Der Übergang zum Post-Dramatischen im avancierten Theater der 60er Jahre
Neo-Avantgarde und das nicht mehr Dramatische
Mit der gesellschaftlichen Neuausrichtung der 1960er Jahre, in der Zeit der Gegenkultur, der Neo-Avantgarde und des ästhetischen Auftaktes der Postmoderne, in der sich nach dem Diktum „Close the Gap“ von Leslie Fiedler die Grenzen zwischen High- und Low-culture auflösen, änderte sich auch das Theater. Seit dieser Zeit, die zunehmend von elektronischen Massenmedien geprägt wird, bestimmt ein neuer Blick auf das Theater Produktion und Rezeption der avancierten Inszenierungen. Theatralität war zwar seit der Antike bestimmend für die ästhetische Erfahrung des Theaterspiels, wird nun jedoch zu einer vornehmlich ästhetischen, darüber hinaus aber auch zu einer ethisch-politischen Leitidee: Aufmerksamkeit erregt nicht mehr so sehr das Dramatische, sondern mehr das – von der historischen Avantgarde her gesehen – selbstbewusst Theatrale, in diesem Sinne auch Nicht-mehr-Dramatische, also das, was sich weniger in der Bedeutung und mehr durch die Attraktion zeigt.
Affirmative Ästhetik und energetisches Theater
Damit wurde etwas virulent, das sich in den 1980er Jahren als Bewegung vom Dialog zur Dialogizität (Wirth 1980) und als „Wandlung des Theaters im Umfeld der Medien“ (Wirth 1987, 83) zu einer Bevorzugung des Visuellen und Ereignishaften vor dem bedeutungstragenden Sprachlichen ausprägte. Ein solches Ereignis stellte sich Jean-François Lyotard in seiner affirmativen Ästhetik als energetisches Theater vor, das die „Unabhängigkeit, die Gleichzeitigkeit der Töne/Geräusche, der Wörter, der Körper-Figuren, der Bilder, wie sie die Koproduktionen von Cage, Cunningham, Rauschenberg auszeichnen“, dadurch erreicht, dass die „Zeichenbeziehungen und deren Kluft abgeschafft werden“ (Lyotard 1982, 21).
Nicht-Repräsentierbarkeit
Lyotard bejahte die nihilistische Tendenz der modernen bildenden Kunst. Das Fragezeichen im Werk deutete er positiv im Sinne einer Nicht-Repräsentierbarkeit dessen, was die Vorstellungskraft des Betrachters überschreitet, und setzte den ästhetischen Grenzbegriff des Erhabenen, der sich exemplarisch an den Bildern Barnett Newmans erfahren lasse (Lyotard 1984, 152). Intendiert ist eine Wirkungsweise der Bilder, die gänzlich auf kognitive Bedeutungszuweisung verzichtet und als Präsenz sinnlich überwältigt. Die Bilder verweisen damit auch auf die den iconic turn motivierende Erkenntnis, dass die Eigenart des Bildes, das bei Newman noch einen Rahmen hat, sprachlich oder begrifflich nicht fassbar ist. Vor dem Hintergrund einer solchen affirmativen Ästhetik als energetisches Theater spricht Wirth von theatralen Formen, welche die Theaterwissenschaft bis dahin als Paratheater bezeichnet hatte, also von der Performance, dem Tanztheater, der Sound-Collage, der Sprechoper etc. Elemente dieser nichtdramatischen Ästhetiken wurden zu einem immer stärker integrierten Mittel auch im traditionellen Theater. Damit verschob sich das Gleichgewicht in der Inszenierung weg vom dramatischen Text, hin zur Aufführung, wobei das Regietheater des 20. Jahrhunderts mit der zentralen, künstlerisch verantwortlichen Person des Regisseurs ein höchst geeigneter Einflussbereich für die performativen und visuellen Elemente des einstmaligen Paratheaters war.
