Aristoteles’ Katharsis-Begriff
Katharsis und Tragödie
Die Frage nach der Wirkung des Theaters ist fast so alt wie das Theater selbst. Sie setzte mit Aristoteles’ Poetik ein, die sich gegen Platons (Der Staat) Ablehnung des Theaters als eines ,schlechten Scheins‘ und einer ,trügerischen Wirklichkeit‘ richtete. Aristoteles unterwarf die Tragödie demgegenüber einem zweifachen wirkungsästhetischen Postulat, welches von da an den Befürwortern einer pädagogischen Funktion des Theaters wesentliche Argumente liefern sollte:
Die Tragödie ist die Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, […] die Jammer und Schauder hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt. (Aristoteles 1982, 19)
Abgesehen davon, dass Aristoteles den Begriff der Katharsis, der ethymologisch auf eine medizinisch-purgierende Dimension verweist (vgl. Hoessly 2001), ohne weitere Herleitung benutzt, erläutert er weder die genannten Affekte noch die Art und Weise der Läuterung genauer. Daraus ergibt sich zum einen das rezeptionsgeschichtliche Paradox, dass über die folgenden Jahrhunderte bis heute zwar immer wieder von Katharsis die Rede war, der Begriff aber aufgrund eines fehlenden definitorischen Fundaments zwangsläufig eine hohe semantische Unschärfe erhielt und inhaltlich stets von Neuem zu perspektivieren war (vgl. Girshausen 2005, 164). Die Tatsache, dass Katharsis das weite Feld wirkungsästhetischer Spekulationen von vorneherein in Bezug zur Tragödienpoetik setzte, macht indes plausibel, warum die theatrale Wirkungslehre von Beginn an relativ einseitig um die Pole des Erhabenen, Existentiellen und weltanschaulich Bedeutsamen kreiste und zumindest darin eine gewisse Konsistenz erlangte. Eine Theorie ,kleiner Wirkungen‘, wie sie etwa in Auseinandersetzung mit der Körperkomödie zu entwickeln gewesen wäre, konnte sich (schon aufgrund des Fehlens des Komödienteils der Aristotelischen Poetik und natürlich wegen der schwierigen Tradierbarkeit der hochperformativen Spielformen) nicht mit derselben Initialkraft ausprägen.
Definitions- und Übersetzungsprobleme
Darüber hinaus ist man, was den Aristotelischen Begriff der Katharsis angeht, mit Übersetzungsproblemen konfrontiert, die sich auf die Art der Reinigung (psychisch und/oder moralisch und/oder sozial) beziehen sowie auf die Frage, ob der Rezipient im psycho-sozialen Sinne durch die Erregung von Leidenschaften oder aber von diesen Leidenschaften gereinigt, also quasi von ihnen befreit werden solle. Eine dritte Möglichkeit liegt im Genitivus obiectivus: Die Affekte von Jammer und Schauder sollen selber gereinigt werden, also im Reinzustand hervortreten (vgl. Girshausen 2005, 164).
Transformationsaspekt
Der kleinste gemeinsame Nenner der unterschiedlichen Interpretationen besteht wohl darin, dass die Tragödie im Sinne einer Transformation wirkt und von einem psychosomatischen Zustand in eine anderen überführt, womit jedoch eine weitere Frage, nämlich die nach der Nachhaltigkeit oder aber dem temporären, auf den Zeitraum der Aufführung beschränkten Charakter solcher Verwandlung zur Disposition steht (vgl. Fischer-Lichte, 2005, 371ff.). Die nachfolgend skizzierten Positionen zur Wirkungsqualität von Theater entzündeten sich vor allem am konstitutiven Zusammen- und Widerspiel der sinnlich-evokativen Kraft der szenischen Realität mit dem, was an Inhalt, Bedeutung und Botschaft bereits im dramatischen Text angelegt war. Damit stand die mediale Grundbedingung des Theaters, die dieses von anderen Kunstarten, zumal der Literatur, unterscheidet, nämlich die leibliche Kopräsenz von Zuschauer und Bühne als zwischen-menschliche Grundlage der Kunstform Aufführung und somit das Theater als soziale Institution, im Zentrum der Argumente (vgl. Bennett 1990).
Affekte – Theater in der Kritik
Kritik an Sinnlichkeit und Fiktion
Die Kirchenväter lehnten das Theater aufgrund seiner angenommenen verderblichen Wirkung ab. So schreibt Augustinus, im Theater würden „[…] erdichtete Märlein meine Ohren […] reizen, dass sie immer lüsterner wurden und mir dieselbe Neugierde immer mehr und mehr aus den Augen leuchtete“ (Bekenntnisse, in: Simhandl 2001, 54). Ein solcher bereits in der Spätantike verzeichenbarer Argumentationsduktus zieht sich bei den Gegnern des Theaters über das Mittelalter und die Renaissance bis ins aufgeklärte 18. Jahrhundert durch. Auffällig ist bereits bei Augustinus, dass die Kritik sowohl den rein fiktionalen Status des Gebotenen als auch die von ihm ausgehende, sich im zeitlichen Verlauf der Aufführung potenzierende sinnliche Attraktivität betrifft (vgl. Brauneck 1986). Sowohl der Spielcharakter als auch die imaginative und emotive Faszinationskraft wurden gleichermaßen als zutiefst suspekt beäugt.
