19

R obin verfolgte mich in dieser Nacht in einem Traum, der sich ständig wiederholte. Ich saß auf der Anklagebank in meinem eigenen Gerichtssaal. Robin wurde als Zeugin aufgerufen, betrat den Saal und zeigte mit dem Finger auf mich. Dann wiederholte sie wieder und wieder dasselbe Wort: Mörder. Mörder. Mörder. Ein gesichtsloser Richter erhob sich und verkündete das Urteil. Als ich zur Strafe mit einem Gewicht an den Füßen in einer riesigen dampfenden Kaffeetasse ertränkt werden sollte, wurde es meinem Unterbewusstsein offensichtlich zu absurd, und ich wachte auf. Um ein Uhr, um drei Uhr und um fünf Uhr. Um halb sieben gab ich schließlich auf. Ich ging in die Küche und machte einen Espresso. Einen doppelten Dreifachen. Grisu kam gähnend um die Ecke gestrichen, streckte sich ausgiebig und blickte mich vorwurfsvoll an. Sein Gesichtsausdruck sagte: »So früh stehst du doch nie auf!« Nach einem Augenblick fügte der Gesichtsausdruck hinzu: » … Aber wenn du schon mal wach bist, kannst du auch gleich Frühstück machen.«

Ich nickte dem Kater zu: »Ja, ja. Ich mach schon.« Aus dem Schrank unter dem Kühlschrank holte ich eine Schale und eine Dose mit seinem Lieblingsfutter hervor. Während es mir so früh am Morgen schwerfiel, einen Bissen hinunterzukriegen, hatte Grisu damit keine Probleme. Gierig machte er sich über seinen Napf her.

»Dass du um diese Zeit schon so viel essen kannst«, murmelte ich.

Der Kater machte eine Pause, blickte mich an und dann meine Tasse. »Dass du um diese Zeit schon so viel Kaffee trinken kannst.«

Ich ließ mich auf das Wortgefecht mit Grisu nicht weiter ein, sondern verschwand unter der Dusche. Meine Kaffeetasse nahm ich mit.

Um kurz nach halb acht saß ich bereits an meinem wie immer etwas unordentlichen Schreibtisch im Büro und telefonierte mit Uli Nussbaum.

»Morgen, Siggi! Seit wann bist du denn so früh im Büro?«

»Ich habe schlecht geschlafen«, erwiderte ich. »Hast du was herausgefunden?«

»Nein. Mit Isar habe ich gesprochen. So etwas wie eine Anlegerliste haben wir nicht. Wir wissen nur von den drei Anlegern, die Strafanzeige gestellt haben. Vermutlich gibt es aber mindestens noch fünfzig weitere, die sich nicht trauen, weil es ihnen zu peinlich ist. Bis der Insolvenzverwalter einen Überblick hat, werden noch Wochen vergehen. Vielleicht starten wir einen Aufruf in der Presse, sich zu melden, wenn man zu den Betrogenen gehört.«

»Das hilft uns leider nicht bei der Frage weiter, ob Jochen zu den Anlegern gehört hat. Also sind wir genauso schlau wie vorher.«

»Anscheinend schon. Ich melde mich, sobald sich hier etwas Neues ergibt. Bis bald.« Uli legte auf.

Etwa zehn Minuten später klopfte es an der Tür.

»Bitte!«, rief ich, ohne von meiner Akte aufzublicken.

»Guten Morgen, Siggi!«, sagte eine Stimme, die ich jetzt noch nicht erwartet hatte. Robin steckte ihren hübschen Kopf zur Tür herein. Anscheinend war ich nicht der Einzige, der schlecht geschlafen hatte.

»Guten Morgen, Robin!« Ich freute mich, sie zu sehen. Irgendwie. Leider.

»Darf ich reinkommen?«

Ich nickte. Robin trat ein, schloss die Bürotür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.

»Du bist früh dran«, stellte ich fest. »Oder bin ich schon wieder zu spät?« Ich hatte beschlossen, den gestrigen Abend nicht anzusprechen. Und in Zukunft vorsichtiger zu sein.

»Nein.« Robin lächelte, aber nicht so frech wie sonst. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. »Ich wollte dir sagen, dass ich den Abend gestern sehr schön fand.« Das klang ehrlich.

»Und deswegen bist du so früh aufgetaucht, um mir das zu sagen?« Zugegeben eine wenig charmante Reaktion. Zumal mir der Abend auch sehr gefallen hatte. Jedenfalls bis ich Robins Notebook aufgeklappt hatte.

»Nein. Es ist gestern Abend noch etwas passiert. Ich möchte dich um Hilfe bitten. Oder jedenfalls um einen Rat.«

Robin setzte sich an meinen kleinen Besprechungstisch und zog eine rote dünne Mappe aus ihrem Rucksack, in der einige Papiere lagen.

»Ein guter Freund und Kollege, Karsten Riemer, hatte gestern Abend einen schweren Autounfall. Er liegt auf der Intensivstation. Es sieht nicht gut aus.«

Robin berichtete, was sie von ihrer Kollegin Maria erfahren hatte, und von dem Speicherstick, den sie für Karsten seit ein paar Tagen aufbewahrte.

»Er hat gesagt, das sei für den Fall, dass ihm etwas zustößt. Ich habe mir erst gar nichts dabei gedacht. Er hat mir schon oft eine Sicherungskopie von seiner aktuellen Story gegeben. Und Maria auch. Aber als ich gestern Abend von dem Unfall hörte …«

»Das kann auch ein unglücklicher Zufall sein«, versuchte ich, Robin zu beruhigen. Ich sah, dass sie nicht nur besorgt war. Robin hatte Angst.

»Um was für eine Story geht es überhaupt?«

»Ein großer Immobilienschwindel. War letzte Woche in der Presse …«

»Die WIP

Robin nickte.

»Und dazu hat dein Kollege Unterlagen? Was für welche?«

»Ein paar Zeitungsberichte, eine Liste der Anleger …«

»Eine Liste der Anleger? Wo?«

Robin öffnete die rote Mappe und holte ein paar Seiten bedrucktes Papier hervor, die sie mir zuschob. Tatsächlich eine Liste mit etwa sechzig Namen. Nicht alphabetisch sortiert. Mit dem Zeigefinger ging ich die einzelnen Namen ab. Auf der ersten Seite ohne Erfolg. Aber auf der Mitte der zweiten Seite wurde ich fündig. Mershofen, Jochen. Hinter seinem Namen standen Jochens Adresse und eine Geldsumme. Eine runde Million Euro.