Postdramatisches Theater
Für diese neuen theatralen Phänomene wurde dann erst 1999 ein adäquater Begriff bekannt, nämlich derjenige des postdramatischen Theaters. Der Frankfurter Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann schrieb einen umfangreichen Essay zum Thema, der schnell zum theatertheoretischen und analytischen Standardwerk der Theaterwissenschaft avancierte (Lehmann 1999). Er widmet sich, von Bert Brechts „Gestus“, Peter Szondis Theorie des modernen Dramas, der historischen Avantgarde und der Performancekunst seit den 1960er Jahren ausgehend, der performativen Ästhetik auf den zeitgenössischen Bühnen. Darunter versteht er ein Theater, das sich von der Vorherrschaft des Dramas befreit hat, das eher Präsenz als Repräsentation, eher geteilte als mitgeteilte Erfahrung, eher Prozess (Genotext) als Resultat (Phänotext), eher Energetik als Sinn bzw. Information bedeutet. Einem solchen performativen Theater eignet eine „Ethik des Antwortens“ als eine „Ethik der Differenz, statt der Identität, Gleichheit oder Reziprozität“ (Fischer-Lichte 1999; Mersch 2002, 294). Das soll nun nicht bedeuten, dass für den Produktionsprozess kein dramatischer Text mehr erlaubt wäre. Zudem leitet auch Lehmanns Ästhetik ihre dekonstruierende Argumentation jeweils von den traditionellen aristotelischen Konstituenten des Dramas wie Handlung, Figur, Zeit, Raum ab, wiewohl er diese subvertiert. Vielmehr wäre auch mit Rekurs auf die historische Avantgarde davon auszugehen, dass der dramatische Text nur ein Element der Inszenierung bzw. Aufführung unter vielen ist.
Gestus nach Brecht
Es geht daher nicht um eine total verweigernde Haltung gegenüber dem dramatischen Text, sondern gegen den konventionellen Umgang mit ihm, was insbesondere die Inszenierung, die den Text ,nutzt‘, betrifft. Thematisiert wird die Art und Weise der Präsentation des dramatischen Textes, der schon noch wirksam bleibt, wie man insbesondere in den Inszenierungen der Texte Heiner Müllers, Elfriede Jelineks oder René Polleschs beobachten kann. Wichtig ist die Unabhängigkeit von psychologisch ,richtigen‘ Figuren, die zur Identifikation einladen. Ebenso verändern sich im theatralen Ereignis Zeit, Raum, Körper und Handlung, die alle nicht mehr in der klassisch-naturalistischen Weise decodierbar sind. Schon bei Brecht im Epischen Theater betont ausgestellt und damit als veränderbar begriffen, wird der Gestus bei Lehmann dezidiert zum Gestus nach Brecht. Er tendiert somit dazu, selbstreferentiell zu werden; keinesfalls unterstützt er eine sinnvolle Narration und eine eindeutige Orientierung an einem selbstbewussten, normalen Subjekt. Die Zuschauer werden aktiv dabei gestört, in der Wahrnehmung die theatralen Mittel einer einheitlichen, sinntragenden mentalen Synthese zuzuführen. Das postdramatische Theater initiiert statt einer botschaftstragenden Bedeutung einen nie an ein Ende kommenden performativen Akt der Bedeutungszuweisung. Es entsteht der Eindruck der Polyvalenz und Uneindeutigkeit sowie der Simultaneität des Zeichengebrauchs. Orientieren können sich die Zuschauer in der Hauptsache wie in der historischen Avantgarde nur noch an Rhythmen und assoziativen Feldern. Die Wahrnehmung als performativer Akt und die Medialität des Wahrnehmungsvorgangs sollen bemerkbar und damit reflexions-, diskussions- und letztlich veränderungsfähig werden.
Nachdramatische Sprech- und Theoriestücke
Was den dramatischen Text im engeren Sinne betrifft, zeigte sich ein Aufstieg der nachdramatischen Sprech- und Theorie-Stücke schon seit den 1960er Jahren. In dieser Zeit ereignete sich der Wandel von der Struktur des gesellschaftlichen Theaters zur Theatralität der Medienwelt. Paradigmatisch für diese Zeit war Peter Handke mit seinem das Medium Theater reflektierenden Stück Die Publikumsbeschimpfung, das sein Vorhaben im Dialog offen legt. Die spektakuläre Uraufführung dieses Stückes 1966 im Frankfurter Theater am Turm antwortete auf die gesellschaftspolitischen und vorstellungsweltlichen Transformationen der Zeit.
