Wilsons Theater der Bilder
Robert Wilson, bereits ein Klassiker des avancierten Theaters der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gilt als paradigmatischer Vertreter eines Theaters der Bilder (Rühle 1972; Simhandl 1993; Balme 2003; Heeg 2000). Seine einflussreichen Inszenierungen werden dem experimentellen Theater der Gegenwart zugerechnet, das in vielen Fällen einer Dominanz der Bildsprache zuneigt. Mit dem Begriff „Theater der Bilder“ deutet sich nur scheinbar eine tautologische Beziehung zwischen Medium und medialer Spezifizität des Theaters an. Denn offensichtlich ist zwar das Theater ein visuelles Medium, aber nicht in jedem theatralen Ereignis tritt das Visuell-Bildliche so deutlich in den Vordergrund wie bei Wilson. Andererseits wäre zu einem Theater der Bilder, dessen Blütezeit in den 1970er Jahren beginnt und bis heute anhält, die Frage zu stellen, ob der visuelle Anteil im Theater der Gegenwart wirklich gestiegen ist oder ob er in der Vergangenheit nicht einfach generell zu wenig beachtet wurde. Zu vermuten ist, dass die Forderungen an das Bildungstheater als Forum bürgerlicher Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert, die Nähe der früheren Theaterwissenschaft zur Germanistik und die Semiotik als Analysemethode, die den theaterwissenschaftlichen Blick auf das Ereignis Theater immer noch dominiert, einen entscheidenden Anteil an der Vernachlässigung des Bildes im Theater als Untersuchungsgegenstand hatten. Generell ist daher von einem medienhistorischen Spannungs- und Komplementärverhältnis zwischen dem Bild und anderen Elementen des Theaters auszugehen. Das Bildlich-Visuelle wird zwar im jeweiligen theatralen Ereignis graduell mehr oder weniger stark betont, bleibt jedoch in jeder historischen und zeitgenössischen Theaterform ein unabdingbarer Teil des Ganzen, folglich ein Grundkonstituens des Theaters.
Historische Theaterbilder
Das Theaterbild wird gerne mit dem Bühnenbild erklärt, obwohl es sich eigentlich erst im Zuschauakt als gesamtes theatrales Bild, das etwa die Figuren, das Licht und atmosphärische Raumbedingungen mit einschließt, generiert (vgl. Englhart 2004). Wilsons Theaterbilder sind natürlich besonders prägnant und stehen so in einer eigenen Tradition. Vom barocken Ausstattungstheater lässt sich, immer in bewusster oder unbewusster Konfrontation mit der bürgerlichen Theaterreform, die Linie über die populären Bildmedien (den Bilderbogen, das Panorama, die Fotografie und dann den frühen Film) und die Schaulust betonenden kommerziellen Erfolgsbühnen des 19. Jahrhunderts bis zum Meininger Historismus und zur historischen Avantgarde ziehen. Das positivistische Bild des Naturalismus ging noch davon aus, ein Bild aufzunehmen und nicht ein Bild zu machen. Mit der Stilbühne und später der historischen Avantgarde wurde jedoch, analog zu Entwicklungen in der bildenden Kunst, die Eigenwertigkeit der theatralen Mittel betont. Das Weltverständnis erschöpfte sich keineswegs mehr in einem fotografischen Bild, die Surrealisten sahen vielmehr im Unbewussten eine höhere Wirklichkeit am Werk, welche Kausalität und Linearität negierte und einer assoziativen Verbindung bzw. Montage im Bild zuarbeitete. Da die Pariser Surrealisten unter dem Diktat André Bretons ein besonderes Problem mit dem Medium Theater hatten, wurde Antonin Artaud mit seinen Vorstellungen eines Theaters der Grausamkeit innerhalb der surrealistischen Gruppe kaum anerkannt.
