R obin wartete in ihrem roten Flitzer, bis das Tor zur Einfahrt der Tiefgarage unter ihrem Appartementhaus hochgefahren war. Während sie wie üblich viel zu schnell in die Garage hinunterfuhr, zeigte das Armaturenbrett des Autos einen Anruf an. Robin betätigte die Freisprecheinrichtung und konnte gerade noch die Worte »Ich bin’s, Maria …« verstehen, als die Verbindung abbrach. In der Tiefgarage hatte das Handy keinen Empfang. Sie würde ihre Freundin in einer Minute aus ihrem Appartement zurückrufen. Robin parkte den Mini auf dem Stellplatz, der zu ihrer Wohnung gehörte. Von der Tiefgarage führte ein kleiner Gang, der auf jeder Seite von einer Brandschutztür abgeschlossen wurde, zu dem Treppenhaus, in dem sich auch der Fahrstuhl befand. Robin öffnete die erste Tür, betätigte den Lichtschalter und betrat den kurzen Gang. Sie hatte ihn bereits zur Hälfte durchquert, als die Klinke der nächsten Tür von außen hinuntergedrückt wurde. Robin blieb abrupt stehen, als sie die Person erblickte, die vor ihr in den schmalen Gang getreten war und nun den Ausgang blockierte. Der Mann war mindestens ein Meter neunzig groß und wog gut und gerne hundert Kilogramm. Er war völlig in Schwarz gekleidet, von den Sicherheitsschuhen bis zur Lederjacke. Ein dunkler Vollbart verdeckte den größten Teil des nicht gerade freundlich aussehenden Gesichts. Seine Augen wirkten kalt und bewegten sich kaum. Sie fixierten Robin wie die Augen einer Raubkatze. Instinktiv wollte die Journalistin weglaufen, doch dazu kam sie nicht mehr. Von hinten schlang sich ein kräftiger Arm um ihren Hals, während ein anderer ihren rechten Oberarm ergriff. Die Journalistin fluchte innerlich. Sie hatte sich nur auf den Mann vor sich konzentriert und die Gefahr, die sich von hinten anschlich, nicht bemerkt. Sie spürte, wie ihre Drosselvenen links und rechts des Halses abgedrückt wurden. Robin wusste, dass dieser Griff in weniger als dreißig Sekunden zur Bewusstlosigkeit führen konnte. Noch drückte der Angreifer nicht mit voller Kraft zu. Langsam und mit einem ekelhaften Grinsen, sodass Robin die beiden Goldzähne sehen konnte, die einen Schneidezahn und einen Eckzahn ersetzten, kam der Mann mit dem Vollbart näher.
»Du und deine Freundin hätten Jeremias in Ruhe lassen sollen«, sagte er, und die Journalistin erkannte einen russischen Akzent in der tiefen Stimme. Einen Schritt vor Robin blieb der Hüne stehen und griff mit der rechten Hand in seine Jackentasche. »Euer letzter Fehler.«
Robin musste jetzt handeln. Blitzschnell und so fest wie sie nur konnte trat sie dem Bärtigen zwischen die Beine und traf verdammt gut. Noch während sich ihr Gegenüber aufstöhnend vor Schmerzen mit beiden Händen an den Schritt fasste und nach vorne auf seine Knie kippte, stemmte Robin die Füße auf den Boden, drückte sich ab und lief rückwärts. Gleichzeitig griff sie mit beiden Händen den Arm, der um ihren Hals lag. Obwohl ihr Angreifer um einiges größer und schwerer war, wurde er von ihrer plötzlichen und heftigen Gegenwehr derart überrascht, dass er das Gleichgewicht verlor und rückwärtstaumelte, bis er an die Tür stieß. Die Türklinke bohrte sich schmerzhaft in seine Nierengegend, sodass er den Griff lockerte. Robin nutzte den Freiraum, drehte sich herum und riss das Knie nach oben. Noch einmal. Und noch einmal. Der Angreifer, dessen Gesicht sie jetzt zum ersten Mal sah und der ebenso wie sein Kumpan ganz in Schwarz gekleidet war, krümmte sich vor Schmerzen nach vorn. Robin ergriff den Kragen der Lederjacke und zog daran, sodass der Mann vollends nach vorn stürzte. Dann riss sie die Tür auf und sprintete zu ihrem Mini. Sie öffnete die Fahrertür und sprang hinein. Robin startete den Motor und fuhr die Einfahrt der Tiefgarage hinauf. Als sie die Lichtschranke durchfuhr, begann sich das schwere Eisentor zu heben. So langsam wie heute war es Robin noch nie vorgekommen. Sie sah in den Rückspiegel und konnte die Stahltür erkennen, die zu dem schmalen Gang führte, in der sich ihre Angreifer befanden. Als sich das Tor schon bis zur Hälfte geöffnet hatte, wurde die Tür von innen aufgerissen, und der Bärtige stürmte als Erster heraus, gefolgt von seinem Komplizen. Die Männer sahen Robins Auto und hetzten ihm nach, wobei man ihnen ansah, dass sie starke Schmerzen hatten und noch nicht wieder richtig laufen konnten. Endlich hatte sich das Tor so weit geöffnet, dass der Mini hindurchpasste. Robins Verfolger waren bereits bis auf wenige Schritte an das Auto herangekommen. Robin trat aufs Gas, und der Mini flog die letzten Meter der Einfahrt hinauf und auf die Straße.