1966 als Umbruchsjahr
1966 war in der Tat ein kulturell folgenreiches Jahr. In Princeton revoltierte der junge Handke gegen die Mandarine der Gruppe 47. Das Theater Bremen wurde unter Kurt Hübner mit Peter Zadeks Inszenierungen zum Zentrum des politisierten und popästhetischen Regietheaters. Michel Foucaults Ordnung der Dinge avancierte im intellektuellen Paris zum Buch der Saison und initiierte die Ablösung der Führung Jean-Paul Sartres. Die intellektuelle Avantgarde sprach nicht mehr vom bewusstseinsfähigen Subjekt, sondern von Codes und Systemen, man war nicht mehr Existentialist, sondern Strukturalist; ein Jahr später propagierte Richard Rorty den linguistic turn. So nahm es nicht Wunder, dass für Handke das Stück kein Bild der Wirklichkeit, sondern die Welt in den Worten selbst zeigte. Theatrale Wirklichkeit sollte nicht eine soziale Realität außerhalb der Sprache abbilden. Der theatrale Gestus hatte die Mittel der Sprache sichtbar zu machen. Als performativer Akt orientierte er sich am Nouveau roman, den Überlegungen Maurice Blanchots, an Alain Resnais Letztes Jahr in Marienbad oder, mit Brecht politischer akzentuiert, an Jean-Luc Godards filmischen Essays. Figuren und Handlungen wurden als Teil veränderbarer Strukturen beobachtbar. Was Godard etwa in seinem Film Weekend mit der Fortdauer der Handlung auflöste, band Handke in seinem 1968 von Claus Peymann in Frankfurt inszenierten Kaspar ein. Hier löste Mensch-Werdung und Subjektivierung in performativer Sprachaneignung als Sprechfolterung das Anthropologische im Strukturellen auf.
Von Stein zu Marthaler
Der Verdacht, dass der Struktur nicht zu entkommen war, schon gar nicht in einer ,bürgerlichen‘ Kunstform wie dem subventionierten Theater, grundierte Peter Steins Bremer Einrichtung (1969) der goetheschen Figur des Künstlers Torquato Tasso als „Emotionalclown“ der gesellschaftlichen Ordnung. Hintergrund war Brechts Diktum, von Walter Benjamin in seiner Geschichte der Photographie zitiert,
dass weniger denn je eine einfache Wiedergabe der Realität etwas über die Realität aussagt. Eine Photographie der Kruppwerke oder der A.E.G. ergibt beinahe nichts über diese Institute. Die eigentliche Realität ist in die Funktionale gerutscht. […] Es ist also tatsächlich etwas aufzubauen, etwas Künstliches, Gestelltes. (Benjamin 1966, 153)
Steins In-Szene-Setzung wies dabei über den Brecht’schen Gestus hinaus und war bereits weitgehend postdramatisches Theater avant la lettre – Christoph Marthaler hat Ende der 1990er Jahre Steins Tasso-Inszenierung als Vor-Bild seiner Ästhetik herausgestellt. In einem abgeschlossenen Bühnenraum deuteten die während der Aufführungszeit ständig anwesenden Schauspieler durch forcierte und verdoppelte Darstellung inhaltlich auf die gesellschaftspolitische Ohnmacht des Künstlers und formal auf die Konventionen der Rolle und des Mediums sowie die Erwartungshaltung der Zuschauer. Adornos Philosophie, französischer Strukturalismus, surrealistisches Wirklichkeitsverständnis, Artaud und vor allem Brecht bildeten den vorstellungsweltlichen Hintergrund der Überwindung des Dramatischen. Generell ging es in den späten 60ern noch um den Beginn einer Bewegung zu einem besseren, einem noch nicht erreichten, nur in der Vorstellung existierenden Ort, um eine Utopie.