Sittlicher und sozialer Nutzen
Im Gegenzug bemühten sich die Befürworter des Theaters bis ins 18. Jahrhundert hinein, das Argument der anrüchigen Unverbindlichkeit des Spiels gerade durch die Indienstnahme der sinnlichen Anziehungskraft für pädagogisch-erzieherische Zwecke abzuschwächen. Katharsis wurde im Laufe der Exegese der Aristotelischen Poetik dabei verstärkt im Sinne von rein sittlicher Läuterung interpretiert bzw. missverstanden. Bei Aristoteles selbst war nie explizit die Rede davon, dass die Zuschauer der Bühnenhandlung eine sittliche Belehrung abgewinnen sollen. Erst mit Horaz’ Postulat „aut prodesse aut delectare “ in seiner Ars Poetica (Horaz 1967) wurde die Vorstellung, Kunst solle nicht nur unterhalten, sondern dabei (im sozialen und moralischen Sinne) nützlich sein, zu einem wesentlichen Bestandteil der Dramen- und Theatertheorie. Nichtsdestoweniger war es weiterhin vor allem die sinnliche Ausstrahlungskraft schauspielerischer Darbietung, die den Theatertheorien und ihren Wirkungsmodellen maßgebliche Ansatzpunkte lieferte.
Rhetorik
Seit der Wiederentdeckung der Antike in der Renaissance orientiert sich die Schauspieltheorie bis ins 18. Jahrhundert hinein an rhetorischen Modellen. Die in der Antike als Wirkungslehre konzipierte Rhetorik vertrat die Annahme, dass ein Redner, um bei seinem Publikum die gewünschten Affekte zu erregen, diese Emotionen selbst zeigen müsste und stellte zum anderen die Frage, inwieweit die vorgeführten Gefühlsäußerungen authentisch sein müssten, um überzeugend zu wirken. Die zentrale Rolle von Gefühlsdarstellung und einer von ihr evozierten Gefühlserregung im Rezipienten bildete auch noch den zentralen Ansatzpunkt für die Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts. In seiner berühmten Abhandlung Dissertatio de Actione Scenica (1727) fasste der Leiter des Münchner Jesuitentheaters Franciscus Lang die Spielpraxis des jesuitischen Schultheaters ab Mitte des 17. Jahrhunderts zusammen. Er betonte dabei nicht nur die wirkungsästhetische Qualität der Schauspielkunst, sondern definierte letztere in Abhängigkeit von der ersteren:
Ich spreche es ohne Scheu aus, daß der Schauspielkunst eine fast wundersame Kraft innewohnt, die menschlichen Gemüter zu bewegen, so daß ein Chorag [= Spielleiter; die Verf.] der sich in dieser Hinsicht hervortut und andere darin mit Umsicht zu unterrichten weiß, jene völlig nach seinem Willen lenken kann. […] Als Schauspielkunst bezeichne ich die schickliche Biegsamkeit des ganzen Körpers und der Stimme, die geeignet ist, Affekte zu erregen. (Lang 1975, 163)
Lang betrachtete das Theaterspiel als Medium der Sozialisation und als Einübung in das gesellschaftlich Gebotene. Seine Anweisungen zur Schicklichkeit in Mimik, Gestik und Vortrag setzten stets auf das Prinzip expressiver Mäßigung. Sie strebten darin Vorbildlichkeit für eine auch öffentlich geforderte Affektbeherrschung im Dienste sozialer Harmonie und Stabilität an.
Corneilles Admiratio
Dem entsprach eine Ästhetik des barocken Theaters, die das über die Szenenwirkung in Gang gesetzte kathartische Prinzip in erster Linie als Reinigung vom Übermaß von Affekten und sozial schädlichen, d.h. normsprengenden psychosozialen Dispositionen bestimmte. Für die französische Klassik setzte etwa Pierre Corneille auf die Auffassung, das Theater errege zwar wesentlich Affekte, und zwar vornehmlich solche des Schreckens. Es sei aber zugleich durch die Be- und Verwunderung, welche die dramatisch entworfene übermenschliche Größe der Bühnenhelden evoziere, sprich: durch den Abstand der fiktiven Welt von der sozialen Wirklichkeit, in der Lage, emotionale Beteiligung zugunsten einer admiratio erlöschen zu lassen. Diese von rationalen Anteilen durchdrungene Distanzwirkung sei in der Lage, den Betrachter längerfristig von allen Affektationen zu befreien (vgl. Girshausen 2005, 166).
