Theater als Medium der bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert
Bürgerliches und populäres Theater
Das Europa des 18. Jahrhundert gilt als Zeitraum der Entstehung und Emanzipation des Bürgertums zur gesellschaftlich relevanten und zunehmend tonangebenden Schicht. Mit der Abgrenzung gegen das System der absolutistischen Feudalherrschaft und deren Repräsentationsmedien versuchten die vor allem in der Wirtschaft und der staatlichen Verwaltung erfolgreich agierenden Bürger über das Medium des Theaters ein eigenes Forum zu schaffen, das ihre Identität reflektierte. Diese neue vorstellungsweltliche wie institutionell sich ausprägende Tendenz, die sich erst im englischen, dann im französischen und zuletzt im deutschen Sprachraum verwirklichte, zeitigte vor allem zwei neue Entwicklungen, welche die Zeit bis um 1900 entscheidend bestimmten. Zum einen die neue Form des bürgerlichen Dramas, vor allem des weinerlichen oder empfindsamen Lustspiels und des bürgerlichen Trauerspiels, das zum Vorbild trivialerer Dramen wie des Rührstücks wurde. Zum anderen eine innovative, illusionsfördernde Theaterästhetik. Dies sollte noch nicht von der Ausstattung, jedoch vor allem durch einen natürlichen Schauspielstil erreicht werden (vgl. Maurer-Schmoock 1982; Fischer-Lichte 1983; Fischer-Lichte 1993; Heeg 2000).
Literarisierung des Theaters
Das gedruckt vorliegende Drama rückte in den Mittelpunkt. Die Theaterreform des 18. Jahrhunderts unterstützte die Literarisierung des Theaters. Die Dramatik sollte die Funktion einer Vermittlerin der geistigen Situation der Zeit und der wichtigsten Diskurse der Epoche erfüllen (vgl. Steiner 1963; Szondi 1972; Guthke 1972; Graf 1992; Mönch 1992). Damit blieb das wirkungsträchtige deutschsprachige Drama nicht mehr nur auf eingeschränkte Öffentlichkeiten wie z.B. das protestantische Schultheater beschränkt, das nicht wie das Jesuitentheater auf die lateinische Sprache zurückgriff und so schon früh einen literarisch gebundenen Spielplan vorstellte. Von der dramatischen Vorlage ausgehend, hatte sich die Bühneninszenierung nun an den Erfordernissen einer vergleichsweise psychologisch nachvollziehbaren und realistischen Schauspielkunst zu orientieren.
Bildungsanspruch des Theaters und Charakterinterpretation
Während im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert die seit René Descartes vorherrschende Subjekt-Objekt-Verbindung in die Problematik einer isolierten Subjektivität und einer isoliert materiellen Verfügung über die Gegenstandsbereiche zerfiel, provozierte der im Prozess der Emanzipation entstehende Individualismus ein mentales Regelwerk für den gesellschaftlichen Umgang. Im Mittelpunkt stand nun die ethisch-moralische Sittlichkeit, die Teil des Bildungsanspruches und -auftrages des Theaters wurde (Haider-Pregler 1980). Diese wurde auch zur Grundlage der strengeren Beobachtung des Anderen, der nun nicht mehr anhand seiner äußeren, künstlichen Zeichen wie Kleidung und kodifiziertem Verhalten (Sennett 1983), sondern über seine als natürlich gedeuteten Zeichen bewertet wurde (Fischer-Lichte 1983). Von diesen natürlichen Zeichen des Verhaltens wie auch der körperlichen Erscheinung sollte auf Charakter, emotionale Befindlichkeit, letztlich auf die persönliche und gesellschaftliche Berechenbarkeit hin geschlossen werden.
Natürlicher Schauspielstil und Kostümreform
Man darf sich diese Orientierung an natürlichen Zeichen nicht als im heutigen Sinne hochgradigen Realismus oder Naturalismus vorstellen. Sie war zuerst einmal eine Tendenz, die insbesondere einen natürlichen Schauspielstil einforderte. Der Schauspieler Konrad Ekhof mit seiner 1753 gegründeten Schauspieler-Akademie und um die Jahrhundertwende der Berliner Intendant August Wilhelm Iffland waren in diesem Sinne wegweisend. Für die Kostüme wurde besonders der Nachfolger Ifflands in Berlin, Karl Graf Brühl, wichtig, der nach 1814 eine einflussreiche Kostümreform einleitete, indem er seine Kostüme nicht an phantastischen Einfällen oder der Bühnentradition, sondern an ethnologischen und anthropologischen Diskursen der Zeit anlehnte (Bayerdörfer/Englhart 2003).
