Natürliche Schauspielkunst zwischen Einfühlung und Distanz im 18. Jahrhundert
Rolle, Figur und Schauspieler
Das Verhältnis des dramatischen Textes zum Spiel des Schauspielers auf der Bühne war immer schon ein spannungsgeladenes. Auch wenn das Herz des Zuschauers an der literarischen Vorlage hängt, wird er im Theater meist nicht umhin können, den Schauspieler als Vermittler der im Text angelegten Rollenfigur in einer dramatischen Situation nicht nur zu akzeptieren, sondern aufgrund seiner Kunstfertigkeit schätzen zu lernen. Damit rückt der Schauspieler auf der Bühne in jedem Fall in eine zentrale Position, hat er doch die wichtige Aufgabe, ein höchst abstraktes Gebilde, nämlich die literarisch gebundene Figur, zu theatralem Leben zu erwecken. Theaterhistorisch gesehen ist das wohl in allen Inszenierungen der Fall; Unterschiede ergeben sich in der Frage nach dem Wie und dem Wozu. Glaubhaft sollte die Darstellung auf jeden Fall sein. Was solchermaßen empfunden wird, hängt jedoch vom jeweiligen kulturellen Kontext ab. So ist innerhalb des festgelegten Codes ein Schauspiel des japanischen No-Theaters für den Zuschauer genauso glaubwürdig wie eine naturalistische Aufführung des Stanislawskij-Theaters. Die Leistung des Schauspielers ist in diesem Sinne generell als Kunst zu begreifen und wird damit gegebenenfalls zum Objekt ästhetischer Reflexionen.
Transitorik des Mediums
Im Vergleich zum dramatischen Text eignet der Kunst des Schauspielers das Problem, dass das Theater im Gegensatz zur Literatur ein flüchtiges Medium ist. Die Theaterwissenschaft hat es somit schwerer, mit ihrem Objekt umzugehen als die Literaturwissenschaft oder die Kunstgeschichte (vgl. Herrmann 1962). Letztendlich ist eine Archivierung der Schauspielertätigkeit unmöglich, denn die sie ,fixierenden‘ Medien wie Kupferstiche, Rezensionen, die Fotografie, aber auch der Film und heute das Video sind keineswegs in der Lage, das Artefakt der Schauspielkunst selbst zu ersetzen.
Natürliche Schauspielkunst
Dies trifft um so mehr zu, wenn die Erwartung des Zuschauers an den Schauspieler besteht, nicht nur glaubwürdig zu sein, sondern zudem auch die reale Erfahrungswelt abzubilden bzw. ihr so nah als möglich zu kommen. Eine solche Einstellung war in der Geschichte des Theaters nicht immer ,normal‘. Das, was wir heute eine ,natürliche‘ Schauspielkunst nennen, wurde erst im 18. Jahrhundert ,erfunden‘, und es ist kein Zufall, dass es gerade in dieser Zeit der sich herausbildenden bürgerlichen Ästhetik zu einem Aufschwung an Schauspieltheorien kam.
Neues Menschenbild und äußere Zeichen
Dies hatte vor allem zwei Gründe: Erstens änderte sich grundlegend die Vorstellung von der ,Natur‘, aus bürgerlicher Sicht war diese nicht mehr Ausdruck einer höheren Vernunft und vornehmerer Sitten, sondern bekam vor dem Hintergrund der Höherbewertung der menschlichen Sinne, insbesondere des Auges, einen empirischen Zug. Für das bürgerliche Theater war eine zu große Differenz zwischen alltäglicher Erfahrung und der inszenierten Bühnenwelt immer weniger zu akzeptieren. Zweitens änderte sich das Menschenbild insofern, als es zunehmend wichtiger wurde zu erfahren, wer der Andere von seinem inneren Charakter und Gefühlsleben her wirklich ist. Gesucht wurde vermehrt nach äußerlichen Zeichen des menschlichen Innenlebens, die auch aufgrund der Aufweichung der ständischen Ordnung und der damit zunehmenden gesellschaftlichen Orientierungslosigkeit eine immer größere Aufmerksamkeit erfuhren.
Wirkung des bürgerlichen Theaters
Der Schauspieler wurde im bürgerlichen Medium Theater, das nun ein weitgehend unverfälschtes Abbild der Natur zu vermitteln hatte, zum Prüfstein jeder Glaubwürdigkeitsüberprüfung, die nicht nur die Grenzlinie zur unehrlich und künstlich anmutenden Erscheinung des Adels zu ziehen hatte, sondern darüber hinaus Ziel des Mitleidens mit einem bürgerlichen Helden wurde, der zu Identifikation einlud. Der Zuschauer war also zufrieden, wenn er das Spiel des Schauspielers als glaubwürdig und die evozierten Emotionen als ,echt‘ empfand.
