TANNER
Kordon B (Untergeschoss XIV), Fahrstuhlschacht

Freitag, 29. September 2017
16:04 MSK / UTC+3

Man hörte das Kratzen der Krallen unter ihnen durch das Dach der Fahrstuhlkabine. Dem dunklen schmutzigen Ort, wohin sie sich in letzter Sekunde durch die kleine Wartungsklappe in der Decke in Sicherheit gebracht hatten und Tanner hoffte instän­dig, dass das auch stimmte. Nur ein paar dünne, unten mit Rigips-Platten verblendete Stahlstreben trennten sie von der Kabine und er war sicher, dass sie nur entkommen waren, weil das viele Blut im Flur den Geruchssinn des Tieres verwirrt hatte.

Mehr interessiert an seiner Beute, hatte es sich dem toten Mann im Treppenhaus zugewandt und Tanner fuhr sich nervös durch das Haar. Er blickte zu Kim, der neben ihm an die Schachtwand gelehnt saß und gerade sein blutiges Hosenbein mit einem Fetzen seines Ärmels verband, wo die Krallen ihn er­wischt hatten.

Nur gerade noch so, doch es hatte für zwei tiefe Schnitte in der Wade gereicht und nur knapp die Arterie verfehlt.

„Geht’s?“, raunte Tanner und Kim nickte schwach.

Er blickte empor, wo etwa eine halbe Körperlänge über ihnen der Ausgang zur nächsten Etage lag und atmete durch. Die Geräusche des fressenden Tieres drangen von unten über das Treppenhaus bis dorthin und man konnte das Gefühl haben, als ob sie von überall gleichzeitig kamen …

„Wenn diese Gittertür auf der Treppe der einzige Zugang ist, gibt es noch eines“, sprach Kim leise Tanners Gedanken aus, „Sind Sie absolut sicher, dass Sie da oben was gesehen haben?“

Tanner musterte ihn stumm. Er hatte die Gestalt in der einen Etage vorhin nur kurz bemerkt, aber in der Rückschau war es konsistent mit dem, was er wusste. Kräftig-schlanker Bau der Gliedmaßen, die wie bei einer Hyäne nach hinten abfallende Rückenlinie, bis zu 400 Kilogramm schwer. Zwei dolchartige Eckzähne. Beige und groß wie ein Löwe …

„Homotherium jagt im Rudel“, murmelte er und betrachtete elend die offene Tür über ihnen, „Wir sitzen hier wie in einer Mausefalle. Wir müssen hier weg. Weg und die anderen war­nen.“

Kim blickte erneut hoch in den Fahrstuhlschacht. Weit über hundert Fuß bis zur ersten Etage schätzte Tanner, doch abgese­hen von den grünlichen Notlichtern der dutzenden offenen Türen, sah man nur die schmalen Sprossen der Notleiter wie Schienen einer Eisenbahn ins Nichts führen.

Und am Ende nur noch Schwärze.

Sie hatten versucht, auf sich aufmerksam zu machen, aber es hatte niemand geantwortet und sie hatten sich nicht getraut, noch lauter zu rufen. Kim aber schaute jetzt leer auf die Leiter.

„Ich weiß nicht, ob ich das schaffe“, sagte er und sah auf sein blutiges Bein, stand dann jedoch auf.

Er verzog den Mund und griff nach einer der Sprossen.

„Ich bin direkt hinter Ihnen“, sagte Tanner und versuchte ein optimistisches Grinsen, obwohl es eine Tatsache war, dass sein Arm jetzt mehr schmerzte, als nach dem Tritt von Saschas Pferd.

Er nickte Kim zu und dieser trat auf die unterste Stufe, setzte aber aufstöhnend sofort wieder ab. Auf seiner Stirn jetzt Schweiß.

„Sie müssen allein gehen“, ächzte er, „Holen Sie …“

„Blödsinn“, schnitt ihn Tanner ab, „Dann müssen wir’s eben über die Treppe versuchen. Kommen Sie.“

Kim schaute skeptisch, doch dann gelang es ihm, mit Tanners Hilfe über die Schwelle aus dem Fahrstuhlschacht zu klettern.

„Sehen Sie was?“, fragte Tanner leise und hangelte sich ebenfalls nach oben, aber Kim schüttelte den Kopf.