Vom Surrealismus zu Wilson
Erst 1971 schrieb Louis Aragon über Wilsons Deafman Glance an Breton, er habe nun das gesehen, „was wir, die Urheber des Surrealismus, uns als Nachfolge erträumt haben“. Hier wäre die Bühne wirklich zum Traumbild geworden, man hätte „niemals etwas Schöneres auf dieser Welt gesehen“, denn es sei „zugleich das wache Leben und das Leben bei geschlossenen Augen, die Verwirrung zwischen der Welt aller Tage und der Welt jeder Nacht, Realität vermischt mit Traum, das gänzlich Unerklärliche im Blick des Tauben“ (Aragon 1976, 3ff.). Zu diesem Zeitpunkt war über die Neoavantgarde der 1960er Jahre der Einfluss der bildenden Kunst auf das avancierte Theater gestiegen.
Einflüsse der bildenden Kunst und des Tanzes
Wie etwa Tadeusz Kantor kam auch der 1941 geborene Wilson von der bildenden und angewandten Kunst zum Theater. Er hatte nach juristischen und wirtschaftlichen Studien in Paris Unterricht im Malen genommen und in New York Innenarchitektur studiert. Er folgte der Tendenz, das Tafelbild in den Raum und in die Bewegung zu erweitern, und ging über die ,armen‘ Performances hinaus, indem er sich auch an den eher abstrakten Formen des Tanzes, wie Georges Balanchines abstraktem Ballett und Merce Cunninghams Postmodern Dance orientierte. Wichtig wurden für ihn zudem theatrale Ästhetiken, die, von Kleist bis Craig, Figuren über ihre Materialeigenschaften und ihre Funktion als Marionette definierten; das Bewusstsein, das für Konstantin Stanislawskijs oder Lee Strasbergs Schauspielmethode essentiell ist, wäre ein störender Faktor und verhindere die Grazie in der Bewegung. Früh beeinflusst von seiner Arbeit mit Behinderten, suchte Wilson nach einer Bewegungstechnik und -ästhetik, die sich zu Beginn der 70er Jahre dezidiert von realitätssuchenden Programmen des Happenings und der Pop-Art absetzte. Hinzu kam die mechanische Verlangsamung der Bewegung der Wilson’schen Figuren, die keineswegs mehr natürlich spielten, sondern sich fast wie in Trance bewegten. In seinem avantgardistischen Antipsychologismus war ihm die Zusammenarbeit von John Cage und Merce Cunningham ein Vorbild, denn hier „illustrierte die Partitur nicht die Bewegungen. Das waren zwei Dinge, die getrennt voneinander existierten“ und dann „zusammengebracht wurden, wie bei einer Collage“. Gegen die Orientierung auf eine handlungstragende Figur setzte er die Weite des „Screens“, er freute sich darüber, dass er darin „mühelos sehen und hören konnte und dass es so viel Raum zum Überlegen gab, wie in einer Landschaft “ (Simhandl 1993, 35). Dieses Landschaftsbild erinnert an Gertrude Steins Geography, es integriert heterogene Elemente im Bild wie in einer surrealistischen Collage, so dass es wenig Sinn ergibt, es linear zu lesen. Rhythmus und visuelle Ästhetik machten Wilsons Werke zudem ideal anschlussfähig an die Oper, infolgedessen lag die Adaption musiktheatraler Werke wie dem Freischütz in seiner bekannten Inszenierung Black Rider nahe.