Psychologische Einfügung in eine dramatische Situation
Aus der Sicht der Schauspieler war diese Erwartung des Zuschauers jedoch nicht so leicht zu befriedigen. Mit dem Übergang im 18. Jahrhundert zu eher literarisierten Formen des Theaters nahm die Forderung an die Schauspieler nach Beschäftigung mit dem dramatischen Text zu. Zuvor noch angewiesen auf improvisatorisches und korporales Geschick, war der Schauspieler nun angehalten, sich in zunehmender Probenzeit in das gegebene Stück einzuarbeiten, das man früher schon aufgrund des nicht vorhandenen Urheberrechts oft als Ganzes nie zu Gesicht bekam. Mit der umfassenden Kenntnis des bürgerlichen Trauerspiels oder des trivialeren, bis ins 19. Jahrhundert erfolgreichen Rührstücks war die psychologische Einbettung in eine dramatische Situation verbunden, der man als Schauspieler zu genügen hatte.
Codierte Affekte im barocken Schauspiel
Der Schauspieler musste also umlernen. In der Zeit des Klassizismus konnte er sich noch an Regeln halten, die man von der Autorität antiker Kunst herzuleiten glaubte und die zum Teil sehr genau angaben, wie der Schauspieler sich zu verhalten hatte. In enger Anlehnung an die Vorschriften der Rhetorik war im barocken Theater die Frage nach der ,Natürlichkeit‘ des Schauspielers an seiner Oberfläche zu beantworten. Die vom Zuschauer zu deutenden Zeichen waren, insbesondere was die Affekte betrifft, so stark codiert, dass sie als überindividuelle Affekte nicht auf das charakterliche Innenleben der Schauspieler verwiesen. Franciscus Langs Dissertatio de Actione Scenica aus dem Jahre 1727, die wie ein rhetorisches Lehrbuch geschrieben und für den Gebrauch im Jesuitentheater bestimmt war, zeigt beispielhaft, wie die Nachahmung der Natur durch den Schauspieler zu erreichen war: etwa indem man mit der Vorderseite des Körpers stets zum Publikum zu agieren hatte und sich mit allen Teilen des beherrschten Körpers bewusst so verhielt, dass für die Zuschauer jede Haltung relativ eindeutig mit einem bestimmten Affekt verbunden werden konnte, der dann auch die einzelne Rollenfigur auszeichnete. Letztlich gehorchte der barocke Schauspieler einem Einfluss von außen, wenn er den codierten Affekt als regelgeleitete Verbindung zwischen sich, seiner Figur und dem Publikum nutzte (Lang 1975).
Von der Rhetorik zum ,wirklichen‘ Leben
Dies ändert sich entscheidend auf der Bühne der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Die wahrnehmbare Gestalt des Menschen schien, was dessen Charakter und Gefühlsleben betraf, transparenter zu werden, ,dahinter‘ glaubte man, den ,natürlichen‘ als den ,wahren‘ Menschen zu finden. Die Aktion der Theaterfigur sollte nicht mehr den Regeln und der Deklamation der Rhetorik, sondern möglichst der eigenen bürgerlichen Lebenswelt entsprechen, wobei das ,natürliche‘ Verhalten des Menschen im Alltag meist nicht eins zu eins, sondern besser als Kondensat des ,wirklichen‘ Lebens in die Inszenierung übernommen werden sollte.
Künstlichkeit der Natürlichkeit
Die Glaubwürdigkeit des Schauspielers hing infolgedessen davon ab, inwieweit es ihm möglich war, jeden Abend konzentriert Natürlichkeit so zu spielen, dass die Künstlichkeit des Spiels möglichst unsichtbar blieb. Dem Schauspieler, dem dies wohl als Erster auf hohem Niveau gelang, war David Garrick, der 1741 in London mit seiner Darstellung des Richard III. in die Theatergeschichte einging. Garrick besaß nicht nur eine bis dahin unbekannte Verwandlungsfähigkeit, sondern wurde vor allem in ganz Europa aufgrund seines natürlichen Schauspielstils bekannt, der das Miterleben und -leiden zum Genuss machte. Fast ebenso bekannt wurde in Deutschland Konrad Ekhof, der nicht nur eine eigene Schauspielakademie gründete, sondern auf eine höchst illusionsfördernde Art und Weise individuell und detailgetreu einen Charakter zum Ausdruck bringen konnte, so dass für die Zuschauer kaum eine Differenz zwischen Darsteller und Rolle erkennbar war. Noch ausdrucksstärker und deutlich temperamentvoller agierte Friedrich Ludwig Schröder in seinen Shakespeare-Rollen, es gelang ihm etwa als Lear 1778 so ,wahrhaftig‘ aufzutreten, dass das Mitgefühl der Zuschauer aufs Äußerste erregt wurde und diese ihre Tränen nicht mehr zurückhalten konnten.
