Thaxter.
Clarice holte tief Luft. David verstieß nicht nur gegen das, was sie im Privaten vereinbart hatten, sondern er riss das imaginäre Papier, auf dem die Vereinbarungen standen, praktisch in Stücke. Von Rechts wegen sollte sie wütend auf ihn sein und seine Bitte ablehnen. Aber da sie wusste, wie viel Befriedigung das Thaxter und Susan geben würde, konnte sie ihn nicht zurückweisen. Etwas sagte ihr, dass sie ihm nach heute Nacht nie wieder etwas verweigern würde.
Wenn er mutig genug war, den Zorn ihres Vaters öffentlich zu erregen, dann war das Mindeste, was sie tun konnte, dabei zu ihm zu stehen. Sie streckte ihm höflich die Hand entgegen.
«Ich würde gerne mit Ihnen Walzer tanzen, Mr. Radley. Und wer weiß, wenn Sie geschickt genug sind, kann ich Ihnen heute Abend vielleicht einen zweiten Tanz gewähren.»
Seine Augenbrauen hoben sich gerade genug, um zu zeigen, dass er dieser Planänderung zustimmte. Sie standen zueinander.
«Ich werde sie rechtzeitig zum Abendessen zurückbringen», sagte er. Lady Alice winkte sie beide weg.
«Du weißt aber, dass mein Vater heute Abend hier erwartet wird?», murmelte sie, als David sie zur Tanzfläche führte.
«Ja», bestätigte er.
Das Orchester schlug die ersten Töne eines Walzers an.
«Bist du bereit, mit mir den Rubikon zu überschreiten, Clarice?»
Sie sah ihn an, nickte und fand insgeheim die Tatsache schade, dass es ihr Vater war, mit dem sie es aufnehmen mussten, und nicht eine ganze Armee. Eine Armee konnte man zur Vernunft bringen.
Er ergriff ihre Finger, legte die andere Hand um ihre Taille und zog sie an sich. «Komm, lass uns den Moment genießen. Ich gehe davon aus, dass dein Vater dich in dieser Saison nicht noch einmal im Zentrum einer skandalösen öffentlichen Szene sehen möchte.»
Sie sah auf und in seine Augen. «Es sind die Folgen, die mich beunruhigen. Bist du nach dem, was er deinem Bruder angetan hat, wirklich bereit, es zu riskieren?»
Für einen Moment sah er schockiert aus.
«Ich bin kein Dummkopf, David», fügte sie hinzu.
Er sah ihr tief in die Augen.
«Ich weiß. Und ja: Für dich, Clarice, würde ich den Zorn deines Vaters riskieren.»
In diesem Moment bewegte sich etwas in ihrer Seele. Ob es Liebe war oder die Erkenntnis, dass David wirklich für sie kämpfen wollte, wusste sie nicht. Aber sie würde tun, was er verlangte, und mit ihm im Augenblick leben.
Die Tanzfläche war überfüllt, aber Clarice sah nur David. Er hielt sie fest in seinen Armen und wirbelte sie mühelos herum. Auf Schritt und Tritt nutzte er die Gelegenheit, um ihr Zärtlichkeiten ins Ohr zu flüstern. Zuerst kamen sie von Herzen, und Tränen stiegen ihr in die Augen, aber mit fortschreitendem Tanz wurden sie witziger und grenzten an das Lächerliche. Als er flüsterte, dass sie seine Tasse mit warmer Milch zur Schlafenszeit wäre, lachte sie vor Freude.
«Mr. Radley, Sie sind absolut empörend», exklamierte sie.
Bei seinem gespielt überraschten Ausdruck stolperte sie durch den nächsten Schritt. Ein starker Arm zog sie an sich, hob sie vom Boden hoch und setzte sie genau an der Stelle wieder ab, an der sie stehen sollte. Sie hatte noch nie mit jemandem getanzt, der mit der Musik so eins war. Fähigkeiten konnten erlernt werden, aber die Art, wie er sich bewegte, war reiner Instinkt.
Wenn nur dieser Moment etwas länger dauern könnte. Vielleicht ein Leben lang?
Sie war jedoch kein Dummkopf, und ebenso wenig war sie eine Frau, die hoffte, dass die Dinge für immer andauern würden. Die Musik ging schließlich zu Ende, und David zog sie durch die letzte Drehung. Sie standen Hand in Hand, starrten auf ihre verschlungenen Finger und zögerten, einander loszulassen.
«Danke», sagte sie, als sie schließlich ihre Hände zurückzog.
Er hob den Kopf, und sie sah, wie sich sein Kehlkopf bewegte, als er schluckte.
«Ich werde dich nicht im Stich lassen, und ich werde niemals die Hoffnung für uns aufgeben», sagte er.
Sie schaute auf sein Gesicht und sah, dass sein Blick auf etwas hinter ihr gerichtet war. Sie runzelte die Stirn.
«Mein Vater?»
«Ja.»
«Wütend?»
Er nickte.
Sie hielt einen Moment inne, bevor sie knapp vor ihm knickste und sich dann zu ihrem Vater umdrehte. David packte sie am Arm und zog sie zu sich zurück.