Wilsons Leonce und Lena
Die Vertonung von Georg Büchners Leonce und Lena durch Herbert Grönemeyer wurde von Wilson 2003 am Berliner Ensemble in Szene gesetzt. Eine Inszenierungsanalyse darf bei Wilson dezidiert nicht vom dramatischen Text ihren Ausgang nehmen. Warum das so ist, darüber gibt Wilson selbst Auskunft:
Normalerweise ist im Theater der Text das Primäre. Wenn einer ein Bühnenbild konzipiert, dient es nur zur Illustration. Ich denke anfangs nicht an eine Einheit, ich denke separatistisch und bringe das alles zusammen. Das Bühnenbild illustriert nicht den Text, der Text nicht unbedingt das Thema; das Thema wird zu einem autonomen Element, wie die Musik, wie die Körperbewegungen. […] Alle diese Elemente, die ich zuerst als voneinander unabhängig behandelt habe, werden dann, ähnlich wie bei einer Collage, zusammengefügt. (vgl. Simhandl 1993, 37)
Dennoch stellt man im ersten Durchsehen der Inszenierung fest, dass sich eine Handlung erkennen lässt, die sich, abgesehen von keineswegs sinnentstellenden Strichen, an Büchners dramatischem Text von 1836 orientiert. Wie Arien zwischen Rezitativen sind relativ regelmäßig etwa ein Dutzend kleine popsongartige Stücke eingefügt, die inhaltlich auffallend locker mit Büchners Text verbunden sind. Leider konnte Grönemeyer nicht darauf verzichten, zu diesen Stücken einen eigenen Text zu verfassen. Man hört Zeilen wie „Das Leben ist eine Zwiebel. Die Zähne kullern, ob wir wollen oder nicht“, und argwöhnt, der Komponist habe kaum den Kontext oder die philosophischen Anspielungen Büchners verstanden und munter darauf los assoziiert. Die entstandenen Popsongtexte entstammen wohl der Vorstellungswelt des Popstars. Sie sind außerordentlich banal und erreichen an keiner Stelle das Niveau des Büchner’schen Lustspiels.
Wilson orientiert sich auch in seinem Rhythmus an Büchners Vorlage. Fast jeder Szene entspricht ein eigenes Bild. Der Bühnenraum könnte in seiner geometrischen Anlage eine Bauhausbühne sein. Durch alle Szenenbilder hindurch wird er nach hinten mit einem panoramaartigen Prospekt abgeschlossen. Vor diesem Hintergrund werden scherenschnittartig Gestalten und abstrahierte Architekturfragmente sichtbar, die Personenkonstellationen und Handlungsorte andeuten. Im Vordergrund ist bis zur Rampe eine breite und tiefe, bis auf ganz wenige Requisiten fast leere Bühne zu sehen. Als Grundstruktur scheint dem Prospekt ein helles Quadrat zugrunde zu liegen. Es ist damit ein Positivbild des dunklen schwarzen Quadrats auf weißem Grund, das der Suprematist Kasimir Malewitsch kurz vor dem ersten Weltkrieg als Bühnenbild für die Oper Sieg über die Sonne erfand und das er dann 1920 in sein bekanntes Tafelbild transformierte.
Abbildung 2: Leonce und Lena / Regie: Robert Wilson. Foto: Brinkhoff / Mögenburg
Noch wichtiger als der Raum selbst ist das jeweilige Licht, das selbst Räume schafft. Es nimmt als Element der Inszenierung einen gleichberechtigten Platz neben Figuren und Bühnenbild ein. Mit seiner Hilfe teilt Wilson Räume auf, zeigt nur Teile der Figuren, die skulptural aufgebaut werden, und markiert ganze Räume, indem er etwa ein Zimmer durch ein auf den Bühnenboden projiziertes Quadrat andeutet.
Gesamtkunstwerk
Regie, Bühne und Lichtkonzept, für die Wilson allein verantwortlich zeichnet, werden zu einem Gesamtkunstwerk zusammengeführt, dem sich sogar die Figuren fast nahtlos einfügen, da sie Eigenschaften von Marionetten und materiellen Skulpturen haben.
