D a kommt er.«
Seit fast einer Stunde hockten Robin und ich auf dem Jagdstand, hatten unsere Vorbereitungen getroffen und waren unseren Plan in allen Einzelheiten durchgegangen. Wieder und wieder. In den letzten fünfzehn Minuten hatten wir kaum noch miteinander gesprochen. Jeder hing seinen Gedanken nach. Langsam wurde es hell. ›Gutes Büchsenlicht‹, hatte mein alter Mentor diese Tageszeit immer genannt. Mit dem Licht kam der Nebel. Immer wieder blickte ich auf den aus groben, armdicken Stämmen zusammengezimmerten Boden des Hochsitzes, in dessen Mitte das Holz rostbraun verfärbt war. Ich schluckte bei dem Gedanken, dass Jochens Blut hierfür die Ursache gewesen war. Kaum drei Wochen war es jetzt her. Ich staunte darüber, was in der Zwischenzeit alles geschehen war. Karstens Unfall. Der Einbruch bei Robin. Bariatos Selbstmord – oder war es Mord? Der Überfall auf Robin. Und natürlich ihre und meine … ja, was war es eigentlich? Eine Beziehung? Ein Verhältnis? Ich wusste es selbst nicht. Aber ich stellte fest, dass mir der Gedanke an sie und mich, an uns, gefiel.
»Warum lächelst du?«, fragte Robin und sah mich von der Seite an.
»Nur ein Gedanke.«
»Anscheinend ein schöner Gedanke.«
Ich nickte. Dann warf ich einen Blick durch das Zielfernrohr des Gewehres, das vor mir auf dem Geländer des Hochsitzes lag.
»Da kommt er«, sagte ich leise.
»Na endlich. Ist er allein?«
Ich suchte den Waldrand mit dem Fernrohr gründlich ab, bevor ich antwortete.
»Sieht ganz so aus.«
Dann richtete ich mich auf und sah zu Robin. Sie hatte eine kleine Kamera auf einem noch kleineren Stativ an dem Geländer des Hochsitzes befestigt und mit einem Laptop verbunden. Dem zweiten Laptop ihres ermordeten Kollegen. Karsten hatte einen anonymen Blog auf mehreren Social-Media-Kanälen betrieben. Unter dem Namen »Deep Thought« veröffentlichte er Storys zu den Themen, die von den Mainstream Medien, den öffentlichen Sendern und den großen Zeitungen, nicht angenommen wurden. Karstens Blog hatte mehr als eine Million Follower – was wohl beachtlich war, der Art nach zu urteilen, wie Robin es erklärte. Ich fragte mich, welche Gesichter die Verantwortlichen der öffentlich-rechtlichen Sender und der traditionellen Zeitungen machen würden, wenn sie erfahren würden, dass der Reporter, der für sie regelmäßig Artikel geschrieben hatte, derselbe war, dessen anonyme Beiträge sie gern als Fake News abtaten.
»Bist du so weit?«, fragte ich Robin.
Sie nickte entschlossen.
»Kann losgehen. Waidmannsheil.«
Entweder konnte Jeremias Laak tatsächlich Karten lesen, oder er ahnte, wohin er gehen sollte. Vermutlich Letzteres. Jedenfalls steuerte er geradewegs auf unseren Hochsitz zu. Noch war er etwa dreihundert Schritte entfernt. Wieder nutzte ich das Zielfernrohr des Mauser-Gewehrs und prüfte sorgfältig die Umgebung. Außer dem Sohn des Ministerpräsidenten konnte ich niemanden entdecken. Noch zweihundert Schritte, bis Jeremias den Hochsitz erreichen würde. Ich atmete tief ein und aus. Der Tag, an dem Jochen hier seine letzten Augenblicke verbracht hatte, war ähnlich neblig gewesen. Wie hatte er sich gefühlt? War er wütend gewesen? Auf sich selbst, auf die WIP ? Oder hatte seine Verzweiflung ihn bereits fest entschlossen und emotionslos werden lassen? Noch hundertfünfzig Schritte. Ich sog die kühle, feuchte Luft durch die Nase und nahm den Geruch von Tanne und vermoderndem Laub war. Es war schön hier. Ruhig und friedlich. War es Jochen überhaupt noch bewusst gewesen? Vermutlich nicht. Wie hätte er sonst … Ich schüttelte den Gedanken ab und konzentrierte mich auf die bevorstehende Aufgabe. Ich sah wieder durch das Zielfernrohr und konnte Jeremias Laak jetzt gut erkennen. Er war noch hundert Schritte entfernt. Der junge Mann bemühte sich, einen coolen Eindruck zu machen, doch die Farbe war aus seinem leicht gebräunten Gesicht gewichen, und Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er hatte Angst. Ganz offensichtlich. Und völlig zu Recht. Noch achtzig Schritte. Laak kniff die Augen zusammen, um schärfer sehen zu können. Aber auf dem mit Tannen- und Laubzweigen getarnten Hochsitz konnte er uns unmöglich ausmachen. Noch fünfzig Schritte. Laak fasste während des Laufens in seinen Mantel, zog einen braunen Umschlag heraus, den er über den Kopf hielt, und winkte damit. Noch dreißig Schritte.