Theater als Sitten-Anstalt
Bildung und Belehrung
Die Aufklärungsästhetik des 18. Jahrhunderts bestimmte den gesellschaftlichen Zweck der Schaubühne vollends durch das Prinzip sittlich-bildender Wirkung (vgl. Graf 1992). Infolge einer intensiven Auseinandersetzung mit der Aristotelischen Tragödientheorie wurde die Wirkungstheorie des Theaters dabei fast ausnahmslos aus dem literarischen Genre der Tragödie abgeleitet. Der Ausgangspunkt in Deutschland war mit Johann Christoph Gottscheds Bemühungen gegeben, eine normative Poetik nach dem Vorbild der französischen Klassik zu etablieren, die, in dezidierter Absetzung von volkstheatralen Spielformen und der Spielpraxis der Wanderbühnen, zu einem von allem Unmaß gereinigten dramatischen Repertoire führen sollte. Dieser Schwerpunkt auf seriöser, literarisch vorkonzipierter Inhaltlichkeit stand in engster Verbindung zur offensiv moralisch-pädagogischen Funktionalisierung des dramatischen Genres und seines szenischen Mediums:
Ein Trauerspiel […] ist ein lehrreiches moralisches Gedichte, darin eine wichtige Handlung vornehmer Personen auf der Schaubühne nachgeahmet und vorgestellet wird. Es ist eine allegorische Fabel, die eine Hauptlehre zur Absicht hat und die stärksten Leidenschaften ihrer Zuhörer […] zu dem Ende erreget, damit sie dieselben in ihre gehörigen Schranken bringen möge. (Gottsched 2000, 543)
Diese moralische Hygienefunktion unterstellte die Theaterpraxis dem literarisch-inhaltlichen Regulierungsprinzip und verweigerte performativen Ausstrahlungen des reinen Bühnenspiels explizit die Existenzberechtigung. Dies führte bei Gottsched nicht zuletzt zur programmatischen Verdammung der komischen Spieltradition und der durch Extemporieren und Improvisieren gekennzeichneten Figur des Harlekins.
Vermittlung von Empfindungen
Waren Gottscheds frühe Vorstöße noch stark von der emotionalen Unterkühltheit der französischen Klassik geprägt, so kam es demgegenüber, im Zuge einer philosophischen Verbindung des französischen Rationalismus mit einem Sensualismus angelsächsischer Prägung, innerhalb der Aufklärung zu einer deutlichen Aufwertung des Gefühlslebens. Hatte das Barocktheater Affekte noch als überindividuelle und somit in bestimmten Posen, Gesten und mimischen Expressionen kodifizierbare Größen gehandelt, so wurden sie im Zuge der Etablierung des sich entfaltenden bürgerlichen Subjektdiskurses zu individuellen, durchaus komplexen und auch ambivalenten Emotionen. Diese galt es fortan im Theater nicht nur spielerisch zu vermitteln, sondern zugleich adäquat im Zuschauer zu erregen, um ihn dermaßen an einer bürgerlichen Empfindungsgemeinschaft teilhaben zu lassen. Diese Tendenz war nicht nur eine Absage an die strenge Rationalität der französischen Klassik, die europaweit ausgestrahlt hatte, sondern eine eindeutige Volte gegenüber der höfischen Gesellschaft und ihrer rigiden, das absolutistische Gefüge abbildenden Verhaltensreglements. Bürgerliches Theater avancierte demgegenüber zum beanspruchten Ort einer umfassenden Erweiterung der Menschenkenntnis und der Selbstbestätigung des bürgerlichen Individuums. Explizit verband sich in den entsprechenden Programmatiken das Prinzip einer Wahrheit des Ausdrucks mit dem Bestreben moralischer Besserung gemäß bürgerlicher Wertvorstellungen.
Lessings Mitleid
Paradigmatisch für die wirkungsästhetischen Bestrebungen der Zeit stand dabei Lessings gegen Corneilles Aristoteles-Kommentar und das admiratio - Prinzip gerichtete Umdeutung der Tragödienwirkung. Im 74. bis 83. Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie gab Lessing die Prämisse aus, die Tragödie müsse neben der Furcht vorrangig Mitleid erregen, wobei Letzteres die Zentralkategorie einer moralisch-empathischen Rezeption darstellte. Denn, wie Lessing in einem berühmten Brief an Friedrich Nicolai schrieb: „Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmut der aufgelegteste“ (Lessing 2000, 554). Die tragische Komponente der Furcht erfuhr bei Lessing ihrerseits eine dem moralischen Grundgedanken entsprechende pointierte Variation. Sie wurde nicht mehr, wie bei Corneille, als Qualität sublim distanzierten Schreckens gefasst, sondern sozusagen auf humanes Maß gebracht, und zwar im Sinne eines auf den Betrachter selbst bezogenen Mitleids, welches immer dann aufkäme, wenn dieser die tragische Bühnenhandlung auf sein eigenes mögliches Schicksal projizierte.