Das avancierte Theater der 1970er bis 1990er Jahre
Verlust der utopischen Gegenwelt
In den 1970er und in den beginnenden 1980er Jahren änderten sich die Verhältnisse, der „Marsch durch die Instanzen“ war durchaus erfolgreich und der real existierende Sozialismus verlor spätestens mit der Veröffentlichung von Aleksandr Solschenizyns Archipel Gulag (1973–1975) und dem „heißen Herbst“ 1977 als utopische Gegenwelt seine Anziehungskraft. Eine Bewegung ohne utopischen Ort hatte keine Richtung mehr, so dass das Spiel der Zeichen in der Gleich-Gültigkeit einer nun positiv gewerteten Ent-Fremdung (Jean-François Lyotard) zum referenzlosen Spiel der Interpretationen wurde. Auf diese schleichenden Veränderungen, welche nach 1989 die rechtshegelianische Sicht eines liberalen, demokratischen und marktwirtschaftlichen „Endes der Geschichte“ (Francis Fukuyama) legitimieren, reagierte das Theater mit verschiedenen Versuchen. Während Stein mit der akribischen Rekonstruktion der Drei Schwestern (1984) von Anton Tschechow daran ging, ein naturalistisches Bild (aus der Erinnerung wieder) aufzunehmen, wie es Konstantin Stanislawskij noch mit Maxim Gorkijs Nachtasyl zu tun war, näherte sich Klaus Michael Grüber mit seinen Bakchen von 1974 einer psychoanalytisch-strukturell operierenden Ästhetik der kulturellen Erinnerung, welche exemplarisch die Grenzen zwischen Imagination und Realität sowie zwischen Bühne und Zuschauerraum zugunsten einer umfassenden Wirklichkeit als ,gemachtes‘, durchaus surreales Bild auflöst. Der Zeitgeist dieser nachmodernen Suchbewegungen hatte eine weithin uneingestandene konservative Tendenz. Stein inszenierte später Faust als Avantgarde der Avantgarde texttreu (nicht werktreu!) und vollständig. Handke entdeckte seinen persönlichen Faust im Spiel vom Fragen, welches Heideggers Frage als Urgrund vorstellte. So lautete eine Dialogzeile des Stücks konsequent: „Schauspieler: Schweigen als Frage “ (Handke 1989, 95): Der Andere erscheint als Rollenträger einer Inszenierungs- und Erlebnisgesellschaft, deren mimetische Grundlosigkeit im Schweigen ihren nicht mehr dialogischen Ausdruck findet. Das skizzierte Menschen-Bild erhält sich referenzlos in der Abdrift. Was blieb, war der phänomenologische Blick aus einer solipsistischen Individualität, wie ihn uns Handke in Die Stunde da wir nichts voneinander wußten (1992) andeutet. Der Reigen der Bilder formiert die Handlungswirklichkeit in diesem Stück (fast) ohne Worte in der Montage imaginärer und realistischer Attraktionen.
Einbruch neuer Medienwelten und De-Konstruktion
So war Ende der 1980er Jahre alles ge- sagt. Die neue Herausforderung war nun der Einbruch der rasant expandierenden visuellen Welt der elektronischen Medien in die „unendliche Bibliothek“ (Umberto Eco). Am Schnittpunkt von visueller Medienästhetik und textueller Sprachlandschaft stand 1986 Robert Wilsons Inszenierung von Heiner Müllers Hamletmaschine. Der Dekonstruktion des nicht mehr dramatischen Textes begegnete die strenge, (un)willkürliche Komposition der Bilder und der Körper als Material.
Mediendominanz und Theatralisierung der Performance
Das Theater profitierte von der Entwicklung in der bildenden Kunst, die dem unbewussten Impuls als performativem Akt und dem Ausstieg aus dem Bild in den Raum folgte. Mediendominanz und Theatralisierung der Performance waren nicht ohne Einfluss auf die Theaterstücke. Die Ästhetik wurde zur postmodernen Leitphilosophie; der Beobachter erschien aus der Sicht der Systemtheorie selbstreferentiell. Rainald Goetz ordnete seine Trilogie Festung als Ergebnis einer erschöpfenden Medienerfahrung. Er teilte seinen potenziell endlosen Text ein in die Materialien 1989 – als Dokument einer phänomenologischen Medienschau – und in die Theaterstücke Festung sowie die Berichte Kronos als räumlich-dramatische und zeitlich-epische Ordnungsinseln in der medial-mentalen Performance.