Bildstrukturen
Die Haus- und Naturansichten Büchners werden bei Wilson zu abstrakten oder abstrahierenden Bildern der Architekturumrisse und Naturstrukturen. Büchners „Garten“ in der 1. und 4. Szene wird zu einem ganz hellem Hintergrundprospekt, der eine ungreifbare Landschaft vermuten lässt, wie man sie etwa aus Dalís Bildern kennt. König Peters „Zimmer“ in der 2. Szene ist ein weit in die Tiefe weisender Raum mit einem übergroßen Gitterfenster als Fluchtpunkt. In der 3. Szene, in der nach Büchner in einem „reichgeschmückten Saal“ die „Kerzen brennen“, sieht man bei Wilson durch Säulenschatten hindurch auf eine weite, leere, wüstenartige Landschaft wie in ein Bild von Giorgio de Chirico. Eine komplizierte technische Vorrichtung erlaubt die Illusion von mitten im Raum schwebenden Kerzen, was den surrealistischen Eindruck noch verstärkt. Mitte auf der Bühne liegt als „Ruhebett “ ein halb quer gestellter Baumstamm, garniert mit einem Hirschgeweih, das wie ein objet trouvé anmutet. Die Verknüpfung der einzelnen Theaterbildelemente scheint allein der Traumlogik und der Assoziation geschuldet zu sein. In den vier Italienszenen als Ort der Begegnung von Leonce und Lena schiebt sich in jeder Szene ein riesiges präexpressionistisches Bild, stilistisch an Van Gogh, Gauguin und Munch erinnernd, erst von links, dann von rechts, dann von oben und dann von unten langsam vor den hellen Hintergrund, so dass die Öffnung des Prospekts wie in einer Blende immer kleiner wird. Damit deutet Wilson an, dass sich in diesem Akt der Begegnung der Liebenden in Arkadien die Weite der philosophischen Spekulation zum künstlichen Landschaftsparadies verengt. Aus Italien, dem Sehnsuchtsort des frühen 19. Jahrhunderts, am heimatlichen Hof und damit im 3. Akt angekommen, sieht man wieder die Schatten der klassizistischen Säulen vor hellem Hintergrund. Von der spekulativen Philosophie zur Kunst und wieder zurück, so lautet das Bildprogramm Wilsons. Die Inszenierung spielt kongenial zu Büchners Vorlage auf die Paradoxa des erkenntnistheoretischen Skeptizismus der Moderne und die Frage nach der geistigen und materiellen Grundlage der menschlichen Existenz an.
Wilsons Figuren
Ähnliches wie für das Bühnenbild gilt für die Figuren selbst. Ihr Auftritt beginnt oft in slow motion als dunkler Schatten vor hellem Prospekt. Wenn sie den vorderen, fast leeren Teil der Bühne betreten, transformieren sie sich durch die Lichtregie zu dreidimensionalen Figuren. In diesem Übergang von zweidimensionalen Gestaltungen zu dreidimensionalen Verkörperungen deutet Wilson die medialen Spezifizitäten der Projektions- und Bildschirmmedien auf der einen und derjenigen der theatralen Medien wie Tanz, Theater und Marionettenspiel auf der anderen Seite an. Die Figuren sind stark und stilisierend geschminkt, sie verweisen auf die komischen Figuren der Commedia dell’arte sowie des Zirkus’ und agieren wie Kunstfiguren. Dabei spielen sie so mit Masken, dass Zweifel aufkommen müssen, ob es ein ,wahres‘ Gesicht hinter den Masken gibt.
Artistische Ideenkultur
Wilsons starker Stilisierungswille, der sich im Bühnenbild sowie in der Licht- und Personenführung einzeichnet, rekurriert auf die platonisch grundierte, in der Entwicklung der bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts besonders ausgeprägte Herrschaft der artistischen Ideenkultur (Beat Wyss). Aus Malewitschs Quadrat entsteigen Craigs Übermarionetten mit Kleist’scher Grazie. Bühnenräume, die Appia entstammen könnten, werden durch eine surrealistische, akausale Traumlogik und eine nichtaristotelische Dramaturgie verbunden. Wilsons Bilder stehen somit in der Tradition der Avantgarde des Theaters sowie der bildenden Kunst. Sein Eklektizismus macht ihn zu einem Vertreter des postmodernen Theaters, das der Ästhetik und den nichtdramatischen Beziehungsfeldern des Bildes besonders zuneigt. Wilsons Bilder besitzen keinen Referenten. Wie Büchners Figur des Valerio, die in der letzten Szene hintereinander mehrere Masken abnimmt, haben die Figuren Wilsons keine feste Identität und machen wenig Sinn. Die surreale Schönheit der Bilder fügt sich widerstandslos in die allumfassende, oft ebenfalls surreale Welt des heutigen Medienkonsums. Die affirmative Ästhetik der Postmoderne spiegelt sich in dieser Inszenierung. Wilsons Theater steht nicht nur für ein Theater der Bilder seit den 70er Jahren, sondern ist nun so sehr bei sich als seinem eigenen Spiegelbild angekommen, dass es sich bereits selbst historisiert hat.