Die Journalistin ließ den Fuß auf dem Gaspedal und raste die lange Allee entlang, auf der sich das Appartementhaus befand. Sie spürte ihren heftigen Herzschlag, spürte das Zittern in den Muskeln und nahm nur einen schmalen Ausschnitt der Straße wahr. Robin kannte die Wirkung des Adrenalins, das durch ihre Adern gepumpt wurde. Sie hatte es oft genug im Boxring erlebt. Robin zwang sich, tief ein- und langsam wieder auszuatmen. Ihr Herzschlag beruhigte sich, das Zittern ließ nach. Endlich nahm sie den Fuß vom Gaspedal und bremste den Mini ab. Mitten auf der leeren Straße blieb sie stehen.
»Denk nach, Robin! Denk nach!«, sagte sie zu sich selbst. Die Polizei benachrichtigen. Gute Idee. Aber wie? Ihr Handy war in ihrem Rucksack. Und der lag vermutlich immer noch auf dem Boden des schmalen Ganges in der Tiefgarage. Die nächste Polizeistation war das Präsidium, etwa zehn Minuten entfernt. Robin startete den Motor und fuhr los. Etwa hundert Meter weiter kam sie an eine rote Ampel und hielt an. Im Rückspiegel sah Robin, wie sich die Scheinwerfer eines Fahrzeugs nährten. Einige Augenblicke später hielt ein schwarzer SUV auf der Linksabbiegerspur neben ihr. Robin blickte unwillkürlich nach links und sah in ein Gesicht, das sie bis an ihr Lebensende nicht mehr vergessen würde. Es war der hünenhafte Angreifer mit dem dunklen Bart. Seinem verblüfften Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte er mit dem Zusammentreffen anscheinend ebenso wenig gerechnet wie Robin.
Robin schlug den ersten Gang rein und fuhr los. Zum Glück war auf der Querstraße kaum Verkehr, denn die Ampel zeigte noch immer Rot. Im Rückspiegel sah sie, wie der schwarze SUV die Verfolgung aufnahm. Die Journalistin bog mit quietschenden Reifen in eine Seitenstraße, beschleunigte den Wagen aufs Äußerste und bog bei der nächsten Gelegenheit erneut ab. Obwohl ihr wendiger Flitzer in der Innenstadt einige Vorteile hatte, verstand der Fahrer des SUV sein Handwerk und ließ sich nicht so leicht abschütteln. Robin wurde schlagartig bewusst, dass sich Karsten vor einigen Tagen in derselben Situation befunden haben musste. Und jetzt war Karsten tot. Robin versuchte, den Gedanken loszuwerden. Konzentriert bleiben. Augen auf die Straße. Plötzlich kam ihr ein Gedanke. Einer ihrer Ex-Freunde hatte nur eine Straße weiter in einem Hinterhof gewohnt, der von zwei Straßen aus befahren werden konnte. Das Problem war, dass eine der beiden Einfahrten sehr eng bemessen war. Ihr Mini passte gerade so hindurch. Ein größeres Fahrzeug … Allmählich schloss der SUV zu ihr auf. Robin bog ab, die größere der beiden Einfahrten war nur noch hundert Meter entfernt. Sie blickte in ihren Rückspiegel und konnte die funkelnden Goldzähne des Bärtigen erkennen. Sein ekelhaftes Grinsen.
»Ja, das hättest du wohl gern«, fauchte Robin wütend und riss das Lenkrad herum. Der Mini flog durch die breite Einfahrt in den Hinterhof, dicht gefolgt von dem dunklen SUV . Robin steuerte auf die gegenüberliegende schmale Einfahrt zu und biss die Zähne zusammen. Sie hatte die Durchfahrt breiter in Erinnerung. Allerdings war sie auch noch nie mit über fünfzig Stundenkilometern hindurchgefahren, sondern höchstens in Schrittgeschwindigkeit. Der rechte Außenspiegel streifte die Mauer, dann auch der linke. Aber der rote Flitzer passte hindurch, schoss wieder auf die Straße und beinahe vor einen kreuzenden Nachtbus, dessen Fahrer wütend hupte. Robin fuhr weiter und konnte das hässliche Geräusch sich verbiegenden Metalls nicht mehr hören, das entstand, als der SUV in der Einfahrt stecken blieb.