Die Politisierung des Theaters nach der Jahrhundertwende
Naturalistisches Bild der sozialen Wirklichkeit
Mit der sozialen Frage ging die Suche nach einer Ästhetik des Theaters einher, das sich dieser gesellschaftspolitischen Problematik nicht verschloss. Kaum mehr zu halten schien so das vorherrschende Leitbild einer autonomen Kunst als l’art pour l’art (Bürger 1974). Im Theaternaturalismus des späten 19. Jahrhunderts, der zu Beginn nur im geschlossenen Rahmen von Vereinen inszeniert werden konnte, ohne Gefahr zu laufen, von der Zensur entschärft zu werden, wurde die Bühne daher zu einem exterritorialen Raum erklärt, der die soziale Wirklichkeit zur Identifikation und zur Kritik anbot. Von Gerhart Hauptmann über Henrik Ibsen, Anton Tschechow bis zu Konstantin Stanislawskijs berühmter Inszenierung von Maxim Gorkis Nachtasyl wurde die soziale Wirklichkeit wie ein gerahmtes Foto vor dem Publikum ausgestellt, in der Hoffnung, dass sich gesellschaftspolitische Entscheidungen vom naturalistischen Bild beeinflussen ließen. Zum Problem wurde diese theatrale Ästhetik in dem Moment, als man nach der Jahrhundertwende nicht mehr so recht an die eindeutigen naturalistischen Bilder der Bühne glaubte. Zudem schien die Grenze zwischen der gesellschaftspolitischen Wirklichkeit auf der einen und dem ästhetischen Raum auf der anderen Seite, die ästhetische Grenze zwischen Leben und Kunst, die im Naturalismus als vierte Wand des Bühnenraums fungierte, selbst zum Problem zu werden. Hatte man doch den zunehmenden Verdacht, dass die Rezeption naturalistischer Bilder des sozialen Elends mit der revolutionären Tat wenig gemein hatten.
Politisierung der Ästhetik, Ästhetisierung der Politik
Um diese ästhetische Grenze zwischen Kunst und Leben zu überwinden, fand so etwas wie eine Politisierung der Ästhetik neben einer Ästhetisierung der Politik statt. Erster Höhepunkt und Labor dieser Entwicklung war das Theater der russischen Revolution, auch verstanden als die Zeit der Experimente der russischen Avantgarde kurz nach der Oktoberrevolution. Obwohl diesen Experimenten spätestens mit Stalins Verurteilung als Formalismus und der Aufforderung, zum sozialistischen Realismus zurückzukehren, ein für einige Beteiligte blutiges Ende gesetzt wurde, hatten sie einen außerordentlichen Einfluss auf die Theaterästhetik und die Vorstellung von einem politischen Theater im 20. Jahrhundert, der bis heute anhält (Fiebach 1975).
Revolutionäre Theaterästhetik
Nach der russischen Oktoberrevolution 1917 ging es den meist sehr jungen Revolutionären darum, ein eigenes Theater zu schaffen, das als genuin proletarisches die bürgerliche Ästhetik völlig verdrängen sollte. Zu diesem Zwecke wurde die Organisation der Theaterabteilung des Proletkults geschaffen, die neue Theaterformen suchte und der breiten Bevölkerung vorstellte. Man verließ die traditionellen Theaterräume und agitierte in den Städten, Dörfern und Fabriken.