«Du gehörst mir, egal was er sagt oder tut», sagte er mit entschlossener Stimme.
Clarice sagte nichts. Ihr Herz schlug heftig in ihrer Brust. Sie konnte nicht denken. Langsam ging sie von ihm weg und zu ihrem wie versteinert dastehenden Vater. Neben Lord Langham standen Mr. Thaxter Fox und Lady Susan Kirk.
Sie ignorierte den Erben ihres Vaters und hielt den Blick auf Susan gerichtet, ihre angebliche Freundin. Tränen traten ihr in die Augen, als sie sah, dass Thaxter und Susan ein selbstzufriedenes Kopfnicken austauschten. Niemand musste Clarice erklären, warum ihr Vater am Rand der Tanzfläche stand und ein Gesicht wie ein Gewitter machte.
Als sie die kleine Gruppe erreichte, hörte sie Susan flüstern: «Clarice, es erfordert einen erfahrenen Lügner, um zu wissen, wenn jemand anderes nicht die Wahrheit sagt. Du hast nicht wirklich gedacht, dass ich deine blödsinnige Geschichte darüber, du hättest dich in Charles Ashton verliebt, geglaubt habe, oder?»
Die anderen Gäste entfernten sich, plauderten und lachten. Jeder, der die kleine Gruppe beobachtete, die sich um Lord Langham versammelte, würde nichts Besonderes sehen. Ein freundlicher Vater kommt, um seine gesellschaftlich ungeschickte Tochter nach Hause zu bringen. Ein paar Freunde, die sich von ihr verabschieden.
Eine einzelne Träne lief Clarice über die Wange, als ihr Vater sie schweigend am Arm nahm und sie von der Tanzfläche wegführte. Lady Alice erhob sich von ihrem Stuhl, sammelte Clarices Sachen ein und folgte ihnen hinaus in die Nacht.
David stand da, die Hände an seiner Seite zu Fäusten geballt, als die Gruppe um den Earl ging. Lucy trat an seine Seite, und nach einiger Überzeugung akzeptierte er ihren Standpunkt, dass es seiner Sache nicht förderlich sein würde, wenn er Thaxter Fox mitten auf einer öffentlichen Veranstaltung verprügelte.
«Zeit für einen taktischen Rückzug. Wenn du eine Szene machst, erreichst du gar nichts», sagte sie.
Sie nahm ihn am Arm, und sie gingen zusammen durch die offenen Gartentüren auf die vom Mondlicht beschienene Terrasse.
Sobald David draußen und weg von anderen Gästen war, ließ er seine aufgestaute Wut losbrechen.
«Verdammter Dummkopf!», fluchte er.
«Er glaubt nur, das Richtige für seine Tochter zu tun», antwortete Lucy und ignorierte die unhöflichen Worte ihres Bruders.
Er schüttelte den Kopf.
«Nicht Langham. Ich. Ich bin der Dummkopf. Ich bin zu weit gegangen. Ich hätte Clarice hierher nach draußen bringen sollen, aber nein, ich musste ja unbedingt und in der Öffentlichkeit eine große Geste machen. Sobald dieser Widerling Fox dem Earl gezeigt hatte, dass er herausgefordert wurde, hatte Langham ja gar keine Wahl mehr, als seine Tochter hier wegzuholen.»
Er sackte zurück gegen die Wand des Hauses und lehnte in der Dunkelheit seinen Kopf gegen den kalten Stein.
«Also, was wirst du jetzt tun?», fragte Lucy.
David seufzte. Seine Schwester hatte ihre Abendhandschuhe ausgezogen und kaute nervös an einem ihrer Fingernägel. Er war vielleicht derjenige, der verliebt war, aber er wusste, dass Lucy unbedingt wollte, dass er und Clarice ein Paar wurden.
Er schob sich von der Wand weg und achtete darauf, seine linke Seite nicht zu belasten. Er ergriff Lucys Hand, um sie sanft von ihren Lippen wegzuziehen.
«Tu das nicht, du weißt, wie sehr es Mama nervt», tadelte er.
«Oh, was macht ein Fingernagel aus, wenn deine Zukunft auf dem Spiel steht?», antwortete sie.
Lucy neigte zwar schon immer zur Melodramatik, wenn es um Herzensangelegenheiten ging, aber er musste zustimmen: diesmal hatte sie recht. Das Leben, das er geplant hatte, beruhte darauf, dass Clarice seine Frau wurde. Niemand sonst würde an seine Seite passen.
Er strich Lucy einen Kuss auf die Stirn.
«Ärgere dich nicht, liebe Schwester, wann hast du jemals gesehen, dass ich vor einem Kampf zurückscheue? Ich habe mich gerade mal warm gemacht. Die Saison dauert noch eine ganze Weile - Zeit, um Langham davon zu überzeugen, dass Clarice zu mir gehört.»
«Ja natürlich», antwortete Lucy und war eindeutig nicht überzeugt.
«Komm schon Lucy, lass uns wieder rein gehen. Das Letzte, was ich möchte, ist, dass entweder Thaxter Fox oder die verdammte Susan Kirk glauben, sie hätten meinen Abend ruiniert.»