Bürgerliches Trauerspiel und Kleinfamilie
Um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstand mit dem bürgerlichen Trauerspiel eine neue dramatische Form, die sich vor allem dadurch auszeichnete, dass sie, was die Handlung und die Figuren betrifft, die Lebenswelt des bürgerlichen Publikums abbildete. Mit der vertrauten Lebenswelt war vor allem der familiär-häusliche Bereich gemeint. Die Kleinfamilie entzog sich dabei als Refugium des Bürgers zunehmend dem Herrschaftsbereich des Adels. Zugleich wurde jedoch der Hausvater als neuer ,Herrscher‘ eingesetzt.
Weinerliches Lustspiel und Gottsched
Eigentlich ist der Begriff des bürgerlichen Trauerspiels früher eingeführt worden als die dramatische Form, wie wir sie heute kennen. Schon in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts sprach man in Frankreich von der tragédie domestique et bourgeoise, doch damit meint man eigentlich die comédie larmoyante, also das weinerliche Lustspiel. Johann Christoph Gottsched empfahl dieses 1751 in seiner Critischen Dichtkunst als bürgerliches Trauerspiel; heute würden wir dieses als Tragikkomödie bezeichnen (Gottsched 1962 [1751]). Gottsched installierte das französische klassische Vorbild vor dem Hintergrund des stärker werdenden rationalistischen Denkens. Er forderte, dass die Handlung an den angeblichen Regeln der aristotelischen Poetik Maß nehmen und von einem moralischen Lehrsatz her entwickelt werden sollte. Gotthold Ephraim Lessing widersprach dem Professor Gottsched, der auch der Herausgeber einer „Moralischen Wochenschrift“ war, heftig. Er bevorzugte die regellosen Dramaturgien der Shakespeare’schen Dramen.
Englands Vorreiterrolle und Bürgertum
Entscheidend für das bürgerliche Trauerspiel war dann nicht Frankreich, sondern das sich empirischer ausrichtende England. An erster Stelle stand George Lillos bürgerliches Trauerspiel Merchant of London aus dem Jahr 1731. Zu nennen wären auch Edward Moores The Gamster von 1753 oder Richard Steele als paradigmatischer Vertreter des weinerlichen Lustspiels. Dass England eine Vorreiterrolle übernahm, war keineswegs ein Zufall, da sich dort das Bürgertum schon im 17. Jahrhundert mit der Declaration of Rights und der konstitutionellen Monarchie seinen Aufstieg früh erkämpfte. Neu war, dass in den Dramen bürgerliche Helden, von ihrem Beruf her Kaufleute, agierten, die sich über ihren persönlichen wirtschaftlichen Erfolg definierten und innerhalb der Gemeinschaft der Händler auf ihr Ansehen achteten.
Bürgerliche Charaktere
Dass etwas Neues für die bürgerliche Bühne gesucht wurde, hatte seinen Grund auch darin, dass den bürgerlichen Zuschauern die Haupt- und Staatsaktionen zunehmend fremd wurden; sie hatten Mühe, sich damit zu identifizieren, denn sie entsprachen immer weniger ihrer sich verändernden Lebenswelt. Die Ständeklausel, welche die dramatische Gattung definierte, fiel. Der Bürger, bis dahin nur Held der Komödie, wurde tragödienfähig. Das hatte er sich auch aufgrund seiner wirtschaftliche Tüchtigkeit, seines individuellen Erfolgs, seiner Intelligenz und seiner überlegenen Moral verdient.
In Deutschland war es dann Lessing, der die Ständeklausel verabschiedete. Damit die bürgerlichen Zuschauer sich mit dem Helden des Dramas identifizieren konnten, war es seiner Meinung nach notwendig, dass der Held vollkommen so denken und handeln müsste, wie es der Zuschauer in derselben Situation gedacht oder getan hätte. Das betraf den gesellschaftlichen, insbesondere den beruflichen Alltag, aber auch den innerfamiliären Bereich. In diesem suchte der bürgerliche Held seinen Halt: Die bürgerliche Familie fundierte seine eigene Welt, daher war sie zu schützen, ihr Zusammenhalt durfte nicht gefährdet sein.