Erweiterung des Theaterbegriffs
In diesem Kontext erweiterten sich die Vorstellung und der Begriff von Theater enorm. Man spielte in Massenschauspielen revolutionäre geschichtliche Ereignisse nach, man erfand die „Lebende Zeitung“ oder das „Gerichtsspiel “. Inhaltlich und formal ging es für die Theatermacher wie auch die Zuschauer um ein revolutionäres Bewusstsein zur Unterstützung einer neuen sozialistischen Gesellschaft. In der Praxis arbeitete man daran, die Kunst in das alltägliche Arbeitsleben zu integrieren. Die Kunst sollte wie ein Arbeitsprogramm dazu dienen, nicht nur zu unterhalten, sondern das ganze gesellschaftliche Leben im revolutionären Sinne umzugestalten. Die einst scharfe Trennung zwischen Berufsschauspieler und Arbeiter sollte genauso wie die Grenze zwischen Theaterspielzeit und Arbeitszeit aufgehoben werden. Das Proletariat und die ökonomisch abhängigen Schauspieler sollten sich so aus ihrer entfremdeten Lage befreien. Das Proletariat konnte aus sich selbst heraus kulturell schöpferisch tätig werden. Selbstverständlich war die Richtung vorgegeben: Man hatte gemeinsam in die Richtung einer kommunistischen Utopie voranzuschreiten (Rudnitsky 2000).
Proletkult, Theaterlaien und Laborbühnen
Letztlich gingen die wichtigsten Innovationen für die Theaterästhetik dann aber doch nicht von den über Land ziehenden Gruppen mit Theaterlaien aus, sondern von den unausgesprochen elitären Laborbühnen in den Großstädten. Am „Ersten Moskauer Arbeitertheater des Proletkults“ entwickelte unter anderen Sergej Eisenstein seine Montage der Attraktionen als dialektische Methode zur Beeinflussung der Zuschauer. Nachdem er versuchte, diese im Theater zu verwirklichen, fand er nach einigen mehr oder weniger gescheiterten Versuchen zum Film als dem geeigneteren Medium. Ziel der neuen theatralen Formen sollte nicht, wie in der konservativ-reaktionären theatralen Ästhetik des Naturalismus, die Nachahmung von Wirklichkeit sein. Denn die Wirklichkeit sollte in der Produktion erst geschaffen werden. Die Bühne sollte so zu einem Labor werden, in dem man wie in der wissenschaftlichen und in der industriellen Produktion die neue Gesellschaft, das zugehörige Menschenbild und das soziale Leben herstellte. Mithilfe des Theaters und der Neuen Medien sollte der Wandel zu einer neuen Gesellschaftsordnung eingeübt und verwirklicht werden.
Eisensteins Montage der Attraktionen
Bei Eisenstein hatten die Schauspieler nun Arbeiter der Szene zu sein, das theatrale Als-ob hatte zugunsten einer direkten Umsetzung der Affekte in physische Handlungen zu verschwinden, was wiederum als Attraktion einen direkten, wirkungsvollen Eindruck auf den Zuschauer machen sollte. Das Bewusstsein des Zuschauers sollten die Einzelattraktionen wie die wuchtigen Schläge eines Boxers treffen. Dabei sollten sich die Attraktionen zu einer Gesamtlinie verbinden lassen, indem sie durch die Montage so angeordnet wurden, dass sie sich dialektisch in einer Richtung zu einer Fortschrittsgeschichte fügten. Da Eisenstein jedoch feststellen musste, dass dieser Attraktionsmontage auf der Theaterbühne physische und mediale Grenzen gesetzt waren, wechselte er 1924 zu einem neuen Medium und drehte seinen ersten großen Film Streik.
Theateroktober und Meyerhold
Im Theater erfolgreicher als Eisenstein war Wsewolod Meyerhold, der 1921 den Theateroktober ausrief, sich vom naturalistischen Schauspielstil vollständig abwandte und nach dem Vorbild der Arbeitsformen der industriellen Produktion seine Biomechanik entwickelte. Mit Anleihen bei der typisierenden Commedia dell’arte, bei Charlie Chaplins Slapstick, beim Volkstheater und bei der artistischen Ästhetik des Jahrmarktes arbeitete er darauf hin, das Konzept des Konstruktivismus auf seine eigene Bühnen- und Schauspielästhetik zu übertragen. Die von ihm propagierte Biomechanik orientierte sich ausgerechnet an der wissenschaftlich fundierten Arbeitsorganisation des ,Klassenfeindes‘, der originär ,kapitalistischen‘ Technik zur Effizienzsteigerung der Arbeit in Henry Fords erster Fließbandfabrik. Der sogenannte Taylorismus unterstützte so in der Sowjetunion die Produktion einer neuen sozialistischen Gesellschaft und eines neuen sozialistischen Menschen.