Der Gang vor ihnen war leer, doch was die vielen dunklen Abzweigungen rechts und links verbargen, war nicht zu erken­nen. Kein Geräusch drang aus ihnen, unheimlich still war es geradezu, doch Tanner verscheuchte die Gedanken und deutete zum Treppenhaus. Vorsichtig schaute er um die Ecke zu der Treppe hinunter, aber die Stelle, wo das Tier die Leiche fraß, war nicht einsehbar. Man hörte es jedoch deutlich und Tanner atmete durch.

„Los“, raunte er dann und hakte Kim unter.

So leise wie möglich eilten sie die Treppe empor, doch sie hatten kaum eine Etage geschafft als ein dumpfes Grollen Tanner erstarren ließ. Wie Eiswasser lief es ihm über den Nacken und er wusste es sofort. Das Tier hatte sie bemerkt und er schob Kim weiter, als ein zweites Grollen ertönte.

Direkt über ihnen und Kim stöhnte, „Die kommunizieren.“

Dann hörte man bereits etwas Schweres durch das Treppen­haus herabspringen und sie stürzten die Treppe wieder hinunter. Doch auch von unten hörte man jetzt einen gewaltigen Knall, als das Tier auf der untersten Etage offenbar gegen das Eisen­gitter sprang.

Es fauchte wütend, aber Tanner ignorierte es. Er zerrte Kim zur Tür des Fahrstuhls und schwang sich mit ihm um den Rand. Ins Innere auf den schmalen Tritt, der innen einmal komplett um den Schacht lief. Der Tritt war kaum so breit wie ihre Füße und sie balancierten vorsichtig über den schmalen Grat zu der Notleiter.

Kims Miene verzerrte sich dabei vor Schmerz, aber dann begann er zu klettern. Viel zu langsam, während man draußen jetzt seltsames Fauchen aus dem Treppenhaus hörte. Das Tier konnte nicht mehr weit sein. Seine Schritte hallten auf den Metallstufen und Tanner begann, Kim von unten zu schieben.

„Machen Sie“, ächzte er und blickte nervös nach unten.

Zoos legten eine Mindesthöhe von 16 Fuß fest für Einfrie­dungen von Raubkatzen, doch sie hatten gerade einmal die Hälfte davon. Vielleicht etwas mehr und er drückte Kim weiter nach oben, als er plötzlich spürte, wie sich all seine Nacken­haare aufstellten.

Er fuhr herum und sah dem witternden Tier genau in die kleinen, im Licht seiner Taschenlampe böse funkelnden Augen. Den großen Kopf in den Fahrstuhlschacht gesteckt, blickte es genau zu ihm herauf und knurrte drohend. Die riesigen Eckzäh­ne im Halbdunkel glänzend.

Es setzte an zum Sprung, stoppte dann jedoch und hielt prüfend seine Pranke ins Leere. Es war größer als das andere. Mit seinen elaborierten Tigerstreifen vermutlich ein Männchen, doch man merkte, es war nicht in seinem gewohnten Territori­um. Es zog sich zurück, doch dann schnellte es gleich wieder vor und Tanner schrie. Bereits die ausgefahrenen Krallen in seinem Körper spürend, aber dann krachte das Tier neben ihm gegen die Wand und stürzte hinab auf die tiefer gelegene Fahrstuhldecke.

Nur schräg und seitwärts abgesprungen, hatten ihm Kraft und Präzision gefehlt, doch Tanner wusste, dass es den Fehler nicht noch einmal machen würde. Mit äußerster Kraft drückte er Kim weiter nach oben, während sich das Tier unter ihnen erneut bereit machte.

Zu nah, dachte Tanner nur stumm und eine seltsame Ruhe erfüllte ihn, als das Tier zu einem letzten Sprung ansetzte. Die kräftigen Hinterbeine stießen sich ab und dann wurde es hell. Licht aus der untersten Etage, registrierte Tanner verwirrt, ehe er begriff, dass die dünne Decke des Fahrstuhls die 400 Kilo­gramm schwere Masse darauf nicht mehr trug.