Ansteckung
Die bürgerlichen Theaterreformer des 18. Jahrhunderts glaubten in Entsprechung zu den genannten Einzelüberlegungen an eine moralisierende Langzeitwirkung des Theaters. Dieser Effekt wurde stets in dessen besonderer medialer Grundbedingung gesucht. Die Kopräsenz von Akteuren und Zuschauern wurde zum strukturellen Äquivalent, gar zum Modell einer empfindsamen Öffentlichkeit stilisiert. Das Zustandekommen von Gemeinschaft konnte dementsprechend als Resultat der spezifisch sinnlich-emotiven Qualität von Theater gehandelt werden. Entsprechend fasste Johann Georg Sulzer in seiner 1792 erschienenen Allgemeinen Theorie der schönen Künste die theatertheoretischen Erwägungen der Epoche im Bilde der Ansteckung zusammen:
Es ist gewiß, daß der Mensch in keinerley Umständen lebhafterer Eindrüke [!] und Empfindungen fähig ist, als bei dem öffentlichen Schauspiel. […] Nichts in der Welt ist anstekender [!] und kräftiger wirkend, als die Empfindungen, die man an einer Menge von Menschen auf einmal wahrnimmt. (Sulzer 1792, Band 2, 254)
Dass diese empfindsame bzw. rührende Perspektive europaweit geteilt wurde, zeigt sich auch noch ex negativo bei ausgewiesenen Theaterskeptikern. So judizierte Rousseau gegen die „dauernden Gefühlsaufwallungen, denen man im Theater unterworfen ist“ (Rousseau 1758) und warnte vor einer entnervenden und schwächenden Wirkung auf das Gemüt der Zuschauer. Die theateraffinen Theoretiker des 18. Jahrhunderts – Lessing, Diderot, Georg Christoph Lichtenberg, Johann Jakob Engel usw. – kamen dagegen überein in der Auffassung, dass die auf dem Theater gezeigten Mienen und Gebärden einen direkten Weg in das Herz öffnen und „uns soweit fühlbar […] machen, dass uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß“ (Lessing 1970, Band 4, 163; vgl. Ruppert 1995). Das bedeutete freilich auch, dass die Gebärden bzw. die durch sie evozierten Gefühle trotz ihres ansteckenden Charakters reflexiver Überprüfung zugänglich sein mussten und damit keinesfalls synonym mit unkontrollierbaren, Verstand und Herz gleichsam überrennenden Impulsen waren.
Sympathie und Identifikation
Gegen Mitte des 18. Jahrhunderts mündete somit die sittlich-moralische Auslegung von Katharsis in ein umfassendes „sympathetisches Identifikationsmodell “ (Jauß 1977, 214). Der psychodynamische Rezeptionsprozess der Identifikation blieb von da an bis heute nicht nur das bestimmende Interaktionsmuster des realistisch-psychologischen Dramas und Theaters, sondern z.B. auch des Films (zu den ideologischen Aspekten vgl. Elin 1992). Dem Desiderat war fortan sowohl innerhalb des dramatischen Textes als auch in seiner Bühnenrealisierung Rechnung zu tragen. So deuten etwa die ausführlichen Szenenanweisungen zu Mimik und Gestik und Bewegung, welche ein generelles Kennzeichen des Aufklärungsdramas abgeben, darauf hin, wie stark Theater nicht nur im Sinne eines institutionalisierten Mediums für den Entwurf eines bürgerlichen Individuums, sondern als wirkmächtiges Instrument zu dessen Realisierung betrachtet wurde. Theater wurde dabei auf ein rezipierendes Subjekt bezogen, welches aufgrund seiner sprachlich vermittelten Vernunft und seiner im Körperausdruck manifestierten Empfindungsfähigkeit in der Lage war, seine Handlungen nach allgemeinmenschlichen Maßstäben und ethischen Kriterien zu bemessen.
Sinnliche Affizierung und reflexive Distanz
Nietzsches Physiologisierung der Ästhetik
Nachdem die Autonomieästhetik der deutschen Klassik vorübergehend die Frage nach der Wirkung zugunsten der Priorität der Werkgestalt zurückgedrängt hatte, kam es in Deutschland und in Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer bemerkenswerten Renaissance wirkungsästhetischer Theoriebildung, die ihrerseits in engstem Zusammenhang mit geistesgeschichtlichen Umwälzungen stand. Für den theaterwissenschaftlichen Kontext sind dabei besonders Nietzsches Philosophie des Leibes, seine physiologische Ästhetik und sein Plädoyer zur Überwindung der Individuation im dionysischen Rausch hervorzuheben (Die Geburt der Tragödie, 1872; Nietzsche 1988). In seiner musik- und tanzorientierten Umdeutung der antiken Tragödie entwarf Nietzsche ein Bild von Theater als rational unerschließbarer, weil dionysisch-ritueller Gemeinschaftserfahrung. Damit inaugurierte er für die nachfolgenden Programmatiken nicht nur die Vorstellung von einer Erneuerung der Lebenspraxis durch Theater, sondern in enger Verbindung damit den Vorrang der körperlichen Wirkung des Bühnengeschehens. Um eine durch die sinnliche Ausstrahlung des Theaters gesteigerte allgemeine Körperkultur bemühten sich in der Folge sowohl die Theaterreformer um 1900 als auch die Vertreter der europäischen Avantgarden. Deren Experimente gingen stets einher mit einer Aufwertung des menschlichen Körpers und seiner Bewegung und, dazu komplementär, mit der dezidierten Abwertung des rein literarischen Dramas und eines auf ihm basierten Texttheaters. Georg Fuchs etwa wandte sich dezidiert gegen die „Tendenzillustration“ einer von ihm sogenannten „Literaturtheatralik“ zugunsten eines öffentlichen „neuen, organisch-künstlerischen Theatertypes“, der sich durch den „weitesten Wirkungskreis und die mächtigste Suggestionskraft “ (Fuchs 2000, 58) auszeichnete.