Von Diderot bis Kotzebue
Aber nicht nur England und Deutschland, sondern auch Frankreich entwickelte bürgerliche Theaterformen. Diderot, der zusammen mit d’Alembert die Encyclopédie herausgab, schuf das drame sérieux, das sich, was die Gattung betrifft, zwischen Tragödie und Komödie einordnen lässt. Seine Dramen Le Fils naturel von 1757 und Le Père de famille von 1758 sind, laut einem eigenen Kommentar, als tragédie domestique so etwas wie eine häusliche Komödie. Die Figuren agierten von ihrem Stand her auf der bürgerlichen Ebene. Noch wichtiger war Diderot aber die Familie, in deren Raum sich die Figuren in ihrer Natürlichkeit bewegten. In Deutschland beobachten wir Ähnliches. Nur war dieser familiäre Raum bis ins 19. Jahrhundert vor allem in den trivialen Nachahmerstücken des bürgerlichen Trauerspiels, in den Stücken von Iffland, August von Kotzebue und Charlotte Birch-Pfeiffer oft von Angehörigen des niederen Adels besetzt (Glaser 1969). Dies weist darauf hin, dass es über die Auseinandersetzungen zwischen den Ständen hinaus im bürgerlichen Theater der Zeit um Bildung, Moral, Auftreten, gesellschaftliche Erscheinung und das Gefühl für den Anderen ging. Bürgerlichkeit im Sinne eines identitätsstiftenden Entwurfs des Selbst im Medium des Theaters zielte auf den Bezug zum Mitmenschen innerhalb der gesellschaftlichen Stellung, des Berufs wie des häuslichen und familiären Raums. Dementsprechend waren Handlung und Figurenkonstellation um den engen Bezug zwischen Liebenden, Ehepartnern sowie zwischen Kindern und Eltern zentriert.
Verallgemeinernd lässt sich feststellen, dass sich im bürgerlichen Trauerspiel und seinen trivialen Nachahmerstücken die Handlung vom öffentlichen, gesellschaftspolitischen Leben in die familiär-häusliche Welt verlagerte, während paradoxerweise die Diskussion darüber in der gerade entstehenden bürgerlichen Öffentlichkeit der Lesezirkel, der Salons, des zunehmenden Buchmarktes und des sich dem bürgerlichen Publikum öffnenden stehenden Theaters stattfand (Habermas 1990). Mit dem Wandel der dramatischen Form veränderte sich der Begriff des Tragischen. War es bis dahin so, dass der Held in der klassischen Tragödie ein grausames Schicksal erlitt, das sich weitgehend seinem Einfluss entzog, so wurde der bürgerliche Held und damit auch der Zuschauer nun zunehmend damit konfrontiert, dass ein ungünstiges Schicksal auf den eigenen Charakter und dessen eigenes Verhalten zurückzuführen war. Das bedeutete für den Bürger ganz konkret eine wachsende Zuschreibung an Eigenverantwortlichkeit.
Performanz der bürgerlichen Bühnenerscheinung
Damit ging eine sich verstärkende Idiosynkrasie nicht nur gegenüber eigenen inneren Zuständen, sondern auch für den mehr oder weniger verborgenen Charakter des Anderen einher. Man interessierte sich überwiegend für das Innerseelische und die Motive des Anderen. Daher wurden die körperliche Erscheinung und der Schauspielstil über die vom Schauspieler verkörperte Figur hinaus relevant. Vor dem Hintergrund der entstehenden Anthropologie, Psychologie und Physiognomik wollte man wissen, was sich hinter der Oberfläche der Erscheinung des Anderen verbarg bzw. auf welches Innenleben die korporalen und performativen Zeichen verwiesen. Damit erweiterte sich im 18. Jahrhundert, was das Theater und die bürgerliche Identität betraf, die dramatische Form des bürgerlichen Trauerspiels hier ganz entscheidend hin zur Inszenierung, also zur Performanz der Bühnenerscheinung (vgl. Ruppert 1995; Fischer-Lichte/Schönert 1999).