Körperfiguren der Biomechanik
Indem er die effizienten und kräftesparenden Arbeiterbewegungen in die korporal-motorischen Bewegungen der Schauspieler integrierte, schuf Meyerhold abstrakt-rhythmische Körperfiguren, mit deren Hilfe die Schauspieler ihr Material, also ihren Körper, wie eine Arbeitsmaschine effizient kontrollieren und organisieren konnten. Meyerhold gelang es, bis Ende der 1920er Jahre die Biomechanik zumindest als Trainingsmethode für Schauspieler zu verteidigen. Sogar sein alter Mentor Stanislawskij übernahm einige Elemente des biomechanischen Bewegungsduktus in seine Schauspielmethode. Der zunehmenden Kritik der eher machtpragmatisch denkenden Parteigenossen, die wohl auch wenig Verständnis für avantgardistische Experimente besaßen, hatte Meyerhold jedoch auf die Dauer wenig entgegenzusetzen. Der einst als bürgerlich verunglimpfte Schauspielnaturalismus kam wieder zurück und wurde als sozialistischer Realismus zur offiziellen und einzigen Linie der Partei erklärt. Meyerhold wurde nach einer längeren Gefängnishaft 1940 hingerichtet.
Politisches Theater in der Weimarer Republik
Piscator und neue Medien auf der Bühne
In Deutschland beeinflussten die Konzepte und Ästhetiken des sowjetischen Proletkult die ersten Inszenierungen Erwin Piscators und die theoretischen Ansätze Bert Brechts, vor allem dessen Modell des Lehrstücks.
Piscator propagierte nach dem Ersten Weltkrieg im Berlin der Weimarer Republik als einer der Ersten ein Theater, das sich inhaltlich und formal mit der sozialen Frage des Proletariats auseinandersetzte. Er stellte noch vor Brecht ein episches Theater vor und er war der Urvater des Dokumentarstücks. Um sein episches Theater zu verwirklichen, griff er konsequent auf neue Medien wie Film und Diaprojektionen bzw. auf die Integration derselben in die Bühnenausstattung zurück. Diese neuen Medien entsprachen in ihrer intermedialen Beziehung zum theatralen Spiel auf der Bühne der Multiperspektivität der modernen Welt. Der epische Überblick, ermöglicht durch die Gleichzeitigkeit der verschiedenen medialen Einblicke zwischen intimer Theaterszene und gleichzeitig projiziertem Film oder Dia, hatte die dargestellte konkrete Situation in einen größeren historischen, gesellschaftlichen und politischen Kontext zu stellen (Piscator 1986).
Agitationsästhetik und Revueprinzip
Piscator lehnte den Naturalismus als eine Art fotografische Abbildung der Realität ab. Denn man könne damit zwar das Elend eines Nachtasyls oder kriegerischer Gewalt zeigen, keineswegs aber dessen Ursache und Herkunft sichtbar werden lassen. Seine proletarische Agitationsästhetik orientierte sich in seinen wichtigsten Stücken nach Pariser Vorbild an der bürgerlichen Unterhaltungsform der Revue. Sie integrierte Rezitation, Couplets, Lieder, Artistik und schnelles Zeichnen, die handelnden Figuren wie z.B. der Prolet und der Bourgeois waren hoch typisiert. Vielerorts kopierte man das Revueprinzip Piscators. Ab der Mitte der 20er Jahre spielten bis zu 300 Agitpropgruppen in den größeren Städten Deutschlands.