Mit einem wütenden Fauchen krachte das Tier durch das Dach und der Kopf des anderen Homotheriums erschien neben ihm. Der Schädel war deutlich kleiner, dachte Tanner mit seltsamer professioneller Distanz. Sicherlich ein Weibchen, doch die Tiere verschwanden schnell um die Ecke und dann hörte man sie gegen das Eisengitter springen.

„Weiter“, mahnte Tanner und tatsächlich schafften sie es bis zur nächsten Etage, doch dort stoppte Kim.

Er keuchte wild und man sah, dass er sein offenkundig immer weiter versteifendes Bein jetzt kaum noch bewegen konnte.

„Ich schwöre, dass diese Tiere nicht von uns kommen“, mur­melte er zwischen einzelnen Atemstößen, „Ich …“

„ … glaub’s Ihnen“, zischte Tanner, „aber jetzt müssen wir.“

Er versuchte erneut, Kim mitzuziehen, aber der Mann konnte nicht mehr und Tanner stoppte einen Moment. Er blickte zum Flur. Es sah genauso aus, wie die Etage unter ihnen.

Ein großer Mittelgang, darin ein paar Ölfässer und ein halbes dutzend seitliche Abzweigungen mit ein paar Stahltüren dazwi­schen. Sie wirkten stabil und Kim schien das gleiche zu denken. Er nickte bloß und fing an, sich vorsichtig über den schmalen Innenrand zur Tür des Schachts zu bewegen.

„Horizontal ist etwas besser“, ächzte er und schwang sich in den Flur, als unter ihnen im Schacht wieder die Tiere erschie­nen.

Wütend knurrend sahen sie empor und Tanner musterte sie schweigend. Zwei Etagen über ihnen glaubte er sich sicher, doch er war froh, als er es mit Kim in den Flur geschafft hatte.

„Probieren wir die da“, wies er leise auf die erste Tür hin, sah dann aber noch einmal zurück und erstarrte.

Das Männchen setzte zum Sprung an und er sah fassungslos, wie es mit einem riesigen Satz durch die kaputte Fahrstuhldecke sprang. Hinauf in den Flur der Etage unter ihnen.

Es war kein Gitter dort im Treppenhaus und er packte Kim. An den Fässern vorbei rasten sie zu der Tür, während man im Treppenhaus jetzt das Tier heraufspringen hörte. Tanner griff nach dem Knauf, doch die Tür war verschlossen und ihm wurde schlecht.

Das Tier war jetzt fast im Flur und sie stürzten zur nächsten Tür. Sie hatte eine Klinke und zu seiner Erleichterung war sie offen. Verstaubte Stahlschränke und Kisten voller Akten waren zu sehen. Dicht bedrucktes Endlospapier, doch es interessierte ihn nicht. Er schob Kim hinein, der kurz vor einer Ohnmacht schien. Er schwankte, machte sich jedoch an einem der Schrän­ke zu schaffen.

„Vorschieben“, stöhnte er und Tanner wunderte sich, woher er die Kraft nahm, schüttelte dann aber den Kopf.

„Ich muss hoch“, keuchte er und trat wieder in den Gang.

Er hörte Kim etwas sagen, doch er hatte keine Zeit, über den Sinn nachzudenken. Er musste die anderen warnen und tatsäch­lich war es auf dem Flur jetzt still. Das Tier war nicht mehr zu hören und nur noch aus dem Schacht unten drang Fauchen empor. Er blickte zu Kim, der ihm totenblass hinterherschaute und er ächzte stumm.

„Zumachen“, sagte Tanner tonlos und fuhr sich über die nas­se Stirn, als die Tür mit einem dumpfen Hallen ins Schloss fiel.

Er fühlte sich entsetzlich in dem langen dunklen Gang, doch dann lief er leise auf den Fahrstuhlschacht zu. Vorsichtig manö­vrierte er an den Fässern vorbei und er überlegte, die letzten Meter zu rennen. Er zitterte am ganzen Leibe und furchtbare Bilder rasten durch seinen Kopf.

Er hatte einige Homotheriumskelette ausgegraben über die Jahre. Die Gerippe ihrer Opfer. Die zerbrochenen Knochen, die Spuren der Zähne. Er kannte Bilder moderner Tierangriffe. Löwen, die ihre Beute erstickten, Kopfbisse von Jaguaren und die dolchartigen Wunden der Tiger. Er unterdrückte ein Würgen. Vorsichtig sah er um die Ecke des Gangs und seine Augen wurden weit.