Aktivierung des Zuschauers
Abgesehen von ihren durchaus divergierenden weltanschaulichen Ladungen und Reflexionsniveaus ging es den damaligen Theoretikern um eine Rekonzeptionalisierung von Theater als einer vorrangig sinnlichen Kunst, die eine Überwindung der Grenzen des Subjekts ermöglichen und transindividuelle Relationen stiften sollte. Auf dem Wege der Physiologisierung der Theaterästhetik sollte vor allem eine im Prozess der Zivilisation verschüttete Totalität des Menschen angesprochen und neuerlich freigelegt werden. In unmittelbarem Zusammenhang damit standen auch die Bestrebungen der historischen Avantgarden, den passiven Modus von Theaterrezeption zu durchbrechen und den Rezipienten zu ,aktivieren‘, d.h. ihn als einzelnen und die Zuschauer insgesamt zum konstitutiven Bestandteil des Theatererlebens zu machen (vgl. Fischer-Lichte 1997). Die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum, die Rampe, wurde entsprechend als strukturelle Metapher der passiven Grundkonstellation verworfen, es wurden sowohl bühnen- wie auch darstellungstechnisch Mittel und Wege einer direkteren und unmittelbareren Ansprache, Stimulation und Affizierung gesucht.
Artauds „Theater der Grausamkeit“
Der prominenteste Vertreter einer Wirkungsästhetik dieser Art war der französische Regisseur, Schauspieler und Theatertheoretiker Antonin Artaud. Ausgehend von einer radikalen Kritik am Rationalismus und am (innerhalb der diskursiven Sprache manifestierten) Logozentrismus der westlichen bürgerlichen Kultur forderte er ein am Kult der Naturvölker geschultes rituelles Theater, das in der Lage war, über sinnlich wirksame archaische Symboliken die prärationalen und präindividuellen Triebschichten im Menschen zu stimulieren. Für Artaud, der das herkömmliche textbasierte Theater als „Idiotentheater“ verwarf, da es aus seiner Sicht alles Theatereigene ausblendete, war die Bühne ein körperlicher und konkreter Ort, dessen Sprache sich, statt wie die diskursive Wortsprache an den Geist, zuvorderst an die Sinne zu richten hatte. Die in seinem „Theater der Grausamkeit“ anvisierte Offenlegung anthropologischer, existentieller und ontologischer Grundkonstellationen war als ebenso extremer wie erschütternder Eingriff in die Integrität des empfindenden und denkenden klassischen Subjekts gedacht. Trotz seines Irrationalismus blieb Artaud jedoch dem intellektuell-reflexiven Prinzip insoweit verhaftet, als es ihm neben der Freisetzung von inneren Triebpotenzialen immer um Selbst-Erkenntnis ging. Die von ihm erstrebte direkte Einwirkung des Theaters auf das Unbewusste hatte entsprechend das Ziel, im Zuschauer zu einer „Bewußtwerdung und auch zu einer Inbesitznahme gewisser dominierender Kräfte, […] die alles lenken und leiten“ (Artaud 1979, 85) zu führen. Das magisch-rituelle Theater Artauds erneuerte das bereits bei Aristoteles zu Buche schlagende transformative Prinzip der Reinigung im Sinne einer eindeutig psychohygienischen und therapeutischen Funktion von Theater. Über das Konzept intensiver Wirkung wurde also eine Art von ,erweiterter Aufklärung‘ angestrebt.
Brechts Distanz-Konzept
Die Dialektik des programmatischen Irrationalismus Artauds wurde konterkariert durch Bertolt Brecht, dessen Theatertheorie die zweite wesentliche Reflexionslinie zur Wirkung und Funktion von Theater im 20. Jahrhundert begründete. Brecht ging seinerseits von einer Kritik des bürgerlichen Theaters aus, stellte dabei aber vorrangig auf den Begriff der Einfühlung ab. Wo Artaud dem westlichen Theater also ein Defizit an sinnlich-emotiver Wirkung attestierte, bemängelte Brecht das Prinzip emotionaler Anteilnahme, welches er in einem von ihm sogenannten Aristotelischen Theater realisiert sah (vgl. Brecht 1957). Dieses identifizierte er mit der bürgerlichen Theaterästhetik seit dem 18. Jahrhundert. Im Zentrum der Angriffe Brechts stand die Auffassung, dass ein auf Illusionierung und Emotionalisierung basierendes Theater die kritische Distanznahme zum Gezeigten unmöglich mache. Theater würde damit seiner wesentlichen Funktion, nämlich gesellschaftskritische und politische Reflexion zu ermöglichen, beraubt. In seiner Theorie eines Epischen Theaters wandte Brecht sich gegen das Prinzip der Identifikation, und zwar einmal derjenigen der Zuschauer mit den Figuren sowie zum anderen derjenigen der Schauspieler mit den von ihnen dargestellten Figuren. Stattdessen entwickelt er in theoretischen Beiträgen wie in der praktischen Arbeit Verfahren der Distanzierung, die unter dem Begriff der „Verfremdung“ (V-Effekt) zusammengefasst wurden. Sie sollten es dem Schauspieler einmal ermöglichen, das von ihm Gebotene in Form eines zeigend-demonstrativen Gestus zu vermitteln, um so die Abhängigkeit der jeweiligen Aktion von gesellschaftlichen Gegebenheiten zu veranschaulichen. Dem Zuschauer einer solchen Demonstration würde damit die Möglichkeit gegeben, sich, anstatt von den Vorgängen hypnotisiert zu werden, kritisch mit den Inhalten der Szenen auseinanderzusetzen. Freilich stellte Brecht emotionale Faktoren wie das Vergnügen am Gezeigten nicht gänzlich in Abrede, interpretierte sie aber stets im Sinne eines Vergnügens an (politischer) Erkenntnis. Die Rezeption von Theaterkunst fasste er ihrerseits somit durchaus pointiert als Kunst der Betrachtung.