Mitleid und Furcht
Politisch wurde bis zum Ende des 19. Jahrhunderts im bürgerlichen Trauerspiel sichtbar, dass in Deutschland die fehlende Revolution noch lange nachwirkte. Während etwa in England das wirtschaftlich erfolgreiche Bürgertum der Kaufleute eine starke und durchaus selbstbewusste sowie zuweilen tonangebende Mittelschicht bildete, sublimierte sich das Revolutionäre in Deutschland erst einmal in der Imagination der Figuren, vor allem im imaginären Bezug zum Mitmenschen. Deutlich wird dies etwa in Lessings Miß Sarah Sampson aus dem Jahre 1755, das als das deutsche Trauerspiel schlechthin Schule machte. Lessing orientierte sich am Vorbild Diderot, für ihn der philosophischste Denker seit Aristoteles, dessen Hausvater er als außerordentliches Drama wertete. In Lessings Stück kann man, was die Handlung betrifft, sehr gut erkennen, dass es vornehmlich weniger um einen Konflikt zwischen den Ständen ging, sondern um die Empfindsamkeit für den Anderen in einem überschaubaren Personenkreis. Die Rührung als leitende Emotion rückte in den Vordergrund, sowohl im Verhältnis der Personen im Stück untereinander als auch als Wirkungsziel beim Zuschauer. Rührung sollte nicht nur nebenbei erreicht werden, sondern wurde als Mittel angesehen, den bürgerlichen Zuschauer als Charakter zu bessern bzw. zu vervollkommnen. In der Identifikation mit den Empfindungen und dem Verhalten auf der Bühne sollte die bürgerliche Tugend verbessert werden. Lessing verfolgte dabei dezidiert ein Programm der Überführung der Affekte in sozial wertvolle Mentalitäten, vor allem in diejenige des Mitleids, denn, so Lessing, der mitleidigste Mensch sei der beste Mensch (Lessing 1982).
Illusion und Vierte Wand
Damit das bürgerliche Trauerspiel und das Theater dies leisten konnten, hatten die bürgerlichen Dramatiker, aber auch die Schauspieler dafür Sorge zu tragen, dass auf der Bühne eine theatrale Welt zu sehen war, deren Ähnlichkeit mit der Lebenswelt der bürgerlichen Zuschauer das Mitempfinden mit dem Schicksal der bürgerlichen Helden möglich machte. Dabei war zur Unterstützung der Illusion durch eine in sich abgeschlossene theatrale Welt zu vermeiden, weiterhin wie üblich die Zuschauer direkt anzusprechen, die Vierte Wand als ästhetische Grenze zwischen Kunst- und Realraum verstärkte sich immens. Bereits Diderot suchte, das „Wahre auf der Bühne“ herzustellen. Unter dem Wahren verstand er jedoch keineswegs, die „Dinge so zu zeigen, wie sie in der Natur sind“, vielmehr bemühte er sich um die „Übereinstimmung der Handlungen, der Reden, der Gestalt, der Stimme, der Bewegung, der Gebärde mit einem vom Dichter erdachten ideellen Modell “ (Diderot 1967).
Gemischte Charaktere
Lessing orientierte sich an Diderot, er legte die Charaktere seiner Figuren als gemischte an, so dass sie einerseits an der Realität gemessen werden konnten, wenngleich sie andererseits schon noch einen idealen Zug aufwiesen, der das Besondere und Allzuniedrige zurückdrängte. Auf dem bürgerlichen Theater wurde ein bürgerliches Menschenbild sichtbar, das als missing link zwischen dramatischem Text und theatraler Inszenierung, insbesondere der Schauspielkunst, vermittelte.
Bürgerliche Moral und Adelskritik
In den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts verschärften sich dann ebenfalls in Deutschland auf der Bühne die Konflikte zwischen den Ständen. Lessing stand auch hier am Anfang der Entwicklung mit seiner berühmten Emilia Galotti von 1772, die er während seiner Arbeit als erster Dramaturg der Theatergeschichte für das erste, letztlich an den Unterhaltungsbedürfnissen des Publikums und dem Mangel an bürgerlichen Dramen gescheiterte deutsche Nationaltheater in Hamburg (1767–69) schrieb. In diesem Stück wurde für jedermann sichtbar Kritik an der Sittenlosigkeit und Willkür des Adels geübt. Die bürgerliche junge Heldin stand für die gefährdete Tugend des Bürgertums, ein Handlungsmuster, das noch in den späteren Erfolgsstücken Kotzebues und Birch-Pfeiffers immer wieder zu finden ist. Bis zu Friedrich Schillers Kabale und Liebe von 1784 wurde die Differenz zwischen dem Selbstbewusstsein des Bürgers und der immer noch durch den Adel entscheidend geprägten gesellschaftspolitischen Realität immer deutlicher.