Proteste gegen Piscators frühes Regietheater
Neben der Arbeit mit Laien in der Arbeiterbewegung inszenierte Piscator auch an den festen Häusern des professionellen Theaters. An der Berliner Volksbühne entwickelte er mit dem Bühnenbildner Traugott Müller die berühmte Piscator-Bühne, die mehrere Spielebenen und Medien in sich vereinigte. Für einige Aufführungen ließ er Dias anfertigen und Filme drehen, die in bestimmte Felder dieser Bühne projiziert wurden, während in den Räumen dazwischen Theater gespielt wurde. Alle Bühnenmittel dienten dem gemeinsamen Ziel der unmittelbaren politischen Agitation. Piscator inszenierte sowohl zeitgenössische Stücke wie auch Klassiker, er wurde so zu einem frühen Vertreter des Regietheaters. Der Regisseur hatte für ihn keineswegs Diener am Werk zu sein. Es ging ihm um die Grundstrukturen des dramatischen Textes, der an die Zeit angepasst werden sollte. Aufgrund seiner ständigen, teilweise radikalen Agitationsästhetik musste Piscator nach äußeren Protesten und inneren Widerständen die Volksbühne verlassen. Der Plan, sich von Walter Gropius ein Totaltheater mit der Integration aller medialen Mittel bauen zu lassen, zerschlug sich aufgrund der immensen Kosten. So richtete sich Piscator 1927 im Theater am Nollendorfplatz eine eigene Bühne ein, die er mit dem expressionistischen Stück Hoppla, wir leben von Ernst Toller eröffnete. Das Bühnenbild ging in die Theatergeschichte ein. Es war ein mehrstöckiges Gerüst, auf dessen Etagen simultan und vor allem mit den verschiedensten Medien – neben Dias zeigte man Zeichentrickfilme und Dokumentarfilme – gespielt werden konnte (Rühle 2007).
Emigration, Remigration und Dokumentartheater
Insgesamt wurden die technischen Bühnenmittel, zu denen unter anderem auch laufende Bänder gehörten, immer kostspieliger, während zugleich die Zuschauerzahl abnahm. Piscator bekam finanzielle Probleme, folgte einer Einladung in die Sowjetunion und drehte dort einen Film nach Anna Seghers’ Novelle Der Aufstand der Fischer von St. Barbara. Von dort emigrierte er 1936 nach Frankreich und drei Jahre später in die USA, wo er in New York den berühmten Dramatic Workshop einrichtete, den u.a. Arthur Miller, Marlon Brando und Tennesee Williams besuchten. Nachdem er 1949 in die Bundesrepublik remigrierte, musste er über Jahre hinweg in der Provinz inszenieren. Erst 1962 konnte er die Leitung der West-Berliner Freien Volksbühne übernehmen. Dort setzte er wieder theaterhistorische Akzente, indem er mit Rolf Hochhuths Stellvertreter, Heinar Kipphardts In der Sache J. Robert Oppenheimer und Peter Weiß’ Die Ermittlung der neuen Dramatik des Dokumentarstücks zum Aufstieg verhalf.
Früher Brecht
Neben Piscator wurde in der Weimarer Republik auch der andere Vertreter eines epischen Theaters, einer der Giganten der Theatergeschichte des 20. Jahrhunderts, bekannt: Bertolt Brecht. Der Augsburger, der in München studierte, erst kurz Theaterkritiker war und dann zwischen 1918 und 1922 seine ersten expressionistischen Stücke schrieb, interessierte sich vor allem für das Individuum in der Massengesellschaft. Trommeln in der Nacht, aufgeführt 1922 von den Münchner Kammerspielen, machte ihn bekannt und brachte ihm einen Vertrag als Dramaturg an Max Reinhardts Theater ein. Mitte der 20er Jahre reduzierte Brecht die Bühne vor dem Hintergrund der Neuen Sachlichkeit, betrachtete die klassische Dramatik als Material und wandte sich den Wissenschaften zu. Resultat war das Stück Mann ist Mann, in dem, vor dem Hintergrund der behavioristischen Psychologie, ein Packer zur „menschlichen Kampfmaschine“ umkonditioniert wird. Die Umwelt, so glaubte Brecht, formt den Menschen, das Sein bestimmt das Bewusstsein.