Das Männchen stand genau vor ihm. Kalt witternd und er wusste, er hatte keine Chance, als der massige Körper auf ihn zusprang. Tanner rotierte zur Seite und das Tier verfehlte ihn, um krachend in den offensichtlich leeren Fässer zu landen, die laut scheppernd in alle Richtungen davonrollten.

Es schüttelte wütend den mächtigen Kopf über das grelle Geräusch, aber Tanner nutzte den Moment und stürzte zum Fahrstuhlschacht. Adrenalin jetzt durch jede Faser seines Körpers pumpend. Das Tier direkt hinter ihm, als heftiges Knallen es innehalten ließ. Kim, der von innen gegen die Tür schlug und es schaute verwirrt zurück, nahm dann aber wieder die Verfolgung Tanners auf.

Doch zu spät und er schlug einen Haken. Er packte den Rah­men der Fahrstuhltür und schleuderte sich herum. Es war ihm egal, ob er fiel, doch er fiel nicht und landete genau auf dem schmalen Tritt.

„Fuck you!“, stöhnte er, als eine kräftige Pranke um die Ecke nach ihm schlug und ihn nur um Haaresbreite verfehlte.

Hastig griff er nach der Leiter und sah keuchend zurück. Zu dem Tier, dessen Kopf jetzt im Schacht erschien. Ausdruckslos starrte es ihn an, doch es schien zu begreifen, dass es hier nicht an ihn herankam und blickte nach unten, wo das Weibchen herumlief.

Dann gab es ein dumpfes Grollen von sich und das Weibchen horchte auf. Es streckte sich und sprang auf die Reste des Fahr­stuhldachs und von dort in den Flur darüber, während der Kopf des Männchens gleichzeitig aus dem Schacht verschwand. Tanner hörte es die Treppe hinaufrennen und das flaue Gefühl einer schlimmen Vorahnung entstand in seinem Magen.

***

LUDMILLA
Reservat, Sektion 3, Südseite des Ismail-Bergs (Einsturz)

16:32 MSK / UTC+3

Von der Lichtung war nur noch ein dünner Streifen zu erken­nen. Ein paar Bäume, ein Fetzen Himmel und rechts einige Felsen. Mehr konnte man durch den Spalt zwischen der vorne abgesackten Decke der Höhle und einem riesigen Felsblock nicht mehr sehen und Ludmilla atmete durch. Für eine Sekunde vergessend, wie viel Kalkstaub nach dem Einsturz noch in der Luft hing. Sie musste husten und Sascha reichte ihr eine Feldflasche mit Wasser.

„Superservice“, bedankte sich Ludmilla mit einem nicht wirklich empfundenen Grinsen, doch das Mädchen lächelte stumm und zeigte zum Spalt.

„Und?“, fragte es und Ludmilla zögerte, schüttelte dann jedoch den Kopf.

Sie blickte zu Botha, der sich mit dem Scheinwerfer der Kamera vor den Tunnel gesetzt hatte, ihnen jetzt aber ein Zeichen gab, leise zu sein. Schweißperlen standen auf seiner Stirn, das Gesicht verdreckt und von Erschöpfung gekennzeichnet. Sie hatten versucht, das Geröll beiseite zu räumen, doch es war immer nur wieder aufs Neue nach­gerutscht.

Seth aber kam jetzt von der anderen Seite herüber, wo er gedöst hatte und blickte ebenfalls durch den Spalt auf die leere Lichtung.

„Ich weiß nicht, wie lange wir noch warten sollen“, murrte er und sah vorwurfsvoll zu Botha, „Wo bleiben Ihre Leute denn?“

Botha ignorierte ihn erst, doch Seth lief jetzt zu ihm herüber und Megan blickte ihm sorgenvoll hinterher. Die Stimmung war in der letzten Viertelstunde immer feindseliger geworden.

„Seth“, rief sie alarmiert und er drehte sich ärgerlich zu ihr.