Schauspieltheorien
Was man bei Garrick, Ekhof und Schröder sehen konnte, sollte auch auf theoretischer Ebene geklärt werden, so dass die Schauspieltheorien des 18. Jahrhunderts den Grundstein für die bis heute anhaltende Diskussion über die richtige Methode legten, dem Zuschauer in der Schauspielkunst die vollkommenste Täuschung zu bieten.
Einfühlung des Schauspielers
Am Anfang der kontroversen Auseinandersetzung gab Rémond de Sainte-Albine in seinem 1747 erschienenen Werk Le Comédien die Richtung vor. Er verstand das Spiel des Schauspielers vor dem Hintergrund bürgerlich-emanzipatorischer Tendenzen als Kunst, die unabhängig von Stand und Nationalität die ,natürliche‘ Sprache des Menschen zum Ausdruck brachte. Der Ausgangspunkt des Ausdrucks sollte das natürliche Gefühl sein, das gegen jede Willkür der Verstellung das menschliche Innere nach außen trug. Um glaubwürdig agieren zu können, durfte der Schauspieler seine Gefühle also nicht künstlich nachahmen oder regelhaft evozieren, sondern musste sich in diese hinein versetzen. Im Mittelpunkt von Sainte-Albines These steht daher der Akt der Einfühlung des Schauspielers, von seiner Schrift lassen sich alle weiteren ähnlichen Methoden über Konstantin Stanislawskij bis zu Lee Strasbergs Actor Studio herleiten (Sainte-Albine/Lessing 1925).
Die auf den ersten Blick psychologisch wirksam erscheinende Methode der Einfühlung hat jedoch aus der Sicht der Theaterpraxis einen bedeutsamen Nachteil. Um auf der Bühne jeden Abend eine gleichbleibende Leistung zu erzielen, müsste der Schauspieler jedes Mal unabhängig von seiner physischen und psychischen Tagesform rückhaltlos und mit gleicher Intensität – sozusagen auf Knopfdruck – in sich Gefühle produzieren. Das hielt Francesco Riccoboni, der in seinem 1750 erschienenen Traktat L’Art du théâtre auf seine Erfahrungen als Schauspieler verwies, für unmöglich. Er war zwar wie Sainte-Albine der Meinung, dass es im Spiel des Schauspielers um die Erzeugung des Eindrucks höchster Natürlichkeit ging, hielt die rückhaltlose Einfühlung des Schauspielers dafür aber nicht geeignet. Schon die oft in schneller Abfolge zu spielenden Wendungen der Dramenhandlung wären für den Schauspieler emotional kaum zu bewältigen, so dass eine vorbehaltlose Nachahmung des wirklichen Lebens im Sinne einer Selbsttäuschung zu keinem befriedigenden ästhetischen Ergebnis führe. Riccoboni schlug hingegen vor, der Schauspieler solle sich nicht von Gefühlen überwältigen lassen, sondern diese nur vortäuschen. Er solle jederzeit eine innere Distanz zu seinem Spiel einhalten, so dass sich das Gefühlserleben dem Gefühlsausdruck nicht hindernd in den Weg stelle. Gotthold Ephraim Lessing trug diese Diskussion in den deutschsprachigen Raum, indem er Auszüge aus Riccobonis und Sainte-Albines Schriften übersetzte, wobei er Riccobonis distanziertem, bewusstem Ansatz den Vorzug gab (Riccoboni/Lessing 1925). Schon weil die Natur in actu selten vollkommen erschiene, wäre es angebracht, sie zu beobachten und ihre eindrucksvollsten Einzelheiten zu einem Gesamtausdruck zu fügen, der für den Zuschauer die höchstmögliche Annäherung an die menschliche Natur bedeute.