Konzept des epischen Theaters
Nachdem ihm keiner die Funktionsweise einer Börse erklären konnte, studierte Brecht Werke der Nationalökonomie. Insbesondere las er Karl Marx und schrieb das Stück Die heilige Johanna der Schlachthöfe, in dem die Hauptfigur den Zusammenhang zwischen Profitstreben und Verelendung erkennen muss. 1928 wurde Brecht mit seiner am Berliner Theater am Schiffbauerdamm aufgeführten Dreigroschenoper berühmt. Zu seinem Songspiel Mahagonny aus dem Jahre 1930 formulierte Brecht eine innovative Theaterästhetik, sein folgenreiches Konzept des Epischen Theaters: Das neue Theater verkörpert nicht, sondern erzählt, jede Szene steht für sich und nicht für eine abzubildende Wirklichkeit und die Handlung verläuft nicht linear.
Brechts Gestus
In seinem Traktat der Straßenszene aus dem Jahre 1940 explizierte er seine Vorstellung einer zeitgemäßen Schauspielästhetik (Brecht 1963). In ihr sollten die Protagonisten wie bei der Beschreibung eines Unfalls durch Passanten nur so viel andeuten, dass sich diejenigen, die nicht dabei waren und denen hier gestisch etwas angezeigt wird, ein Bild machen können. Mit dieser dezidierten Vermeidung einer einfühlenden Illusion strebte Brecht einen eigenen Realismus an, der in der Nachahmung des menschlichen Verhaltens den sozialen Hintergrund nicht ausspart. Das auf der Bühne Gespielte darf seinen Zeichencharakter dabei in keinem Moment verleugnen. Die immer sichtbar bleibende Differenz zwischen gespielter Realität und Bühnenrealität ist Teil des von Brecht geforderten Akts der Verfremdung. Damit wird eine gesellschaftliche Situation auf der Bühne wie in einem wissenschaftlichen Experiment zur Disposition gestellt und als grundsätzlich veränderbare begriffen. Vermieden werden soll, dass die theatrale wie die gesellschaftliche Situation als anthropologische Konstante gesehen wird: Die zugrunde liegenden gesellschaftlichen Strukturen sollen als Konstruktion ausgewiesen werden. Für die Zuschauer gilt, dass sie sich nicht nur einfühlen, sondern auch eine distanziert-reflektierende Haltung einnehmen sollen. Damit die Rollenfigur nicht zu sehr zur Einfühlung einlädt, haben die Schauspieler ihre Rolle mehr zu erzählen als illusionistisch zu spielen.
NS-Theater zwischen Thingspiel und Realismus
In der Zeit des Nationalsozialismus war das Theater durch die Vertreibung vieler wichtiger jüdischer, regimekritischer oder politisch unerwünschter Regisseure, Intendanten und Schauspieler geschwächt. Es entwickelte, mit tatkräftiger Unterstützung der Theaterwissenschaft, eine eigene theatrale Ästhetik, das Thingspiel, das sich jedoch wegen zu geringen Publikumszuspruchs und in Ermangelung geeigneter Stücke nicht durchsetzen konnte. Das faschistische Regime bevorzugte letztendlich wie das stalinistische den publikumsnäheren und erfolgreicheren Realismus auf der Bühne (Rischbieter/Panse/Eicher 2000).
Das politische Theater seit den 60er Jahren
Theater der Nachkriegszeit
Das deutsche Theater in der Nachkriegszeit erschien in seiner Innovationskraft eher gelähmt; neben der wertebezogenen Pflege der Klassiker wie in Gustaf Gründgens Faust I erlebte es neue Einflüsse innerhalb des Reeducation-Programms der Besatzungsmächte. Während von den Amerikanern, weniger von den Briten, Stücke wie Thornton Wilders Unsere kleine Stadt den Theatern zu Verfügung gestellt wurden, die auch durchaus beliebt waren, importierte man aus Paris die neue Vorstellungswelt des Existentialismus und inszenierte Dramen von Albert Camus und Jean-Paul Sartre.
