32

J enny Garcia ging mit schnellen Schritten über den Flur der Chefetage. Seitdem der leitende Oberstaatsanwalt pensioniert worden war, hatte sein Stellvertreter, Oberstaatsanwalt Bartelschwing, kommissarisch die Leitung der Behörde übernommen. Unerwarteterweise und entgegen den vorher getroffenen Absprachen hatte sich neben dem auserkorenen Nachfolger ein weiterer Kandidat auf die Stelle beworben. Das Ministerium befürchtete eine Konkurrentenklage und tat das, was es am besten konnte: nichts. Abwarten und Tee trinken. Vielleicht würde der andere Bewerber mürbe werden und die Bewerbung zurückziehen. Dann müsste keine Entscheidung getroffen werden. Oder man würde ihm ein Angebot machen, das er nicht ablehnen konnte.

Jenny Garcia stoppte vor der Tür des Vorzimmers, klopfte an und trat ein.

»Guten Morgen, Frau Garcia«, grüßte die Chefsekretärin freundlich. »Ich sage Bescheid, dass Sie da sind.«

Sie stand auf und verließ den Raum durch die Zwischentür zum Chefzimmer. Jenny nutzte den Moment für einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Die kurzen, schwarzen Haare saßen perfekt, Bluse und Jackett waren gerichtet. ›Passt‹, dachte Jenny zufrieden. Ihr Vorgesetzter hatte sie um ein Gespräch gebeten, wahrscheinlich ging es um das WIP -Verfahren, das Jenny seit Kurzem bearbeitete. Vermutlich wollte sich der stellvertretende Behördenleiter einen Eindruck vom Stand der Ermittlungen verschaffen. Die Chefsekretärin kehrte zurück.

»Bitte treten Sie ein!«

Durch die Zwischentür gelangte die junge Staatsanwältin in das große Büro des leitenden Oberstaatsanwaltes, in das Bartelschwing mittlerweile umgezogen war, bis ein Nachfolger ernannt werden würde. An dem Besprechungstisch in der vorderen Hälfte des Raumes saßen Jennys Abteilungsleiter, Oberstaatsanwalt Dr. Bemser, und der stellvertretende Behördenleiter Bartelschwing. Beide erhoben sich, als Jenny eintrat. Bartelschwing ergriff das Wort.

»Hallo, liebe Frau Garcia! Danke, dass Sie so schnell gekommen sind. Bitte nehmen Sie Platz. Einen Kaffee?«

Jenny verneinte und setzte sich auf den gepolsterten Stuhl gegenüber dem kommissarischen Behördenleiter.

»Ich habe großartige Neuigkeiten für Sie«, fuhr Bartelschwing fort, kaum dass Jenny Platz genommen hatte. »Das Ministerium hat eine Stelle im Dezernat Z ausgeschrieben, auf die Sie sich bewerben sollen.«

Jenny wusste nicht, was sie sagen sollte. Eine Ministeriumsstelle wäre das Karrieresprungbrett schlechthin. Eigentlich war sie dafür ein wenig zu jung. Jenny strahlte bis über beide Ohren.

»Das ist …«, setzte sie an.

»Ja. Nicht wahr?«, unterbrach Bartelschwing sie. »Ich habe hier bereits alles für Sie vorbereitet.« Er griff nach einer dünnen schwarzen Aktenmappe, die vor ihm auf dem Tisch lag, und holte ein bedrucktes Blatt Papier hervor.

»Sie müssen nur noch hier unterschreiben. Dann kann es schon am Montag losgehen.«

»Schon Montag?«, wunderte sich Jenny.

»Ja. Scheint dem Ministerium sehr eilig zu sein. Ist das ein Problem?«

»Ich bin mitten in dem Ermittlungsverfahren WIP «, antwortete Jenny. »Wir haben gestern einen Speicherstick mit wichtigem Datenmaterial erhalten. Und heute war die Hausdurchsuchung bei dem verstorbenen Sachverständigen Lutz Bariato.«

»Darum kann sich dann Ihr Nachfolger kümmern, Frau Garcia«, winkte Bartelschwing jovial ab.

»Gut, dann werde ich alles mit ihm besprechen. Es ist wichtig, keine Zeit verstreichen zu lassen. Wer wird mein Nachfolger?«

»Darüber haben wir noch gar nicht nachgedacht. Das wird sich finden. Ich gratuliere Ihnen, Frau Garcia!«

»Danke schön.« Jenny griff nach dem ausgefüllten Bewerbungsformular und wollte gehen.