Paradox des Schauspielens
In allen seinen Facetten schrieb Denis Diderot in seinem Traktat Paradoxe sur le Comédien über die Auseinandersetzung, indem er in dialogischer Form die gegnerischen Positionen als Figuren auftreten lässt. Diderots Abhandlung, die Riccobonis These sogar noch radikalisierte, wurde auch deshalb so bekannt, weil sie das Paradoxon zur Sprache bringt, welches das schauspielerische Handeln nach sich zieht: Um in den Augen des Zuschauers den Ausdruck der Einfühlung zu erzielen, muss der Schauspieler dezidiert eine innere Distanz aufbauen (Diderot 1958). Damit kommt über die Hintertür der Professionalität aber wieder die Täuschung ins Spiel, die in der bürgerlichen Ästhetik eigentlich weitgehend reduziert werden sollte. Das Paradox des Schauspielens verweist jedoch zugleich auf die später von Plessner so bezeichnete anthropologische Distanz des Menschen zu sich selbst (Plessner 1953). Somit ist mit Diderot neben der Erörterung der Bühnenkunst auch die Theatralität des sozialen Handelns insgesamt angesprochen.
Ideen, Typik und Regeln des Schauspielens
Diderots Suche nach der angemessenen Darstellung der ,menschlichen Natur‘ führte ihn in distanzierter Haltung zu einer gewissen Typik, deren Tendenzen zur Abstraktion man noch um die Wende zum 19. Jahrhundert in Johann Jakob Engels Ideen zu einer Mimik findet (Engel 1804). Hier orientierte sich ein Schauspieltheoretiker an den wissenschaftlichen Versuchen der Zeit, Natur als Erscheinung in eine brauchbare Taxonomie zu überführen, für die Carl von Linnés einflussreiches System der Natur Pate stand. So sollen mittels der Kunst des Schauspielers die Seelenregungen der in der dramatischen Situation steckenden Figur ausgedrückt werden, wobei diese Seelenregungen als der motivierende Faktor erscheinen sollen, der über das Handeln und den Dialog der Personen die Handlung vorantreibt. Dabei ist vor allem wichtig, dass es nicht um die Einfühlung des Schauspielers geht, sondern um das Typische, das dem Wesen des jeweiligen inneren Erlebens im Gefühlsausdruck eigen ist. In diesem Zusammenhang wären auch Goethes ,Grammatik‘ der Schauspielkunst zu nennen. Seine „Regeln für Schauspieler “ verleugnen ihre Nähe zu Bewegungsfiguren des Tanzes nicht, sind jedoch eine elitäre Ausnahmeerscheinung (Goethe 1998; Wiens 2000).
Schauspielstile der Moderne zwischen Naturalismus und Avantgarde
Einfühlung im Rührstück
Auf den Bühnen des 19. Jahrhunderts dominierten in Wirklichkeit nicht nur populäre Dramen wie die August von Kotzebues und Charlotte Birch-Pfeiffers, sondern auch ein entsprechender Schauspielstil, der sich am größtmöglichen Erfolg orientierte. August Willhelm Iffland, ebenfalls Erfolgsdramatiker und einflussreicher Leiter des Berliner Königlichen Nationaltheaters um die Jahrhundertwende, plädierte bereits 1785 in seinen Fragmenten zur Menschendarstellung und 1807 in seinen Fragmenten über einige wesentliche Erfordernisse für den darstellenden Künstler auf der Bühne für eine Stil prägende ,Natürlichkeit‘ (Iffland 1990). Das zeitgenössische Rühr- und Konversationsstück forderte vom Schauspieler geradezu die strenge Orientierung an der bürgerlichen Lebenswelt, so dass in der Theaterpraxis trotz aller idealistischen Ästhetiken wohl eher eine gewisse Einfühlung in die Rolle dominierte.
Artistik und Groteske im Vorstadttheater
Darüber hinaus tendierte das massentaugliche Vorstadttheater des 19. Jahrhunderts trotz aller bürgerlichen Forderungen nach Literarisierung zu einer Ästhetik der Attraktionen, die das Spiel der Schauspieler oft ins Artistische und Groteske forcierte. Wenn Friedrich Theodor Vischer, einer der führenden idealistischen Ästhetiker der Zeit, einen der erfolgreichsten Theaterautoren und Schauspieler, nämlich Johann Nestroy, stark ermahnen musste, in seinem Spiel nicht als „lebender Phallus“ zu erscheinen, dann verweist dies auf die weithin unterschätzte prä-avantgardistische Ästhetik, die den natürlichen Schauspielstil unterlief (Vischer 1861, 63). Schon aus Zensurgründen wurde im Vorstadttheater improvisatorisch und korporal gegen den harmlosen Text agiert, so dass Heinrich Theodor Rötschers in seiner „Kunst der dramatischen Darstellung“ um die Jahrhundertmitte aufgestellte Forderung, der Schauspieler solle der Vollender dessen sein, was der dramatische Text vorgebe, ein Ideal formulierte, das keineswegs immer der herrschenden Theaterpraxis entsprach (Rötscher 1919).