Politisierung des Theaters in den 60er Jahren
Das deutsche Theater erreichte erst wieder mit der Rückkehr der Emigranten Fritz Kortner und Erwin Piscator das Niveau der Theaterästhetik der Weimarer Zeit. Am Anfang der 60er Jahre begann es wieder Weltgeltung zu erlangen. Einerseits beherrschten die politischen Parabeln Martin Walsers, Max Frischs und Friedrich Dürrenmatts die Bühne; andererseits erlebte das Dokumentardrama Rolf Hochhuths, Heinar Kipphardts und Peter Weiss’ seinen Aufstieg. Etwas später wurde mit Martin Sperr, Rainer Werner Fassbinder und Franz Xaver Kroetz das kritische Volkstück wieder entdeckt, man erinnerte sich an Marieluise Fleißer und Ödön von Horvµth. Die Politisierung des Theaters in den 60er Jahren ging u.a. auch von der Protestbereitschaft der Nachgeborenen gegen ihre in der NS-Zeit belasteten Väter aus. Die Ausschwitzprozesse ab 1963 wurden zu einem gesamtgesellschaftlich wichtigen Ereignis.
Gegenkultur und 68er-Revolte im Theater
Im globalen Zusammenhang folgte das deutsche Theater innerhalb der Gegenkultur der Kritik der westlichen Konsumgesellschaft und den Protesten gegen den Vietnamkrieg. Ende der 60er Jahre musste Peter Stein als junger Regisseur an den Münchner Kammerspielen gehen, weil er während der Vorstellung für Peter Weiss’ VietNamDiskurs in den Pausen für Waffen, die der Vietcong erhalten sollte, sammeln ließ. Er fand dann seine Heimstatt im Bremer Theater unter der Intendanz Kurt Hübners, das in der zweiten Hälfte der 60er Jahre das künstlerisch avancierteste westdeutsche Theater war. Dort skandalisierte Peter Zadek mit seiner popkulturellen Inszenierung des Shakespearestücks Maß für Maß. Er und Peter Stein mit seiner Einrichtung des Goetheschen Torquato Tasso wurden zu den Vorbildern des deutschen Regietheaters, indem sie zeitgenössische Medienzitate übernahmen oder die bis dahin gültigen Klassikeraufführungen durch Übertreibung der theatralen Mittel parodierten.
Artaud, Grotowski und Brook
Obwohl oder gerade weil in der Nachkriegszeit der in Ostberlin wirkende Bert Brecht im konservativen kulturellen Klima der Bundesrepublik eine persona non grata war, pilgerte man in den Osten zu den Inszenierungen des Berliner Ensembles; sein episches Theater wurde schulbildend. Neben Brecht entdeckte man den ehemaligen Surrealisten Antonin Artaud und das arme Theater des Polen Jerzy Grotowski. Zum internationalen Vorbild wurde Peter Brooks Londoner Inszenierung von Weiss’ Marat/Sade aus dem Jahr 1964: Ihm gelang es, Brecht, Artaud und Grotowski in einen eigenen Regiestil zu integrieren.
Poststrukturalismus und Sprechstücke
Der linguistic turn und die Ablösung des Sartreschen Existentialismus durch den Strukturalismus eröffneten in der zweiten Hälfte der 60er Jahre eine Vorstellungswelt, für die im deutschen Theater vor allem Peter Handkes Sprechstücke standen, die von Claus Peymann, dem nimmermüden Förderer aktueller deutschsprachiger Dramatik, eingerichtet wurden.
Stein und die Berliner Schaubühne
Die u.a. von Stein gegründete Berliner Schaubühne wurde zum führenden deutschen Theater der 70er Jahre. Sie eröffnete, noch stark unter Einfluss von Brecht, mit Gorkis Die Mutter, stärkte die Produktionsdramaturgie und band alle Beteiligten, insbesondere die Schauspieler, in den Inszenierungsprozess ein.