Theater ohne soziale Wirklichkeit
Im avancierten Theaterstück der 1990er Jahre kam die dargestellte Wirklichkeit oft nicht nur ohne sozialen Bezug zur Realität aus, sondern setzte sich selbst in Anführungszeichen. René Pollesch lässt nicht Geschichten vom speziellen Leben erzählen, sondern nutzt das „Angebot eines Theorieapparates, der dann theoretisch auf das Leben von jedem Einzelnen angewendet werden könnte“ (Pollesch 2000, 64ff.). Als getriebene „Akteure“ in einer globalisierten Mediengesellschaft mit ständig zunehmendem Austausch an kulturellem Kapital sind die Schauspieler/Figuren grundsätzlich in Bewegung. Sie verweigern, wie in Steins Tasso-Inszenierung, einen naturalistischen Stil. Die Texte zeigen nicht, wie Handkes Publikumsbeschimpfung, als Sprechstücke auf die Struktur des gesellschaftlichen Theaters, sondern als Theoriestücke auf die Theatralität der medialen Globalisierung, während sie zugleich den Verlust an Wirklichkeit und Halt in der Bewegung thematisieren.
Vereinzelte Figuren in der Medienrealität
Rainald Goetz’ und René Polleschs Theaterstücke stellen das Verhältnis des Vereinzelten zu den Medien als geschlossenen Kreislauf dar. Die Befragung der Welt als kreisförmige Bewegung des hermeneutischen Zirkels, wie er noch in Handkes Spiel von Fragen zu finden ist, beschleunigt sich nicht nur aufgrund des Wandels vom erkenntnistheoretischen Skeptizismus der Moderne zum ontologischen Skeptizismus der Postmoderne, sondern auch als Antwort auf eine postdialogische Kultur und als Ver-Wirklichung der Medien. Mensch und Medienbilder werden in einem kybernetischen Verhältnis zusammengeschlossen. Die ästhetische Grenze als mediale Oberfläche tendiert zur Schnittstelle bzw. zum Link zwischen dem Wahrnehmendem und der Medienwelt, während sich gleichzeitig die Korporal-Motorik avancierten Theaters dieser Tendenz entziehen mag.
Körper und Präsenz
Neben den Medienbildern sollen sich die Körper in ihrer Ambiguität als medial vergrößerte Sensation und sich verweigernde Erscheinung von Präsenz behaupten. Für die 1990er Jahre war der von Heiner Müller am Berliner Ensemble 1995 eingerichtete Arturo Ui paradigmatisch, in dem Martin Wuttke den animalischen Charakter des Diktators artistisch ausagierte, während die Neben-Figuren einem engem Bewegungsschema folgten. Die Trennung des Textes vom Körper trieb Einar Schleef mit der Inszenierung von Elfriede Jelineks Sportstück 1998 am Wiener Burgtheater auf die Spitze. Der mehr epische als dramatische Text hob sich deutlich von den chorisch und sportlich choreographierten Körpern ab, das Dialogische wurde zur Dialogizität der theatralen Mittel. Das letzte noch bestehende Primärmedium Theater, für das „Anfang des 21. Jahrhunderts eine schwindende gesellschaftliche Dominanz“ gilt, die „tendenziell auf sein Ende als eigenständiges Medium“ (Faulstich 2004, 13 und 47) hinweisen solle, beweist daher als performatives Medium der Präsenz durchaus seine Überlebensfähigkeit. Gleichwohl kann es sich zunehmend nicht mehr sicher sein, auf welchem Fundament diese Präsenz aufbauen kann. Denn es entwickelt eine Ästhetik, welche sich zunehmend den Rezeptionsgewohnheiten derjenigen anpasst, die mit elektronischen Medien aufgewachsen sind. So kann ab den 1980er Jahren beobachtet werden, dass sich die Serienwelt des Fernsehens analog der Welt des Theaters hin zum Postdramatischen entwickelt (Schneider 1995). Ein sehr gutes Beispiel hierfür wäre Michael Manns Miami Vice aus den 1980er Jahren. Diese Serie ist exemplarisch für die von Andrzej Wirth (1992, 233) für das avancierte Theater festgestellte Ästhetik der Präsentation im Sinne eines Überwiegens des Performativen, da Narration und Sinnangebot zugunsten der visuellen Ästhetik und der emotional anreizenden Dauerattraktionen völlig in den Hintergrund treten.