Bewegte sich die durch Brecht initiierte Linie trotz dessen Kritik am Aristotelischen Theater mit ihrer Emphase auf der Kognitionsleistung in gut aufklärerischer Tradition, so setzte sich die physiologische Richtung der Theaterwirkungsästhetik zunehmend davon ab. Die wesentliche Gemeinsamkeit aller von ihr ausgehenden Tendenzen im Theater des 20. Jahrhunderts war die Annahme, dass die affektive Stimulierung des Publikums auch jenseits des klassischen Modus der Einfühlung und der reziproken Übertragung von Emotionen zum Tragen gelangt. Schon bei Artaud funktionierte die emotionale Aktivierung des Rezipienten keineswegs mehr über ein Verstehen der gezeigten Figuren, ihrer Motive und ihrer Handlungen oder über den Nachvollzug der von einer Dramenfigur vorgegebenen inneren Gefühlslagen. Vielmehr wird auf das Prinzip einer sinnlichen Stimulierung oder auch einer visuell-akustischen und durchaus schockanten Konfrontation mit dem szenisch Gebotenen gesetzt, dessen Wirkungen nicht mehr ausschließlich an das humane Format gebunden sind, sondern auch von gegenständlichen Mitteln wie dem Raum, dem Licht oder der Akustik ausgehen können. Wesentlich ist, dass bei Artaud, stärker noch als bei Brecht, dem Prinzip unproblematischen Mitvollzugs, der ,Bequemlichkeit des Verstehens und Fühlens‘ sozusagen, eine dezidierte Absage erteilt wurde. Statt einer emotionalen und intellektuellen Integration des Gezeigten in nachvollziehbare Kontexte avanciert damit das Prinzip der Irritation und der Verstörung zu einem zentralen Wirkungsmerkmal der Theaterkunst des 20. Jahrhunderts bis heute.
Aktuelle wirkungstheoretische Perspektiven
Umwertungen
Diese Krisenhaftigkeit, die Theatererfahrung mit sich bringt, hat sich dabei im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr von negativen Implikationen gelöst. Fasste Artaud sein Konzept noch durchaus ambivalent unter dem Stichwort eines „Theaters der Grausamkeit“ und betrachteten die historischen Avantgarden ihr Theater durchweg als Kampfmittel gegen eine bürgerliche Ästhetik, so traten in der Folge die gewaltsamen, martialischen und katastrophischen Vorstellungen mehr und mehr zugunsten der Vorstellung eines transgressiven Erfahrungs- und Erlebnismehrwerts zurück. Dieser wurde und wird zentral an der Wechselwirkung der Zeichenhaftigkeit des Theaters mit der sinnlich-phänomenalen Eigenqualität der theatralen Mittel und ihrer irreduziblen Realität verortet.
Neue Begrifflichkeiten
Insgesamt wurden mit den Vorstößen avancierter Kunstströmungen ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts eine gegenseitige Entgrenzung von Kunst und Leben sowie der Aufbruch des ästhetischen Raums durch einen Einbezug realer Strukturen initiiert, welche nachfolgende Richtungen und Genres nochmals forcierten. Um die damit einhergehenden komplexen wirkungstheoretischen Herausforderungen theoretisch zu meistern, haben sich, zumal in Auseinandersetzung mit den Vorstößen der Performancekunst seit den 1960er und 1970er Jahren sowie des postdramatischen Theaters seit den 1990er Jahren, in der Theaterwissenschaft Begrifflichkeiten ausgeprägt, unter denen ästhetische Grenzüberschreitungen und die von ihnen ausgehenden Wirkungen einer systematischen Erfassbarkeit zugeführt werden sollen. Dabei wird jedoch die gesamte Tradition wirkungsästhetischer Überlegungen mit in Rechnung gestellt, im Hinblick auf das konstitutive Zusammenspiel von Bühne und Publikum auf ihre wesentlichen, d.h. überzeitlichen Aspekte befragt und dermaßen modifiziert weitergetragen.