Sturm und Drang
Fast eruptiv gestaltete sich der Konflikt im Sturm und Drang – als Titel der Epoche vom gleichnamigen Schauspiel Friedrich Maximilian Klingers übernommen – vor allem in Lenz’ Der Hofmeister von 1774 und Die Soldaten von 1776 sowie in Heinrich Leopold Wagners Die Kindermörderin (1776). Theatergeschichtlicher Höhepunkt dieser Zeit war ohne Zweifel die Uraufführung von Schillers Die Räuber 1782 in Mannheim, die in ihrer Wirkung beim Publikum einem veritablen Theaterskandal der heutigen Zeit in nichts nachstand. Generell trat im Theater des Sturm und Drang das Familiär-Häusliche und Empfindsam-Mitmenschliche zugunsten der Probleme, die sich aus der gesellschaftlichen Stellung der Hauptfiguren ergaben, in den Hintergrund, während der Beruf als Handwerker, Offizier, Kaufmann etc. wichtig wurde.
Nationale Identität und erstes Nationaltheater
Das Theater des Bürgers konstituierte sich jedoch nicht nur in der konfliktträchtigen Abgrenzung zum Feudalsystem, sondern verstand sich zunehmend auch als Medium, das der nationalen Identität der Deutschen Vorschub leisten sollte. Bevor diese Realität werden konnte, kursierte schon im 18. Jahrhundert eine Vielzahl an Programmschriften, die ein Nationaltheater der Deutschen forderten. Mit seinem bekannten Vortrag Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? aus dem Jahre 1784 diente Schiller das Theater dem Staat als Instrument an, das über die Beschränktheit der weltlichen Gesetze hinaus wirkte und in der Lage sein sollte, die sittliche Bildung des Bürgers zu vervollkommnen (Schiller 1993). Freilich hat sich auch der Adel von der bürgerlichen Bühne zeigen lassen müssen, was er sonst kaum zu Gesicht bekommen hätte: ein bürgerliches Menschenbild, dem die Zukunft gehörte. Das Theater diente so dazu, den Geist der Nation auf der Grundlage der bürgerlichen Vorstellungswelt zu prägen. Dass in realiter schon lange zuvor Lessing die Hamburger Entreprise, also das erste Nationaltheater der Deutschen, als „gutherzigen Einfall“ tadeln musste, weil die Deutschen in ihrer politischen Konstellation der Kleinstaaterei ja noch gar keine Nation seien, und auch später die Idee des Nationaltheaters erst einmal nicht vom Bürgertum, aber aus taktischen Gründen von den Höfen aufgegriffen und realisiert wurde, zeigt den Sonderweg der ,verspäteten deutschen Nation‘.
Aufstieg der Nationaltheater
Nachdem das bürgerliche Nationaltheater in Hamburg aus wirtschaftlichen Gründen gescheitert war, wenn man von Lessings dafür verfassten grundlegendem Werk der Hamburgische Dramaturgie absieht, entstanden unter der Ägide der adeligen Feudalherrscher in Wien, Mannheim, Berlin, München und Weimar zumindest dem Titel nach Nationaltheater. Das bedeutete jedoch keineswegs, dass sich die machtbewussten Herrscher einer nationalen Zentralgewalt unterwerfen wollten. Ganz im Gegenteil vereinnahmten sie die Idee eines Nationaltheaters, um ein solches als bürgerliches und damit unkontrollierbares Theater zu verhindern. Außerdem wollten sie Geld sparen, war doch die Bespielung der Hoftheater etwa durch italienische Opernensembles äußerst kostspielig. So erschien es den adeligen Herrschern lukrativ, das finanzkräftiger werdende Bürgertum in die Theater zu lassen, um Häuser und Produktionen über den Eintritt besser finanzieren zu können. Die gefährliche Idee eines bürgerlichen Nationaltheaters wurde dadurch entschärft, dass man die deutschen Schauspieler, denen man eine Anstellung gab, und das bürgerliche Publikum in das Theater einband und als potentielle Unruhefaktoren ruhig stellte.
Das populäre bürgerliche Theater des 19. Jahrhunderts
Berlin und Weimar, Iffland und Goethe
Was als kulturelles und politisches Zentrum einer Nation und als potentieller Ausgangspunkt einer Revolution ausfiel, fand seinen Ersatz auf der imaginären Ebene. Neben dem führenden Berliner Hof- und Nationaltheater, u.a. unter dem einflussreichen Intendanten Iffland, bildete sich in der Provinz, in Weimar, das geistige Zentrum Deutschlands. Nachdem sich eine intellektuelle, bürgerliche Führung national nicht herstellen ließ, konnte sich der imaginäre Mittelpunkt, heute bekannt als Weimarer Klassik, nur unter der Ägide eines aufgeklärten Fürstenhofes entwickeln, der – als Spiegel der Kleinstaaterei Deutschlands – eigentlich zu den kleineren gehörte. Nachdem man unter den deutschen Intellektuellen die Französische Revolution durchaus positiv wahrnahm, wandelte sich das Bild aufgrund der gewaltsamen Pariser Entwicklungen. Johann Wolfgang von Goethe folgend, transponierte man das Erhoffte auf die höhere, geistige Ebene der Sittlichkeit. Mit der Idealisierung der Wirklichkeit im Raum des ästhetischen Scheins, die im klassischen Theatertext der Iphigenie und des Torquato Tasso ihren dramatischen Ausdruck fand, ging man der aktuellen Realität aus dem Wege, ohne seine Hoffnungen aufzugeben.