Überwiegen des Performativen
Diese Ästhetik der Präsentation weist auf Richard Schechners environmental theatre (Schechner 1973) zurück und, wenn man es an philosophischen Grundlagen festmachen will, auf Friedrich Nietzsche. So verlieren auch noch am ,postmodernen‘ Ende des 20. Jahrhunderts traditionelle Fragen nach dem Sinnverstehen an Bedeutung, Serienfolgen lösen sich als Werkeinheit auf und kanonische dramaturgische Schemata mit Konflikten, Normverletzungen und Lösungen treten zugunsten der Bilderreize, des Arrangements und einer verschachtelten, alinearen Affektdramaturgie in den Hintergrund.
Beziehungsfelder statt Dramatik
In diesem Kontext ist die These des Medientheoretikers Vilém Flusser (1985, 9) aus den 1980er Jahren bemerkenswert, dass die Neuen Medien den Menschen „nicht mehr dramatisch, sondern in Beziehungsfelder“ einbetten, so dass die „Exploration des situativen Aspekts“ (Lehmann, 2002, 15) innerhalb einer „Ästhetik des Performativen“ (Fischer-Lichte, 2004) nicht nur im avancierten Theater, sondern auch in der Serienwelt des Fernsehens beobachtet werden kann. Heute hat Franz Xaver Kroetz recht, wenn er dem Fernsehen Täuschung vorwirft: „Du schläfst mit Heidi Klum, frühstückst mit Joschka Fischer, du sagst Herrn Müntefering die Meinung, du bist im Mittelpunkt des Geschehens und bist doch nur ein armes, verschissenes Hartz IV-Würstchen!“ (Kroetz 2006). Die Medienbilder lassen kaum einen Unterschied zwischen einer Hungerkatastrophe und einer Gameshow erkennen. Polleschs Heidi Hoh ist als Figur das mediale Pendant der Gleich-Gültigkeit der Bilder. Was geschieht, wenn der mediale Schrecken in die geschützten Wohn- und Hotelzimmer des Westens einbricht, spielte Sarah Kanes Zerbombt, eines der englischen Stücke, mit dem Ende der 90er Jahre die Renaissance des dramatischen Textes in Deutschland begann, bis zur letzten Konsequenz durch. Strittig blieb, ob Kanes Darstellung der Gewalt eine Folge der realen sozialen Verhältnisse oder der intermedialen Übersetzung aus dem gewaltattraktiven Hollywoodkino war.
Junge Regie und die Ästhetik der Massenmedien
Seit Thomas Ostermeier, unter dessen Leitung die Schaubühne sich einem neuen Realismus verpflichtete, Mark Ravenhills Shoppen und Ficken 1998 in der Baracke des Deutschen Theaters in den Gewaltszenen drastisch verschärft hat, kann diskutiert werden, ob dieser Realismus der sozialen Realität geschuldet ist oder populäre Medien-Attraktionen übernimmt. Der aktuelle Ruf nach dem ,wieder‘ dramatischen Text, nach einem Neo-Realismus im Sinne eines Postpostmodernen Theaters, welchen die Dramatik des Royal Court in Deutschland mit evoziert hat, könnte paradoxerweise ein Effekt der dominierenden Hollywoodästhetik sein. Auf dem Münchner Theaterfestival Radikal Jung orientierten sich junge Regisseure, wie etwa David Bösch mit der Inszenierung von Simon Stephens Port, höchst erfolgreich an den bekannten Ästhetiken und Szenen der Film- und Fernsehgeschichte. Ob der momentan virulente Neo-Realismus der Bühnen eine List der allgegenwärtigen Medien ist, um die Bodenlosigkeit und Leere der medialen Existenz zu kaschieren und ein Bedürfnis der vor allem jüngeren Generation zu befriedigen, oder ob es sich hier wirklich um eine Annäherung an die soziale Realität handelt, ist eine ungeklärte Frage.