»Hallo?« Seine Stimme brach, und er räusperte sich.
»Hallo?«, versuchte er es noch einmal. Noch zwanzig Schritte.
»Das ist nah genug!«, rief ich laut. Laak blieb wie angewurzelt stehen.
»Vor dir im Gras liegt eine Schachtel. Mach sie auf!«
Jeremias blickte nach unten und suchte den Boden ab. Dann bückte er sich und hob einen faustgroßen Pappkarton auf. Er öffnete den Deckel und nahm ein kleines Mikrofon mit einem Clip heraus, das er in die Höhe hielt.
»An deinen Kragen damit!«, befahl ich.
Jeremias befestigte mit zitternden Händen etwas unbeholfen den Clip des Mikrofons an dem Kragen seiner Designerjacke.
Ich sah zu Robin hinüber, die die Verbindung zwischen Laptop und Mikrofon prüfte und mir dann zunickte.
»Ich habe hier das, was Sie wollten«, sagte Jeremias nach einem Augenblick mit heiserer Stimme und hielt mit zitternder Hand den Umschlag hoch.
»Was ich will? Das glaube ich nicht«, rief ich.
Laak wurde unsicher.
»Sie wollten doch fünftausend Euro. Das stand in dem Schreiben.«
»Hätte ich dich einfach so hierhergebeten, wärst du misstrauisch geworden. Geld ist für jemanden wie dich ein ausreichender Grund.«
»Ich verstehe nicht. Wollen Sie mehr?«
»Was ich will, kann man nicht mit Geld kaufen.«
Jeremias begann, stärker zu schwitzen.
»Und … und was wollen Sie?«
»Meinen toten Freund zurück«, antwortete ich.
»Ihren toten Freund?«
»Ja. Meinen Freund, der sich erschossen hat. Hier auf diesem Hochsitz. Nachdem er sein ganzes Geld in die WIP gesteckt und alles verloren hat.«
Laak blickte sich unsicher um. »Aber … was habe ich denn damit zu tun?«
»Interessant, dass du das fragst. Genau das wirst du mir jetzt erzählen. In allen Einzelheiten.«
Jeremias Laak machte einen Schritt rückwärts. Ich lud das Gewehr durch. Bei dem Geräusch des typischen zurückschnappenden Gewehrverschlusses blickte er erschrocken zu uns hinauf. Als er den Gewehrlauf erblickte, den ich weiter über das Geländer geschoben hatte, blieb er wie angewurzelt stehen.
»Der guten Ordnung halber mache ich dich darauf aufmerksam, dass ich ein Mauser-Gewehr mit Zielfernrohr in der Hand halte. Ich bin ein durchschnittlicher Schütze, und du musst fast dreihundert Meter laufen, um in Deckung zu gehen. Aber wenn du es versuchen willst …«, sagte ich mit kühler Stimme.
Jeremias zögerte. Offensichtlich ratterte es in seinem Kopf. Welche Möglichkeiten hatte er? Ein Geständnis ablegen? Dann würde er höchstwahrscheinlich doch noch ins Gefängnis wandern. Und es wäre das Aus für den Wahlkampf seines Vaters. Andererseits waren es dreihundert Meter bis zu der Baumgrenze in seinem Rücken. Falls ich meine Drohung wahr machen würde … Ja, falls ich sie wahrmachen würde! Dieser Gedanke kam Jeremias offenbar auch in den Sinn. Trotzig hob er das Kinn und blickte mit erstaunlich selbstbewusstem Blick in unsere Richtung. Er holte tief Luft, bevor er antwortete.