Kapitel Zwei­und­zwanzig
D avid schloss die Augen und ließ die Erleichterung, Clarice gefunden zu haben, über sich hinwegschwemmen. Nass, kalt und völlig erschöpft hielt er seinen Preis fest in seinen Armen.
Der Rest der Welt existierte nicht.
Nur sie. Nur Clarice.
«Mr. Radley. Es hätte mir von vornherein klar sein müssen, dass nur ein verrückter Schotte es fertigbringt, sich in eine höllische Nacht wie diese zu stürzen», bemerkte Lady Alice, als sie ohne fremde Hilfe den Fuß der Treppe erreichte.
Ein tiefes Glucksen hallte durch seine Brust. Während Clarice sich immer noch fest an seinen Körper klammerte, verbeugte er sich, so gut er konnte.
«Es ist doch nur ein leichter Sommerregen mit einem frischen Lufthauch. Meine Mutter und meine Schwestern hätten sicherlich von den Bediensteten ein Picknick einpacken lassen und so das angenehme Wetter genießen können», antwortete er.
Lady Alice klatschte anerkennend in die Hände. «Sie vergessen, junger Mann, dass ich in Edinburgh geboren wurde, und sogar mein Vater hätte sich Gedanken darüber gemacht, wie dumm es ist, heute Abend unterwegs zu sein. Willkommen auf Langham Hall.»
Sie versuchte, Clarice sanft von ihm wegzuziehen.
«Nun, meine Liebe, das ist genug. Vergiss nicht, dass Diener anwesend sind.»
Clarice nickte, aber ihre Hand blieb in Davids Griff. Er lächelte. Sie hätte nicht loslassen können, selbst wenn sie gewollt hätte.
«Verzeihen Sie mir, Lady Alice, aber ich bin nicht in der Lage, Ihre Enkelin loszulassen», antwortete er.
Die Witwe blickte finster, aber der Ausdruck in ihren Augen verriet sie.
«Also gut, aber lassen Sie uns das nicht hier unten im Foyer ausdiskutieren. Wenn Sie mit nach oben kommen würden, könnten wir Sie richtig empfangen.»
Er folgte ihnen nach oben und in die Wärme des Salons.
«Wo ist er?», verlangte David zu wissen, sobald die Tür hinter ihnen geschlossen war. Die Abwesenheit von Thaxter Fox war nicht unbemerkt geblieben.
«In seinem Zimmer, bewusstlos», antwortete Lady Alice.
«Sie ... ich meine, wir haben ihn unter Drogen gesetzt», sagte Clarice. Als sie sich zum Feuerlicht umdrehte, sah David den blauen Fleck und die Schwellung an der Seite ihres Gesichts.
Eine Wut, die er nie für möglich gehalten hatte, durchfuhr ihn, und er ließ ihre Hand los. Mit geballten Fäusten bemühte er sich, seinen Zorn unter Kontrolle zu bringen. Ein überwältigender Wunsch, seine Faust in Thaxter Fox‘ Gesicht zu schlagen, schoss durch sein Gehirn.
Clarice berührte seinen Arm, und er zuckte zusammen.
«Ist schon gut, David, ich habe es geschafft, ihn abzuwehren. Abgesehen von ein paar Kratzern und Blutergüssen bin ich intakt», sagte sie.
Erleichterung schwamm in seinem Kopf. Voller Angst, dass er zu spät kommen würde, um sie zu retten, hatte er seine Pferde verzweifelt bis an ihre Grenzen getrieben auf dem Weg von London hierher. Wenn Clarice kompromittiert wäre, hätte sie keine andere Wahl gehabt, als zuzustimmen, Thaxter Fox zu heiraten.
Während er trotzdem bereit gewesen wäre, sie zu heiraten, wusste David, dass ein Wort von Thaxter genügt hätte, um ihren Ruf zu zertrümmern. Ihr gesellschaftlicher Absturz wäre unvermeidlich und nicht wiedergutzumachen gewesen.
«Wie bist du so schnell hierhergekommen? Wir haben den Brief erst gestern nach London geschickt», sagte Clarice.
«Ich habe keinen Brief gesehen», antwortete David.
«Aber woher wusstest du, dass er hier ist?», fragten Clarice und Lady Alice gemeinsam.
Er trat näher an den Kamin heran und versuchte, seine durchgefrorenen Hände zu wärmen. Lady Alice nahm Platz und gab vor, die Tatsache zu ignorieren, dass ihre Enkelin ihre Arme noch einmal um Davids Taille geschlungen hatte.