Rückkehr zum Dramatischen im Theater der Gegenwart?
Dekonstruktion als Formalismus?
Diese Entwicklung einer (post)strukturalistischen Ästhetik scheint heute von einer Wiederentdeckung des Anthropologischen abgelöst zu werden. Die in den 1960er Jahren initiierte mediale und vorstellungsweltliche Virtualisierung, Ironisierung und dekonstruierende Ästhetik der Ausnahme hat mit den Medienbildern des 11. Septembers 2001 ihren Höhe- und Umkehrpunkt erreicht. Eine mediale „désinvolture“ (Ernst Jünger), die dieses Ereignis als „größtes Kunstwerk aller Zeiten“ (Karlheinz Stockhausen) und als „Katastrophenfilm aus Manhattan“ (Jean Baudrillard) interpretiert, ist nun kaum mehr tragbar. Der reine Entzug als generelle Absage an eine referentielle Mimesis, der in den 1960er Jahren als ikonischer Nihilismus noch gegen überkommene, als repressiv empfundene Strukturen in Anschlag gebracht werden konnte, gerät zu Beginn des 21. Jahrhunderts in den Verdacht des Formalismus der Dekonstruktion.
Sehnsucht nach Stabilität in der Bewegung
Registriert wird insbesondere in den jüngeren Generationen, dass sich die Vereinzelten in einer ,nihilistischen‘ Kultur nicht mehr so wohl fühlen. Sie ahnen wohl, dass dem zentrumslosen Spiel der globalisierten Märkte mit einer affirmativen postmodernen Ästhetik des Energetischen kaum wirksam beizukommen ist. Die Unsicherheit in der lebensweltlichen Performance, welche heute nicht nur den kulturellen, sondern auch den technologischen, organisatorischen, politischen, ökologischen und ökonomisch-finanziellen Bereich umfasst (McKenzie 2001) und die Kontingenz, das Ereignis wie das Event der Spaßgesellschaft als Zentren ausweist, erzeugt für die Kinder der 68er-Generation, welche sich ihre Freiheiten nicht mehr erkämpfen mussten, eine Sehnsucht, die keineswegs die nach Dezentrierung, Bewegung und Auflösung ist. Aufgewachsen in Patchworkfamilien, mitten in einer Glaubwürdigkeitskrise der Politik, konfrontiert mit den immens gestiegenen Mobilitätsanforderungen des Arbeitsmarkts, zirkulieren sie selbst als Ich-AGs durch die Kette der befristeten Anstellungen und Praktikantenverhältnisse. Herausgefordert werden sie durch ihnen fremde Fundamentalismen, denen sie nichts entgegenzusetzen haben als ihre anerzogene Toleranz. Die neueste Sehnsucht ist infolgedessen die nach Stabilität in der Bewegung, nach Identität in der Dezentrierung, nach Verantwortung, Verlässlichkeit, Treue und Ethik. Instinktiv wird erkannt, dass das, was die etablierten Älteren als Reaktion diffamieren, auch die Subversion einer permanenten Bewegung sein kann, welche zuweilen ein Merkmal für Totalitarismus ist.