Der schöpferische Zuschauer
Ins Zentrum der Debatten um die Wirksamkeit von Theater im 20. Jahrhundert geriet der Gedanke an eine aktive und schöpferische Funktion des Rezipienten. War dieser tatsächlich in der Ganzheit seiner geistig-sinnlichen Vermögen anzusprechen, so traute man seinen Reaktionen auf die von der Szene und der Theatersituation insgesamt ausgehenden Stimuli eine für die Wirkung der Aufführung als Ganzes konstitutive Qualität zu (vgl. Schoenmakers 1990). Wirkung konnte fürderhin nur im Sinne von Mit-Wirkung und Kopräsenz begriffen werden. Vonseiten der Theorie bemühte sich bereits der Prager Strukturalismus, in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Ausläufern der historischen Avantgarden, um eine Erklärung der Wirkungen des Theaters, und zwar in engstem Zusammenhang mit deren Vorstellung vom aktiven Zuschauer. So betrachtete etwa Jan Mukařovskỳ das Theater trotz der Sinnlichkeit seiner Mittel als „unstoffliches Zusammenspiel von Kräften […], die sich in Raum und Zeit verschieben und den Zuschauer in ihre veränderliche Spannung hineinziehen“ (Mukařovskỳ 2000, 89; vgl. Quinn 1995). Die Vorstellung solchen Zusammenspiels wurde von theaterwissenschaftlicher Seite zunächst nach idealtypischen Modellen modelliert, die die Bewusstheit des Zuschauers über den mimetisch-fiktionalen Spielcharakter der Aufführung in den Vordergrund stellten (vgl. Lazarowicz 1971, 1977 und 1997). Dabei wurden jedoch einmal sinnlich-emotive und atmosphärische Faktoren weitgehend außer Acht gelassen, zum anderen das Theater auf ein vorrangig intellektuell zu rezipierendes Spiel verengt, das die jeweiligen Grenzen des Subjekts und seiner Vermögen weitgehend unangetastet lässt. Demgegenüber standen bereits früh theatersoziologische Modelle, die Theaterrezeption als soziales Handeln bestimmten und erforschten (Rapp, 1973 und 1993).
Transformation und Liminalität
Der bei Mukarovsky implizit anklingende, jedoch weder empirisch noch experimentell weiter ausgeführte Aspekt der Transformation (von Zuschauer, Darsteller und Theatergeschehen) wurde dann unter Rekurs auf die ethnologische Ritualforschung und die Kulturanthropologie reflektiert (vgl. zu Perspektive und Problematik: Balme, 1994 und 1998; sowie zur Relation von Theater und Anthropologie: Barba 1982 und 1996; Gissenwehrer 1994; Košenina 1995; Pfaff 1996; Schechner 1978 und 1990). Einen wesentlichen Ausgangspunkt boten hierbei besonders das rites de passage -Konzept des belgischen Anthropologen Arnold van Gennep (1909; deutsch: Übergangsriten, 1986) und seine Weiterführung durch den Anthropologen Victor Turner (The Anthropology of Performance, 1987; vgl. Turner 1989). Theaterwissenschaftler wie Erika Fischer-Lichte verhandeln im Ausgang von diesen Vorgaben (jedoch in Absetzung vom engeren ethnologischen Ritualkonzept) die transformative Wirkung von Theateraufführungen schlechthin unter dem Begriff der Liminalität. Er zielt – für die Dauer der Aufführung – auf einen ambivalenten Grenzzustand des Rezipienten. Die Flüchtigkeit des auf der Szene Gebotenen, sein Changieren zwischen Zeichenhaftigkeit und sinnlicher Realität und schließlich die Abhängigkeit der ästhetischen Erfahrung von der dynamischen Kopräsenz von Spielgeschehen und Publikum, dies alles führt zu einem vorübergehenden Außerkraftsetzen der gültigen Normen unserer Selbst-, Welt- und Fremderkenntnis. Die Folge für den Zuschauer ist eine – durchaus positiv bestimmte – bewusstseinsmäßige Instabilität, die sich als „Erfahrung des Weder-Noch, der Unstrukturiertheit und der Emergenz “ (Warstat 2005, 186) beschreiben lässt. Die Wirkung der Aufführung entsteht somit im Sinne einer autopoietischen Struktur aus der Gesamtheit der im Einzelnen nicht vorhersehbaren Wechselbezüge innerhalb der Szene sowie zwischen Szene und Publikum (Fischer-Lichte 2005b, 100). Mit diesem Modell von Transformation im Sinne von Liminalität ist in der Tat ein Paradigma für die Erkundung von Wirkungsmöglichkeiten jeglicher Theaterform gesetzt, da nunmehr jenseits weltanschaulicher Programmatiken von der medialen Grundbedingung des Theaters schlechthin ausgegangen wird.