«Eigentlich ist Lady Susan Kirk der Grund, warum ich hier bin. Nach dem, was meine Schwester Lucy mir erzählt hat, leidet sie unter einem schweren Fall von Schuldgefühlen. Es war Susan, die uns vor Thaxters Plan gewarnt hat, Clarice zu kompromittieren.»
«Judas», zischte Clarice an seiner Seite.
Lady Alice zuckte zusammen.
David schüttelte den Kopf. «Sie hatte keinen Penny in der Tasche, als sie den schmutzigen Plan dieses Erpressers enthüllte. Nach allem, was ich weiß, hat Mr. Fox deiner Freundin bestimmte Andeutungen gemacht, die sie glauben ließen, er habe vor, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Sobald sie den wahren Grund kannte, warum er die Stadt verlassen hatte und dir nach Norfolk gefolgt war, wusste sie natürlich, dass sie zum Narren gehalten worden war.»
«Er ist hinter meiner Mitgift her», antwortete Clarice.
«Da es jetzt Gerüchte gibt, dass Susans Mitgift verschwunden sein könnte, hat Mr. Fox offenbar entschieden, dass du die bessere Wahl bist. Wenn Susan ihren Stolz nicht geschluckt und Lucy den heimtückischen Plan von Fox offenbart hätte, würde ich jetzt nicht hier stehen. Wenn sich der Staub von all dem gelegt hat, kannst du vielleicht in deinem Herzen einen Weg finden, ihr zu vergeben», antwortete er.
Clarice drückte ihn fester.
«Lass los, Clarice, wir müssen reden.»
Sie seufzte, tat aber, um was er sie bat.
Er rieb seine Hände vor dem Feuer aneinander, erleichtert, als das Kribbeln seiner Finger die Rückkehr der Empfindung in seinen Händen signalisierte. Nachdem er einen Großteil seines Lebens in Schottland verbracht hatte, war er sehr erfahren darin, auf einem Pferd durch Winterstürme zu reiten. Heute Abend waren seine Fähigkeiten als Reiter jedoch an ihre Grenzen gestoßen.
Nachdem er im Dorf angekommen war, hatte er seinen Fahrer und seine Kutsche zurückgelassen und beschlossen, das letzte Stück des Wegs im schwindenden Licht zu Pferd zu riskieren. Der Wirt hatte ihn gebeten, den Sturm abzuwarten, aber sobald David wusste, dass sich Thaxter Fox in Langham Hall aufhielt, hätten ihn sogar Höllenhunde nicht davon abhalten können, weiterzureisen.
«Sie sagen, Fox ist bewusstlos, dass Sie ihn unter Drogen gesetzt haben?», sagte er und wandte sich an Lady Alice.
«Ja. Ich träufelte vor dem Abendessen etwas in seinen Brandy und auch in seinen Portwein. Er sollte mindestens bis zum Morgen wie ein Lamm schlafen», antwortete sie.
David hob eine Augenbraue und war im Stillen dankbar dafür, dass sie in der Schlacht auf seiner Seite war.
«Und was haben Sie mit ihm vor, wenn er aufwacht?»
Lady Alice lächelte und klimperte mit dem Schlüsselbund, den sie unter dem Kissen neben sich hervorholte.
«Die Männer, die ihn aus London hergebracht haben, wurden nicht bezahlt. Ich bot ihnen ihren ausstehenden Lohn und ein kleines Extra an, wenn sie ihn morgen früh in die Stadt zurückbringen. Sie schienen keinen weiteren Grund zu brauchen, um die sonnigen Gefilde von Norfolk zu verlassen», antwortete sie.
Er nickte. «Gut.»
«Großmutter und ich wollten morgen früh nach Sharnbrook reisen», fügte Clarice hinzu.
Die Hoffnung, die in seinem Herzen aufflammte, erwärmte ihn mehr als die Hitze des gut geschürten Feuers. Clarice wollte ihn auf seinem eigenen Besitz aufsuchen. Er sah zu ihr, und die Röte ihrer Wangen bestätigte seinen Verdacht.
Sie griff in ihr Dekolleté und zog die Kette mit dem Anhänger hervor.
«Du sollst wissen, ich hatte meine Entscheidung bereits getroffen, bevor Mr. Fox hier aufgetaucht ist.»
Sie warf Lady Alice einen kurzen Blick zu. «Jetzt habe ich keine Angst mehr. Ich werde Papa die Wahrheit sagen, und dann muss er entscheiden, was das für uns bedeutet. Ich weiß nur, dass ich mich für meine Zukunft entschieden habe und sie in Davids Händen liegt.»
Er stand einen Moment da und genoss schweigend ihre Worte, während er sich wünschte, sie wären allein, damit er sie um den Verstand küssen könnte.