Stanislawskij, Tschechow und Strasberg
Es waren daher schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die beiden dominierenden Entwicklungslinien festgelegt, die dann ins 20. Jahrhundert führten: zum einen über den Naturalismus und dessen größten Schauspieltheoretiker Stanislawskij die Kunst der weitest gehenden Einfühlung. Diese vertrat er übrigens nur in seinen früheren Schriften, wurde so zum Vorbild und Spiritus Rector fast aller weiter entwickelten Theorien der Einfühlung (Stanislawskij 1996). Die bekanntesten waren die Methoden seiner Schüler Michael Tschechow und Lee Strasberg, des Gründers des berühmten New Yorker Actor Studios, an dem u.a. Marlon Brando, Marylin Monroe und Al Pacino lernten (Cechov 1998; Strasberg 1988; Tabori 1993).
Biomechanik und Übermarionette
Die zweite Entwicklungslinie bildeten die distanzierenden Schauspielästhetiken der Avantgarde, die mit dem Rückgriff auf Attraktionen der populären Kultur, der Commedia dell’arte, der Revue und des Zirkus die Artistik und die Beherrschung des Körpers betonten. Hierzu wären zu zählen: Wsewolod Meyerholds an den Theorien der normierten Arbeitswelt, dem Taylorismus, und an Charlie Chaplins komischem Spiel orientierte Biomechanik (Meyerhold 1974); Edward Gordon Craigs Modell der Übermarionette, die Ideen aus Heinrich von Kleists Aufsatz „Über das Marionettentheater“ weiterdachte und die Grazie der ,unbewussten‘ Marionette als Ideal vorstellte (Craig 1969; Kleist 1984); performative Aktionen der ,Nicht-mehr-Dramatik‘ des Futurismus, des Bauhaustheaters, des Dadaismus und Surrealismus (Goldberg 1989). Alle diese avantgardistischen Schauspielästhetiken wären auf der Seite der Gegner eines bürgerlichen, die Abbildung der individuellen Psychologie vermeidenden Theaters zu finden.
Brecht’scher Gestus
Im 20. Jahrhundert schienen Schauspieltheorien, welche die Einfühlung in den Mittelpunkt stellen, mit dem Glauben an eine selbstbewusste Individualität einherzugehen. Auf der anderen Seite wuchs die bereits von Diderot als anthropologische Konstante empfohlene Distanz zu sich selbst zur reflektierten Entfremdung des in unergründlichen psychischen Einflüssen und anonymen gesellschaftlichen Strukturen verstrickten Individuums. So wurde in Bert Brechts Theaterästhetik, welche die bürgerliche Einfühlung und die Identifikation mit dem Bühnengeschehen zu minimieren suchte, die Distanz des Schauspielers zu seiner Rolle besonders betont. Im Gestus sollten wie in einer experimentellen Versuchsanordnung die sozialen Verhältnisse sichtbar gemacht und als veränderbare begriffen werden (Brecht 1963). Ob dies in der Theaterpraxis durchgehalten werden kann, mag bezweifelt werden, zumal selbst Schauspieler, die mit Brecht gearbeitet haben, immer wieder vom Theaterpraktiker Brecht berichten, der sich über den Theoretiker Brecht gerne hinwegsetzte (vgl. Lutz 2002).
Zwischen Acting und Non-Acting
Da heute die ästhetische Grenze zwischen dem theatralen ,Als ob‘ und der Theatralität des sozialen Handelns insbesondere in performativen Formen des Theaters in Frage gestellt wird, scheint die alte Kontroverse über Distanz und Einfühlung in eine Diskussion über das Schauspielen an sich überführt worden zu sein. Es geht also nicht mehr um die polarisierende Frage, ob nun auf der Bühne oder im Alltag eindeutig gespielt werde oder nicht, sondern um den ,grauen‘ Bereich zwischen den Polen: Michael Kirby hat dazu eine Fünferskala zwischen den Polen Acting und Non-Acting vorgeschlagen (Kirby 1987). Damit wird die Frage nach der Täuschung und nach dem Charakter des Anderen, die den ständigen Hintergrund der wichtigsten Schauspieltheorien zwischen Einfühlung und Distanz bildete, noch einmal besonders hervorgehoben. Der Verdacht, der Andere könnte sich verstellen, kann in einer Zeit, die per se Probleme mit ihrem Bezug zur Realität zu haben scheint, in das Vergnügen an den darstellenden Künsten umschlagen. Inwieweit dem Zuschauer dabei bewusst sein muss, dass Theater gespielt wird, ob es also unethisch ist, die Grenzen zwischen theatraler Darstellung und öffentlichem Auftreten etwa in der Politik zu verwischen, wird diskutiert (Lazarowicz 1997).