Postmoderne Ästhetiken im Theater
Während Peter Stein mit Tschechows Drei Schwestern, die er nach den historischen Regieplänen Stanislawskijs annähernd zu rekonstruieren suchte, über die Hermeneutik zur Texttreue zurückfand, wurden Thomas Bernhards musikalische Stücke, Elfriede Jelineks de-konstruierende Sprachflächen und Heiner Müllers postdramatische Theatertexte zum politischen Theater der 1980er Jahre. Robert Wilsons Inszenierung der Müller’schen Hamletmaschine reflektierte am prägnantesten die avancierte theatrale Ästhetik der 80er Jahre. Das Politische suchte man weniger in der kommunikativen Aufklärung zwischen Bühne und Zuschauerraum, sondern in der Erkenntnis, dass die Strukturen und Diskurse die Produktion und Rezeption über den Wahrnehmungsvorgang ,kurzschlossen‘, so dass eine Kritik oder eine subversive Haltung nur noch in der Unterbrechung bzw. Störung der Kommunikation zu finden war. Eine prominente Ausnahmeerscheinung blieb George Tabori, der sowohl als Stückeschreiber wie auch als Regisseur politisch brisante Fragen wie die nach dem Holocaust auch in der Form einer Farce wie Mein Kampf zu beantworten wagte.
Theater der 1990er Jahre
Auf die Wiedervereinigung, welche die bundesrepublikanische Gesellschaft und vor allem auch die Intellektuellen überraschend traf, reagierte das Theater mit weitgehendem Unverständnis und Schweigen, wenn man von Botho Strauß absehen mag. Heiner Müller gelang es, aus der ambivalenten Situation der 1990er Jahre künstlerisches Kapital zu schlagen. Seine Inszenierung des Brechtschen Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui wurde zur Modellinszenierung der 1990er Jahre. Darüber hinaus stieg Frank Castorfs Berliner Volksbühne mit ihrer dekonstruktivistischen, um die letzten Tabubrüche bemühten Theaterästhetik zum wichtigsten Theater auf. Neben dem vermehrten Einsatz von Neuen Medien in der Tradition von Piscator auf der Castorfbühne entwickelte Christoph Marthaler an der Volksbühne seine musikalisch-avantgardistischen Theaterabende, während vor dem Haus auf der Straße Christoph Schlingensief seine Performances an der Grenze zwischen Authentizität und Fiktion entlang führte. Meyerholds Biomechanik figurierte in konstruktivistischen Bühnenbildern bei Andreas Kriegenburg die entfremdete nachmoderne Persönlichkeit, während Thomas Ostermeier mit ihrer Hilfe in der Experimentierbühne Baracke die neue englische Dramatik theatergängig machte und so an eine in den 1980er Jahren abgerissene sozialrealistische Tradition anknüpfte (Wille 1999).
Rückkehr zum dramatischen Text?
Mit der Übernahme der Berliner Schaubühne war Ostermeier einer der Ersten, der sich wieder die Pflege des dramatischen Textes auf die Fahnen schrieb. Insbesondere seit dem 11. September scheint sowohl in der Dramenlandschaft als auch in der Regiepraxis wieder das handlungsfähige Individuum und sein anthropologisch grundiertes Motiv, Geschichten zu konstruieren und die kritische Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt zu suchen, gefragt zu sein, während die Postmoderne zunehmend historisiert wird. Momentan ist die Situation ambivalent. René Pollesch sieht das Politische in der unaufhebbaren Entfremdung durch eine grundlose Diskurs- und Medienkultur, so dass seine in Szene gesetzten Figuren als Schauspieler weniger soziale und politische Inhalte, sondern mehr den selbstreferentiellen Gestus ihrer Existenz aufführen. Lukas Bärfuß hingegen deutet das existentiell Unbekannte als Aufforderung zur Suche nach Identität, Werten und einer Grundlage für ein erträgliches Leben in der Gemeinschaft.