Goethes Regeln und sein Spielplan
Was sich in der entsprechenden Konzeption einer dramatischen Form niederschlug, konnte auch für die am Weimarer Hoftheater entwickelte, dezidiert antinaturalistische Inszenierungspraxis gelten, für die Goethes Regeln für Schauspieler standen. Bei Goethe sollte, gegen den Trend der Zeit, das Charakteristische gegenüber dem Idealischen und Typischen zurücktreten. Dass es Goethe und Schiller in Weimar gelang, im Theater ein dem Niveau der klassischen Texte entsprechendes Publikum heranzuziehen, ist eine oft kolportierte Mär. Tatsächlich war, wie man dem Spielplan des Weimarer Theaters unter der Intendanz Goethes entnehmen kann, auch hier der überall gespielte und außerordentlich erfolgreiche Kotzebue der meistgespielte Autor. Goethe musste am Ende gehen, weil er sich weigerte, ein Stück zu spielen, in dem ein dressierter Hund die Hauptrolle spielte – dies weist auf die realen Theaterverhältnisse der Zeit.
Familiengemälde und Rührstücke
Diese realen Verhältnisse im deutschen Theater um 1800 und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts boten auf breiter Basis die populären Formen des bürgerlichen Trauerspiels, die bürgerlichen Familiengemälde und wirkungsvollen Rührstücke Ifflands, Karl von Holteis oder Kotzebues. Da neueste Forschungen ergeben, dass diese trivialen Stücke nicht generell harmlos und ästhetisch ungenügend sind, wäre das Adjektiv trivial in diesem Zusammenhang einer Revision zu unterziehen. Nicht immer zeigen diese sogenannten Trivialdramen Figuren, die der Obrigkeit und dem Staat untertänig ergeben sind, nicht in jedem Fall sind diese unpolitische, regional verankerte Biedermänner, deren Wirkungskreis über die bürgerliche Familienwelt nicht hinausgelangt.
Kotzebue und Goethe
So ist etwa Kotzebues radikales Stück Negersklaven mit seiner äußerst riskanten Parteinahme für die Abolition und der vehementen Anklage sowie sehr plastischen Schilderung von Sklavenhandel und Sklavenhaltung von einer Radikalität und anklagenden Schärfe, die in dieser Zeit allenfalls von Georg Büchner erreicht wurde. Kotzebue war zudem einer der am meisten zensierten Autoren seiner Zeit, seine in den Dramen gebotenen erotischen Grenzüberschreitungen verblüffen sogar heutige Leser. Keineswegs wurde, wenn man Kotzebue als Maßstab nimmt, im bürgerlichen Rührstück der Zeit nur brav eine angepasste bürgerliche Identität bestätigt. Der Erfolgsdramatiker ließ keine Gelegenheit verstreichen, in seinen Stücken jede aktuelle Geistesströmung zu diskutieren und oft der Lächerlichkeit preiszugeben. Seine Stücke sind, wenn man sie mit denen Goethes vergleicht, mit dem er eine Dauerfehde führte, die durchgehend frecheren; zudem kann man an ihnen sehr gut die konkreten Mentalitäten und Ideen der Zeit ablesen.
Birch-Pfeiffer als Erfolgsdramatikerin
Auch die einige Jahre später erfolgreichste Dramatikerin ihrer Zeit, Charlotte Birch-Pfeiffer thematisierte, wenn auch im Vergleich zu Kotzebue vorsichtiger, die ständigen Konflikte zwischen den Ständen und Milieus der Gesellschaft (Pargner 1999). So ist es also keineswegs angemessen und letztlich einem verfälschenden philologischen Blick zu verdanken, die sogenannte Trivialdramatik, welche die deutschen Bühnen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierte, geringzuschätzen und weniger erfolgreiche Dramatiker der damaligen Zeit wie Karl Gutzkow und Büchner als alleinige Vertreter des Theaters der ersten Hälfte den 19. Jahrhunderts zu sehen.