David streckte Lady Alice eine Hand entgegen. «Ich würde gerne nach Ihrem Gast sehen, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Ich bin nach meiner langen Reise hundemüde, aber ich werde besser schlafen, wenn ich sicher bin, dass unser Freund nicht in der Lage ist, den Frieden zu stören, bevor er morgen auf den Weg gebracht wird.»
Lady Alice stand auf und ging zur Tür. «Folgen Sie mir», sagte sie.
Mit Clarices Hand fest in seiner, folgte David der Witwe den langen Flur entlang. Am Ende des Flurs befand sich eine Tür, die in ihrem Aussehen allen anderen Türen ähnelte, außer dass zwei große Stühle davor gestellt worden waren. Auf jedem der Stühle, jeweils unter einer warmen Decke, schlummerte ein kräftig gebauter Landarbeiter.
«Ich dachte, Sie sagten, die Tür sei verschlossen», bemerkte David.
«Ist sie auch, aber ich will kein Risiko eingehen. Ich habe den Fehler gemacht, unseren lieben Mr. Fox zu unterschätzen, als ich ihn das erste Mal traf. Ich werde diesen Fehler nicht wiederholen», antwortete Lady Alice.
Er hörte, wie Clarice an seiner Seite ein Lachen unterdrückte. In dieser kurzen Zeit hatte sich etwas in ihr verändert. Sie hatte ihren Humor wiederentdeckt. Ihre Leichtigkeit.
Die Männer auf den Stühlen rührten sich. Einer öffnete ein Auge, und als er Lady Alice erblickte, sprang er auf die Füße. Sie winkte mit der Hand und bat ihn, sich zu setzen.
«Unser Gast war ruhig?», fragte David.
Der Mann verbeugte sich respektvoll. «Ja, Sir, still wie ein Grab.»
«Guter Mann, schlaf ein bisschen», antwortete er.
Er drehte sich um und war schon fast oben auf der Treppe, als ihm ein Gedanke kam.
«Bitte die Schlüssel, Lady Alice», sagte er und streckte die Hand aus.
Er würde keinen Schlaf finden, bevor er seinen Erzfeind nicht gesehen hatte.
Er marschierte den Flur zurück und ließ Clarice und ihre Großmutter auf seine Rückkehr warten. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. Mit beiden Wachleuten an der Tür, betrat er den Raum.
Das einzige Licht im Raum kam von der Glut des sterbenden Feuers, aber die Gestalt des vollständig bekleideten Thaxter Fox, der auf dem Bett lag, war unverkennbar. Flach auf dem Rücken liegend schnarchte er mit weit offenem Mund. Der Sabber, der aus seinem Mundwinkel auf den Kragen seines Hemdes sickerte, wäre komisch gewesen, wenn es jemand anderes gewesen wäre. Wenn die Umstände anders gewesen wären. David trat näher und ragte über seinem schlafenden Feind auf. Die hässliche Wunde in seinem Gesicht war ausreichender Beweis für Clarices Selbstverteidigung. Sie hatte diesen Schurken bekämpft, um ihre eigene Zukunft zu retten.
«Sie gehört mir, und wenn Sie sie das nächste Mal ansehen, werde ich Sie bis ans Höllentor prügeln», sagte er mit klarer und gleichmäßiger Stimme.
Er stapfte aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich ab. Er würde sich am Morgen um Thaxter Fox kümmern.
Lady Alice blieb lange genug im Salon, dass sie alle einen kleinen festlichen Umtrunk genießen konnten. Sie hob ein Glas zu Clarice und David und trank schnell den Wein.
«Ich muss nur nach der Köchin sehen, es dauert nicht lange», sagte sie, als sie aus dem Raum schlüpfte und die Tür hinter sich schloss.
Clarice kicherte und wandte sich an David. «Ich wäre überrascht, wenn sie jemals die Küche im Erdgeschoss betreten hätte.»
Die Worte waren ihr kaum über die Lippen gekommen, als David sie in seine Arme zog, seinen Kopf neigte und sie küsste.
Der erste Kuss, den sie im Sommerhaus geteilt hatten, war zärtlich gewesen und voller zaghafter Werbung, aber dies war etwas ganz anderes.
Er wartete nicht darauf, dass sie sich seinen verlockenden Lippen ergab. Vielmehr füllte seine Zunge besitzergreifend ihren Mund. Ihr Körper reagierte mit einem Anflug von Verlangen. Sie legte eine Hand in seinen Nacken, packte ihn kühn an den Haaren und zog ihn zu sich herunter.
