E s war bereits neun Uhr, als mein Smartphone klingelte. Uli Nussbaum – Büro zeigte das Display an. Ich tauschte meine Kaffeetasse gegen das Handy.
»Danke, Siggi!«, begann Uli das Gespräch.
»Für gewöhnlich sagt man um diese Zeit ›Guten Morgen‹, Uli«, brummelte ich. »Aber wenn es dir lieber ist: Gern geschehen!« Nach einem Moment fügte ich hinzu: »Wofür eigentlich?«
»Tu mal nicht so unschuldig!«, sagte Uli. »Du weißt genau, was ich meine. Unser alter Freund Rechtsanwalt Oliver Bollmann war eben hier, um einen Speicherstick abzugeben, auf dem sich hochinteressante Dateien befinden. Unter anderem eine Anlegerliste der WIP . Unsere Wirtschaftsabteilung ist vor Freude ganz aus dem Häuschen.«
»Das freut mich. Aber was habe ich damit zu tun? Hat Oliver gesagt, dass der Stick von mir kommt?«
»Nein. Er beruft sich auf seine anwaltliche Schweigepflicht. Er hat nur gesagt, ein Mandant habe ihn beauftragt, den Speicherstick abzugeben.«
In Gedanken klopfte ich mir selbst auf die Schulter. Ich hatte Robin vorgeschlagen, Oliver Bollmann zu mandatieren und ihm den Stick zu übergeben. Er konnte sich auf seine Schweigepflicht berufen, und weder Robin noch ich mussten irgendwelche unangenehmen Fragen beantworten.
»Na also. Wie kommst du dann auf die Idee, dass ich etwas damit zu tun habe?« Natürlich, weil Uli zwei und zwei zusammenzählen konnte.
»Die jugendliche Fantasie eines alten Mannes«, lachte Uli. »Das war nach dem Rückschlag gestern ein gutes Trostpflaster für uns.«
»Was für ein Rückschlag?«
»Hast du es noch nicht gelesen? Steht heute Morgen in jeder Zeitung. Bariato hat Selbstmord begangen.«
»Was? Wann?«
»Gestern Vormittag.« Also kurz nachdem Robin und ich in seinem Büro gewesen waren. »Er hat sich in sein Auto gesetzt, ein Seil um den Hals gelegt, das andere Ende um einen Baum und dann Vollgas gegeben.«
»Originelle Methode«, rutschte es mir heraus. »Aber auch eine ziemliche Schweinerei.« Das hätte ich Bariato nicht zugetraut. Ich hatte zwar angenommen, dass er sich absetzt. Aber nicht endgültig.
»Man kann den Menschen immer nur vor den Kopf gucken«, entgegnete Uli. »So, ich muss noch was tun. Leg dich wieder hin.«
Kaum hatte ich das Smartphone wieder gegen die Kaffeetasse getauscht, rief Robin an.
»Habe es schon gehört«, begann ich das Gespräch. »Bariato ist tot.«
»Ja. Selbstmord. Ich kann es gar nicht glauben!«
»Bist du schon angezogen?« Ich hatte die Frage noch nicht ganz ausgesprochen, da hätte ich mir am liebsten auf die Zunge gebissen.
»Kommt darauf an, was du dir darunter vorstellst«, erwiderte Robin, und ich konnte ihr freches Grinsen vor meinem geistigen Auge sehen.
»So bekleidet, dass sie dich bei der Polizei nicht festhalten, wenn wir wieder gehen wollen.«
Eine halbe Stunde später holte ich Robin an ihrem Appartement ab. Da ich morgens nur selten Todessehnsucht verspüre, hatte ich darauf bestanden, selbst zu fahren.
»Guten Morgen, Nick«, grüßte ich Hauptkommissar Hiller, nachdem wir das Polizeipräsidium betreten hatten. Ich hatte unser Kommen angekündigt, sodass uns der Kommissar bereits am Eingang erwartete. Er erwiderte den Gruß.
»Dich interessiert der Selbstmord von diesem Gutachter?«
»Ja. Wer ermittelt in dem Fall?«
»Kollegin Blume. Ich habe sie schon vorgewarnt, dass du uns besuchst«, grinste Nick. »Seltsamerweise freut sie sich darauf. Manche Frauen haben einen komischen Geschmack.«
»Möglicherweise auch nur Mitleid«, lachte ich.