Nestroy und Carl
Bekannter, aber immer noch völlig zu unrecht in der harmlos-komischen Ecke angesiedelt, ist Johann Nestroy, der nicht nur einer der intelligentesten, sondern auch einer der wagemutigsten Dramatiker seiner Zeit war. Sein Intendant Carl, der das bedeutendste Massenmedium seiner Zeit, das Theater an der Wien, leitete, war ein kongenialer Regisseur, dessen Inszenierungen in ihrer Experimentierlust und ihrem Erfindungsreichtum auf das Regietheater des 20. Jahrhunderts vorauswiesen.
Undramatisches Theater des 19. Jahrhunderts
Aus theaterwissenschaftlicher Sicht, und damit aus der genauen Analyse der Spielpläne der wichtigsten Theater der Zeit, ergibt sich, dass man sich immer noch meist ein falsches Bild über die tatsächliche Bedeutung des gehobenen Theaters macht. Denn neben den an Dramen orientierten Inszenierungen sah man im Theater, wie in einem Varieté oder einem Zirkus, eine Vielzahl an zugkräftigen Attraktionen. Außer den populären Dramen und Rührstücken gab es Tierdarsteller, Tänzer, Akrobaten und Ähnliches zu bestaunen. Zudem wird eine Spartentrennung in Sprech-, Musik- und Tanztheater, wie wir sie heute kennen, dem damaligen Theater nicht gerecht. So waren der Gesang wie etwa das Couplet und der Tanz, z.B. ein artistischer Affendarsteller bei Nestroy, nahtlos in das Drama integriert (Englhart 2005; Linhardt 2006). Das 19. Jahrhundert war also keineswegs, wie in vielen theaterhistorischen Darstellungen zu lesen, ein dramatisches, was die Theater betrifft. Ganz im Gegenteil waren die korporalen und improvisatorischen Elemente oft so stark, dass es der Zensur zu ihrem Leidwesen nicht gelang, die Bühne in ihrem Sinne politisch in den Griff zu bekommen.
Dramaturg als Anwalt der Literatur
Natürlich stieg etwa mit Karl Leberecht Immermann und seiner Düsseldorfer Musterbühne ab 1832 der Dramaturg als Anwalt der Literatur im Theater im Ansehen, und selbstverständlich forderte man nicht selten eine Hebung des Niveaus der Bühne im Sinne einer grundlegenden Theaterreform. Dies gelang auch hie und da. Man bemühte sich auf einigen Bühnen, so u.a. Heinrich Laube und Franz von Dingelstedt am Wiener Burgtheater, um eine sogenannte werkgerechte Inszenierung, was ganz besonders das Verhältnis von dramatischem und theatralem Text betraf. Manchmal, aber nicht in jedem Fall, waren die Hof- und Nationaltheater eher ein Bildungstheater, als die meist konsequent am Erfolg orientierten Vorstadttheater. Dass aber 1848 aus dem Volkstheater das politisch prägnanteste Theater entwickelt wurde – man denke nur an Nestroys Freiheit in Krähwinkel –, zeigt, dass es gegenüber dem Bildungstheater und der Theaterreform keineswegs zurücksteht (Klotz 1980). Zudem tradierten sich im populären Theater der Zeit gerade die Attraktionselemente, die dann später in das theaterästhetische Programm der historischen Avantgarde überführt wurden.
Der Naturalismus als bürgerliche Ästhetik
Bürgerlicher Bildungskanon und Klassiker
Nach der Niederschlagung der Revolution von 1848 musste das Bürgertum auf politische Macht verzichten (vgl. Bayerdörfer 1992). Insbesondere Kunst und Wissenschaft hatten der nationalen Identität zuzuarbeiten. Mit dem Siegeszug des Darwinismus wurde der Naturalismus vorbereitet. Es entstand die Pflege der Klassiker, um den Werten der Nation einen dramatischen Ausdruck zu geben, sie bildeten nun den bürgerlichen Bildungskanon. Die an den Hoftheatern dominierenden Kavalierintendanzen gingen immer mehr in die Leitung von bürgerlichen Theaterfachleuten über. Zugleich dominierte weiter die Trivialdramatik, die meist auf der Grundlage einer realistischen Ästhetik in einer geschlossenen Zimmerdekoration aufgeführt wurde.