Er stöhnte, und in ihr bäumte sich alles auf in dem Wissen, dass sie diese starke Wirkung auf ihn hatte. Er begann, Küsse über ihre verletzte Wange zu ziehen.
«Ich werde jeden Mann töten, der versucht, dich zu berühren», hauchte er in ihr Ohr.
«Nur du, es wird immer nur dich geben», flüsterte sie.
Sie ergriff die Initiative, neigte den Kopf und suchte erneut seinen Mund. Sie war in ihrem Leben nur zweimal geküsst worden, aber sie lernte schnell. Sie knabberte mit den Zähnen an seiner Unterlippe und forderte ihn auf, sich ihr hinzugeben.
Ein tiefes, sinnliches Knurren war ihre Belohnung.
Er zog sie fest an seinen Körper, und sie spürte die Härte seiner Erregung. Irgendwo im Hinterkopf betete sie, dass es noch eine Weile dauern würde, bis ihre Großmutter zurückkehrte.
Ihr Lippen verschmolzen immer weiter miteinander, ein ewiges Geben und Nehmen. Als sie sich schließlich schwer atmend voneinander lösten, hielt Clarice eine Hand an ihre geschwollenen Lippen. Jetzt verstand sie endlich, warum Alex und Millie so hart darum gekämpft hatten, zusammen sein zu dürfen. Als sie David ansah, wusste sie ohne Zweifel, dass er ihre Welt war.
«Ich liebe dich und ich möchte dich heiraten», sagte sie.
Die Erinnerung an den Moment, in dem er ihre Worte hörte und akzeptierte, würde lange in ihrem Herzen bleiben. Er schloss die Augen und nickte langsam.
«Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dich glücklich zu machen», antwortete er.
In den Tagen, seit sie ihre Entscheidung getroffen hatte, hatte Clarice lange und gründlich darüber nachgedacht, wie sie zusammen glücklich werden könnten. Da ihr Vater gegen die Verbindung war, war die Antwort einfach.
«Lass uns nach Schottland davonlaufen. Wir können heiraten, sobald wir die Grenze überschritten haben», sagte sie. Es bestand immer die Möglichkeit, dass die Umstände Davids Meinung geändert hatten.
Er ergriff ihre Hand.
«Der Tag, an dem ich dich zu meiner Frau mache, wird der glücklichste Tag meines Lebens sein, aber wir können nicht fliehen.»
Sie runzelte die Stirn. Enttäuscht, aber nicht überrascht.
«Wenn ich dich nach Schottland entführe, dann beginnen wir unsere Ehe mit einem Skandal. Dein Vater wird zweifellos versuchen, die Verbindung für nichtig zu erklären, und aufgrund meiner mangelnden Legitimität kann er sehr gut Erfolg damit haben. Meine Antwortet lautet nein. Wir werden im Beisein von Familie und Freunden in London heiraten, und der Bischof von London wird uns seinen Segen geben.»
«Ich möchte unser Zusammensein nicht mit unserem ersten Streit beginnen, aber wie genau willst du meinen Vater dazu bringen, unserer Ehe zuzustimmen?», antwortete sie.
Er zog sie in seine Arme und küsste ihr langes, blondes Haar.
«Ich hatte bereits vor, London zu verlassen und dich zu holen, bevor ich von Fox‘ Plänen erfuhr. Der Weg, sicherzustellen, dass dein Vater unserer Verbindung zustimmt, ist der gute, altmodische Weg. Ich werde dich entführen», antwortete er und lachte tief.
Nach einem Schlummertrunk, über den Lady Alice versicherte, dass er kein Schlafmittel enthielt, zog sich David in den Raum zurück, der eilig für ihn zurechtgemacht worden war. Er saß auf der Bettkante und grinste wie ein Idiot.
Der Ausdruck auf Clarices Gesicht, als er ihr mitteilte, dass sie entführt werden würde, war absolut unbezahlbar gewesen. Als er es Lady Alice nur wenige Minuten später erklärte, hatte sie einfach eine Augenbraue hochgezogen und dann zustimmend genickt. Seine Zukünftige hatte mit großen Augen dagestanden und die beiden angestarrt.
Nun, als sein Kopf das weiche Kissen berührte und die erste Welle des Schlafes ihn überflutete, lächelte David. Clarice hatte ihre Wahl getroffen, und sie hatte ihn gewählt.
«Mein kleines närrisches Mädchen, wie kannst du nur glauben, dass ich so leicht einknicken werde? Ich werde nicht ruhen, bis Langham mir seine volle und von Herzen kommende Zustimmung gibt, dass ich dich heirate», flüsterte er in die Dunkelheit, ehe er einschlief.