Conni Blume. Die Hauptkommissarin, die der Schauspielerin Gina Carano nicht nur ähnlich sah, sondern auch deren beeindruckende Nahkampffähigkeiten aufwies. Schwarzer Gürtel im Jiu-Jitsu, frühere Landesmeisterin im Kickboxen und Trainerlizenz für Wing Chun. Blume arbeitete seit einigen Jahren im Morddezernat, und das mit beeindruckenden Erfolgen.
»Hallo, Herr Buckmann«, grüßte die Kommissarin, die immer ein selbstbewusstes, herausforderndes Lächeln auf den Lippen hatte. »Wie geht es Ihnen?«
Die Polizeibeamtin trug ein schwarzes Langarmshirt, das nicht nur gut zu ihren schwarzen, schulterlangen Haaren und ihren dunklen Augen passte, sondern auch erahnen ließ, in welcher beeindruckenden körperlichen Form sie war.
»Danke, gut! Das ist meine Praktikantin, Frau Bukowsky.« Die beiden Frauen schüttelten sich die Hände. »Uns interessiert der Tod von Lutz Bariato.«
»Hat mir Nick bereits erzählt. Wir haben ihn als Selbstmord aufgenommen. Unter Zurückstellung von einigen Zweifeln.«
Ich wurde hellhörig.
»Unter Zurückstellung von einigen Zweifeln ?«, fragte Robin.
Blume nickte und zog eine dicke Akte aus einer Schublade des Schreibtischs. Einige Seiten waren mit Post-its markiert.
»Momentan gehen wir davon aus, dass Bariato ein Seil um einen Baumstamm gebunden hat, das Ende dann durch die Heckscheibe ins Fahrzeuginnere führte, sich um den Hals legte und das Fahrzeug beschleunigte. Durch die Krafteinwirkung auf Hals und Wirbelsäule, nachdem das Seil gespannt wurde und sich die Schlinge zuzog, wurde dann der Kopf vom Rumpf getrennt.«
Robin verzog das Gesicht. »Eklig.« Nach einem Augenblick fügte sie hinzu: »Aber originell.«
Die Kommissarin nickte. »Ja. Mal was anderes.«
»Und wo sind die Zweifel an diesem Ablauf?«, fragte ich.
Blume klappte die Akte auf und zeigte ein Foto vom Inneren des Wagens. Um das Lenkrad waren noch immer die Hände des kopflosen Sachverständigen gelegt. Vorbildlich auf zehn vor zwei. Jeder Fahrlehrer wäre stolz gewesen.
»Seine Hände waren mit Sekundenkleber am Steuer befestigt.«
»Beweist das nicht, dass Bariato keinen Selbstmord begangen hat?«, fragte Robin.
»Nicht unbedingt«, antwortete Blume.
Robin sah mich fragend an.
»Viele Selbstmörder fesseln ihre Hände, damit sie nicht im letzten Moment noch unbewusst versuchen, sich zu befreien«, erklärte ich.
Blume nickte. »Stimmt. Und das Fläschchen mit dem Klebstoff haben wir auch im Auto gefunden. Allerdings …« Die Polizistin blätterte zum letzten Post-it-Strip. »Dieses Foto zeigt den Ort, wo das Fahrzeug gestanden haben muss, als es vorbereitet wurde. Da auf dem Boden sind Abdrücke. Sehr tiefe. Irgendetwas Schweres hat sich in den Boden gedrückt. Die Spuren sind frisch.«
»Und das bedeutet?«, fragte Robin.
»Vielleicht, dass das Fahrzeug manipuliert wurde. Möglicherweise aufgebockt. Das würde gegen einen Selbstmord sprechen. Aber um diese Theorie ausreichend zu belegen, sind die Spuren zu dürftig.«
»Nehmen wir einmal an, Ihre Theorie würde ins Schwarze treffen«, setzte ich an. »Wer käme dann als Täter in Betracht?«
Die Hauptkommissarin antwortete nicht sofort, sondern sah sich erneut die Fotos an und überlegte.
»Der oder die Täter wären jedenfalls Profis. Um so geringe Spuren zu hinterlassen, braucht man eine Menge Erfahrung. Erfahrung, wie sie die Mafia hat. Oder ein Auftragskiller.«
Robin und ich warfen uns einen Blick zu, der der aufmerksamen Kommissarin nicht entging.
»Wer es auch immer ist«, begann Blume und blickte besorgt, »er ist extrem gefährlich.«