Suche nach Empathie und Realität hinter den Masken
Dem Dezisionismus, den die junge Generation als Zwang in der Freiheit verspürt, sei es als Zwang, der auf sie, die nun ungeschützter ist, ausgeübt wird, sei es als Zwang, den sie selbst ausüben müssen, um im Überlebenskampf nicht unterzugehen, antwortet die Suche nach Sym- und Empathie. Dies ermöglicht die Wiederkehr des Helden, wie sie Nikolaus Frei in seiner Monographie zum Thema Die Rückkehr des Helden – Deutsches Drama der Jahrhundertwende darstellt; oder auch die Rückkehr der Geschichten und die ,wieder dramatischen‘ Texte von Marius von Mayenburg, Lukas Bärfuß, Oliver Bukowski, Moritz Rinke, Igor Bauersima und Jon Fosse. Mit der Sehnsucht nach Stabilität geht die Suche nach der verlorenen Metaphysik, nach der Realität hinter den Masken, nach einer neuen Substantialität einher (Gumbrecht 2005, 751ff.). Die jüngeren Autoren wollen sich nicht mehr zufrieden geben mit dem Verweis auf die Relativität jeder Erkenntnis, welche als Forschungsansatz spätestens seit den Entlarvungen des Physikers Alan Sokal sowieso der Lächerlichkeit preisgegeben wurde – ihm gelang es, in der kulturwissenschaftlichen Publikation Social Text den Nonsensetext Transgressing the Boundaries: Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity zu veröffentlichen (Sokal/Bricmont 1999). Die Sehnsucht nach Realität zeigt sich in der Annäherung neuer Dramatik an die harte Ökonomie, trotz oder gerade wegen der totalen Medialisierung, wie wir sie bei Falk Richter, René Pollesch, Roland Schimmelpfennig, Fritz Kater, Gesine Dankwart und Kathrin Röggla bemerken.
Anteilnahme neben ironischer Distanz
Gefordert wird, im Sinne einer Post-Postmoderne und in Abgrenzung zu den 68ern, ein neuer Realismus, welcher als Haltung nicht pure ironische Distanz, sondern auch Anteilnahme zeitigt. Hierbei wird die Erkundung des Mediums und der Wahrnehmungskonventionen nicht völlig ausgesetzt, aber sie steht nicht mehr so sehr wie vor der Jahrtausendwende im Vordergrund. Das Interesse geht über die Struktur, die Medialität und die ästhetische Oberfläche hinaus und richtet sich auf den Bereich des Referentiellen. Als wirtschaftliche Realität wurde es bereits in Top Dogs von Urs Widmer (1997) und Schimmelpfennigs Push up 1–3 (2001) thematisiert. Richters Das System positioniert die Wirtschaftssubjekte in den Mittelbereich zwischen Dezision und Empathie sowie Fremd- und Selbstreferenz. Dabei geht es dem Autor darum, in seinem vierteiligen Zyklus zu zeigen, „wie wir unser System überhaupt beschreiben können, denn wir stecken ja drin und ein Außerhalb des Systems gibt es nicht“ (Richter 2004, 52).
Theater wieder als moralische Anstalt?
In der Mehrzahl der neuen Stücke der letzten Jahre erlauben die Figuren durchaus eine Identifikation, obwohl sie der bewussten Dezision nicht entkommen. Das Mit-Leiden und die Erkenntnis von Ähnlichkeiten bleiben möglich, da ihre Lebenswelten bekannt erscheinen, wiewohl sie verfremdet werden. Ihre Anwesenheit wird glaubhaft dargestellt, während ihre Dekonstruktion nicht verhindert wird; zum neu entdeckten Anthropologischen gesellt sich das konventionell den Diskurs und die Medialität Reflektierende, obgleich dies in den Hintergrund getreten ist. Die Substanz der Figuren bleibt glaubhaft, während ihre Konstruiertheit nicht geleugnet wird. Sie halten die Waage zwischen fremd und vertraut, zwischen Typisierung und Andersartigkeit. In der An-Erkennung des Anderen geht es auch wieder um Auf-Klärung. Man nimmt sich heraus, so Lukas Bärfuß, wie Schiller das Theater wieder als moralische Anstalt zu verstehen: „Mein Anspruch ist nicht ohne Pathos. Der Zuschauer soll den Appell spüren: Ändere dein Leben! Ich will, dass das Theater wieder Fragen stellt. Wozu dient Freiheit? Wie gehen wir miteinander um?“ Und was den Dialog als Verbindung zum Anderen betrifft, meint er: „Der Mensch ist keine Insel. Wir können uns nicht selbst erlösen oder auch nur für uns selbst das Glück finden. Das gelingt nur durch das Du“ (Bärfuß 2005, 39).