»Ach, da fällt mir gerade noch etwas ein …«, hielt Bartelschwing Jenny zurück.

»Ja?« Die junge Staatsanwältin setzte sich wieder.

»Ich habe gehört, dass Sie das Ermittlungsverfahren erweitern wollen. Gegen Jeremias Laak?«

Jenny nickte. »Ja. Auf dem Speicherstick war ein Foto, auf dem er mit Lutz Bariato und Dimitris Stogarev, dem Geschäftsführer der WIP , abgebildet ist. Bei der Hausdurchsuchung heute haben wir in Bariatos Schreibtisch ein kleines Notizbuch gefunden, in dem verschiedene Namen auftauchen, immer im Zusammenhang mit irgendwelchen Geldbeträgen. Ein Eintrag lautete ›Jeremias Laak, sechzigtausend Euro, bar‹.«

»Dabei kann es sich doch nur um ein Missverständnis handeln. Jeremias Laak ist der Sohn unseres Ministerpräsidenten«, gab Bartelschwing zu bedenken.

»Ich fürchte, es ist kein Missverständnis. Ich bin soeben dabei, einen Durchsuchungsbeschluss für seine Villa zu beantragen«, erwiderte Jenny.

»Davon muss ich ganz entschieden abraten«, sagte Bartelschwing in einem beinahe väterlichen Tonfall. »Sie verrennen sich da in etwas. Am besten stellen Sie das Verfahren gegen Jeremias Laak ein. Sie hätten gar keines einleiten sollen, das war etwas voreilig. Ich habe deswegen schon mit Ihrem Abteilungsleiter gesprochen. Er ist derselben Meinung wie ich.«

Jenny blickte zu Oberstaatsanwalt Bemser, der bis jetzt geschwiegen hatte. Er nickte. »Sehe ich auch so«, sagte Bemser in seiner üblichen schläfrigen Art.

»Ich sehe das anders«, antwortete die junge Staatsanwältin ebenso freundlich wie selbstbewusst. »Und solange ich noch die Ermittlungen leite, werde ich so weitermachen, wie ich es gerade erklärt habe.«

»Nun. Ich könnte Sie natürlich anweisen, das Verfahren einzustellen«, sagte Bartelschwing und beugte sich auf seinem Sessel nach vorn.

»Natürlich«, entgegnete Jenny freundlich. »In diesem Fall müsste ich formell widersprechen. Denn das Verfahren bei dieser Sachlage einzustellen, könnte sich als Strafvereitelung im Amt darstellen.«

Bartelschwing wurde ungehalten. »Nun lassen Sie mal die Kirche im Dorf und werden Sie nicht unverschämt.« In einem ruhigen, aber dennoch sehr deutlichen Ton fügte er hinzu: »Alexander Laak ist nicht nur der Ministerpräsident, sondern auch ein enger Parteifreund unseres Justizministers. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Justizminister eine Staatsanwältin in sein Ministerium holen würde, die völlig grundlos gegen den Sohn eines guten Freundes ermittelt.«

Jenny schwieg. Damit hatte der stellvertretende Behördenleiter völlig recht. Sie würde einen sogenannten EdK-Vermerk in ihrer Personalakte erhalten. EdK – Ende der Karriere. Einer Karriere, die soeben erst begonnen hatte. Einer Karriere, der sie jetzt richtig auf die Sprünge helfen könnte, wenn sie dafür nur ein einziges Mal über ihren eigenen Schatten springen würde.

»Ich verstehe«, sagte Jenny schließlich.

»Das ist gut, meine Liebe.« Bartelschwing lehnte sich zufrieden in seinem Sessel zurück und legte die Spitzen seiner Finger aneinander. »Der Minister wird sich über Ihre Bewerbung sehr freuen.«

Jenny stand auf und nahm das Bewerbungsformular in die Hand. »Das glaube ich nicht. Es wäre die Bewerbung einer Staatsanwältin, die eine Hausdurchsuchung bei dem Sohn seines Parteifreundes durchgeführt hat. Und deshalb …« Jenny zerriss das Bewerbungsformular in der Mitte. »Werde ich es erst gar nicht versuchen.«