Historismus und Naturalismus
Dem Erstarken des Historismus im 19. Jahrhundert folgte auch das avancierte Theater. Nachdem im Land Sachsen-Meiningen die Hofoper aufgelöst wurde, bildete sich 1867 das Schauspielensemble des Herzogs Georg II., welches mit seinen Reformen so außerordentlich stilprägend wurde, dass sich noch Stanislawskij von einem Gastspiel dieser Truppe in Moskau 1890 inspirieren ließ. Geprägt durch den Ausstattungshistorismus, der schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Trend zum Charakteristischen, wie etwa in der Kostümreform Brühls für das Hoftheater Berlins nach 1814, sichtbar wurde und in der Oper als Zug zur Couleur locale zur Anwendung kam, wurde die historische Genauigkeit der Ausstattung zum obersten Gebot der Meininger. Konkret muss man sich vor Augen halten, dass es zu dieser Zeit eigentlich üblich war, auf der Bühne für die Aufführung eines dramatischen Textes aus dem gleichen Genre eine immer wieder benutzte Einheitsdekoration zu zeigen. Diese entwickelte sich aus der Barocktradition, man benutzte Typendekorationen, die aus gemalten Kulissen und Prospekten aufgebaut waren. Mit ihren akribisch erarbeiteten Bühnenbildern beseitigten die Meininger dieses Ausstattungsunwesen. Zudem setzten sie gegen die Mode des reisenden Starschauspielers, des Virtuosen, das unbedingte Ensembleprinzip durch. Dies wirkte sich insbesondere in den außerordentlich harmonisch choreographierten Massenszenen positiv aus (Hoffmeier 1988). Für das bürgerliche Selbstverständnis bedeuteten diese Bemühungen um eine wissenschaftlich und historisch genaue Darstellung eine Rücknahme imaginierter Beliebigkeit. Hierbei setzte sich über die Distanz des Publikums zum nun immer fremder werdenden, durch die vierte Wand sich abschließenden Bühnenraum eine zunehmende Relativierung des Gezeigten im Bezug zur eigenen bürgerlichen Lebenswelt durch. Insbesondere auf ihren Gastspielreisen, unter anderem 1874–1887 nach Berlin, 1880 nach London und 1885 sowie 1890 nach Moskau, verbreiteten die Meininger einen Inszenierungsstil, den die städtischen Bühnen des Naturalismus zum Maßstab nahmen. Als freie Bühnen wandten sie sich dezidiert gegen eine zu große Abhängigkeit von ökonomischen Kriterien und die ständigen Abhängigkeiten von der Zensur. Ihr Hauptziel war, der sozialen, radikalen Dramatik des Naturalismus, die zudem eine völlig neue Ästhetik der Bühne zeitigte, die Aufführung zu ermöglichen.
Freie Bühnen und die Zensur
Die Freien Bühnen, unter ihnen die älteste, das Pariser Théâtre libre des André Antoine, wurden als eigene Bühnen für das soziale Drama des Naturalismus gegründet. Die erste dieser Bühnen war in Deutschland ab 1889 die Berliner Freie Bühne; von dort trat der Naturalismus seinen Siegeszug in den deutschen Theatern an. Nicht die Spekulation, sondern die Beobachtung und das Experiment sollten im Vordergrund stehen. In Paris setzte Émile Antoine Zolas theoretische Überlegungen um, in Berlin folgte ihm Otto Brahm, der dem naturalistischen Drama, vor allem dem Gerhart Hauptmanns, in Deutschland zum Durchbruch verhalf. Um dessen Vor Sonnenaufgang überhaupt aufführen zu können, musste, um der Zensur zu entgehen, ein Verein gegründet werden, der von bürgerlichen Abonnementen getragen und finanziert wurde. Schon Hauptmanns erstes Stück war ein unglaublicher Skandal.
Naturalismus und soziale Frage
Mit dem Naturalismus kam auch die soziale Frage auf die Bühne, soweit die Naturalisten ihre Berührungspunkte mit dem Sozialismus entdeckten. Einige von ihnen konvertierten dann aber wieder zu Friedrich Nietzsches Feier des Individuums. Seine Philosophie wurde zur Mode um die Jahrhundertwende und zur Grundlage der Theateravantgarde, später dann auch der neoavantgardistischen Postdramatik seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Der Naturalismus, der auf der Bühne mit dem Symbolismus schnell obsolet erschien, wurde zur medialen Grundlage der Film- und Fernsehästhetik: Vor allem die Fernsehserie übernahm Wirkungsmuster des bürgerlichen Rührstücks und der naturalistischen Schauspielästhetik des 19. Jahrhunderts.