Liveness, Intensität, Präsenz
Im Zuge dieser Vorgaben haben sich in letzter Zeit semantisch verschränkte Begrifflichkeiten ausgebildet, welche jeweils verschiedene Facetten von Theatererleben und -wirkung prononcieren. So wird die Erfahrung intensiver Gegenwärtigkeit im Theater unter dem Stichworten der Liveness (Philip Auslander) medientheoretisch, unter denjenigen von Energie und Intensität quasi-physikalisch und unter dem Oberbegriff der Präsenz strukturell wie ontologisch verhandelt. Nachdem der im theoretischen Diskurs flottierende Präsenzbegriff anfänglich missverständlich auf das reine So-Sein theatraler Mittel und eine dem komplementäre selbstevidente anthropologische Grunderfahrung von Authentizität abzuzielen schien (vgl. Phelan, 1993 und 1998), werden in jüngster Zeit und in enger Verbindung mit dem Konstruktionsaspekt und der zeitlichen Transitorik von Theater im Gegenteil Aspekte des Entzugs, des Verlustes und der mangelnden Konsistenz betont, ganz im Sinne der destabilisierenden Qualität von Liminalität. Hans-Thies Lehmann etwa fasst Präsenz als semantisch und psychologisch nicht aufzuschlüsselnde und somit schockierende Erfahrungsqualität, welche die Alltagswahrnehmung radikal durchbricht (vgl. das Kapitel zur Analyse). Philip Auslander (Auslander 1999) betont darüber hinaus neben der sozialen und kulturellen vor allem die technische und mediale Konstruiertheit jeglicher Unmittelbarkeitserfahrung, mithin den Umstand, dass auch vermeintlich authentisches Erleben stets nur in Form von kurzfristigen Authentizitäts effekten zum Tragen gelangt. In derartigen Auffassungen richtet sich der Präsenzbegriff geradewegs gegen die Prinzipien von diskursiver Erklärbarkeit, psychologischer Plausibilität und pragmatischer oder ökonomischer Verfügbarkeit.
Atmosphäre
Das theatrale Wechselspiel von Authentizität und Relativität, von Konsistenz und Prozessualität sowie von Körperbezogenheit und Reflexivität stellt auch der Begriff der Atmosphäre in Rechnung, der theoretisch von Gernot Böhme (Atmosphäre, 1995) konzipiert wurde. Abgesehen davon, dass atmosphärische Ausstrahlung keineswegs nur auf zwischenmenschliche Begegnung beschränkt ist, sondern auch Gegenstands-, Raum- und Situationserfahrungen betrifft, zielt der Begriff wesentlich darauf, affektives Betroffensein und die reale körperliche und geistige Involviertheit in einen umfassenden Erlebnisakt gegenüber der Annahme einer neutralen und distanzierten Beobachterposition zu exponieren. Obwohl systematisch noch keineswegs vollends erschlossen, verspricht der Begriff damit gerade für die Analyse von Aufführungen fruchtbar zu werden, deren ästhetische Emergenzqualität sich stets als Wechselwirkung von objektiver Struktur und subjektivem Empfinden ergibt.
Performativität
Das Konzept der Performativität kann als Grundlage für alle angesprochenen Theoreme und Begrifflichkeiten gelten (vgl. Fischer-Lichte 1990). Es hat sich aus dem Grunde als außerordentlich fruchtbares Fundament für die Theaterwissenschaft erwiesen, insofern es die alte Frage nach der Wechselwirkung von sinnlich-materieller Affizierungsmacht und intellektueller Stimulanz nicht mehr einseitig beantwortet. Das Performative einer Aufführung ist dementsprechend keineswegs rein in der nackt hervortretenden Körperlichkeit der Akteure und in der schieren Anwesenheit der Theaterdinge zu verorten, sondern definiert sich als deren oszillierendes Wechselspiel mit ihrer Semiotizität, d.h. ihrer Zeichenhaftigkeit. Die szenischen Hervorbringungen sind, auch dort, wo sie sich auf einen vorab festgelegten dramatischen Text stützen, jeweils in actu gegeben bzw. performativ gesetzt. Sie fungieren also nie gänzlich als Träger einer vorab entworfenen Bedeutung, sondern brechen diese immer wieder durch ihr bloßes, sich selbst bedeutendes Erscheinen (vgl. Fischer-Lichte 2005c).
Schein und Sein
Grundsätzlich tragen neue Theorien zur Wirkung des Theaters also dem Umstand Rechnung, dass sich sinnlich-emotionaler Impakt und Distanzierungsleistung beständig durchdringen und dass somit jeder Versuch, die Relation einseitig zugunsten einer Position zu entscheiden, an den spezifischen medialen Bedingungen des Theaters vorbeigeht und seiner ideologischen Indienstnahme zuträgt. Darüber hinaus machen sie dezidiert an derjenigen Struktur fest, die von Beginn an die historischen Diskussionen und Wertungsdiskurse um Theater und seine Auswirkungen bestimmt hat, nämlich am besonderen Verhältnis des Menschen als sowohl leibliches wie Zeichen schaffendes und Zeichen deutendes Wesen zu einer Kunstform, die Schein und Sein, Sinn und Sinnlichkeit in ein dynamisches Wechselspiel versetzt.