„Was denn?“, fauchte er, „Wir können hier nicht bleiben.“

„Und wo wollen Sie hin?“, fragte Botha, „Doch nicht etwa in die Höhlen? Wissen Sie überhaupt, was das heißt?“

„Sagen Sie’s uns“, ätzte Seth, aber Botha gab nur ein ver­ächtliches Geräusch von sich, ohne ihn überhaupt anzusehen.

„So lange ich hier bin, gehen Sie da jedenfalls nicht runter.“

„Wollen Sie mich etwa daran hindern?“, entfuhr es Seth und er machte eine Bewegung auf Botha zu, der jedoch aufsprang.

„Was wird das?“, fuhr er Seth an und dieser stoppte, „Ich wollte nicht in diese Scheißhöhle! Sie waren das, aber jetzt tun Sie mal, was ich sage! Ist das klar?“

Seth musterte ihn wütend, aber Megan sah ihn jetzt eindring­lich an und er lief irgendetwas Ärgerliches murmelnd wieder zu ihr. Botha schaute ihm eisig nach und Ludmilla gab Sascha einen unsichtbaren Schubs. Das Mädchen verstand sofort.

„Hey, ähm, Jascha“, sagte es und grinste, als er zu ihr herübersah, „Denkst du, also … die Strauße kommen zurück?“

Er schaute irritiert, doch dann sah man den entfernten Anflug eines Lächelns auf seinem Gesicht und er kam zu ihnen herüber. Er beugte sich vor und spähte durch den Spalt nach draußen.

„Alle weg“, sagte er und schaute sich kurz zu den anderen um, wandte sich dann aber mit einem fast hilflosen Schulterzu­cken zu Ludmilla, „Tut mir leid, aber wir können hier wirklich nicht weg. Das ist der letzte Ort, von dem jemand weiß, wo wir sind.“

Sie nickte stumm.

„Ihre Leute in den Hubschraubern“, sagte sie leise und ver­kniff den Mund zu einem Strich, „Aber wer noch?“

Er wusste, worauf sie anspielte. Man konnte die Stelle am Fluss nicht einsehen, aber eine unheimliche Ruhe hatte sich nach dem Absturz der zweiten Maschine eingestellt. Nicht, dass Ludmilla erwartete, die Leute zu hören, aber es war auch kein anderer Hubschrauber gekommen.

Absolut nichts, was auf eine Rettungsaktion hindeutete und das konnte eigentlich nur bedeuten …

„Spielt keine Rolle“, sagte er, streifte dann jedoch plötzlich seine Uhr ab und zwinkerte Sascha zu, „Hey Große, kannst du vielleicht Mrs. McMonaghan bitten, unsere Zeit abzugleichen.“

Sascha schaute verwirrt, zuckte dann jedoch die Schultern und lief zu den anderen. Er grinste etwas und Ludmilla atmete aus.

„Ich glaube, dass es doch eine Rolle spielt“, raunte sie, „Dass niemand kommt, heißt doch, es gibt nicht nur hier ein Problem.“

„Sagen Sie mir was Neues“, murmelte er mit einem vorsichti­gen Seitenblick, „Aber vielleicht haben sie nur Schwierigkeiten mit dem Sender. Es wäre nicht das erste Mal.“

„Glauben Sie das wirklich?“, fragte sie bloß und sein Ge­sichtsausdruck bekam etwas Gequältes.

„Was ich glaube, spielt keine Rolle, aber sobald man uns sucht, wird das im erweiterten Umkreis der Landestelle sein. In den Höhlen haben wir praktisch keine Chance, gefunden zu werden.“

„Und wie groß ist die Chance, dass hier irgendjemand vorbei­kommt?“

Sie deutete zu dem Spalt zur Lichtung. Draußen war es still geworden, der Kadaver des Wolfes von den Straußen längst verzehrt und er verzog den Mund zu einem missmutigen Strich.

„Besser als für alles andere“, sagte er.

„Und das heißt was?“, fragte sie und sah zum Tunnel, „Geht es da überhaupt irgendwo raus? Die scheinen es ja zu denken.“

Er blickte ebenfalls zur Seite, nickte dann jedoch.

„Das Höhlensystem ist riesig und es gibt auch viele Ausgän­ge, aber sie sind nicht kartiert. Wir gehen da nicht rein.“

„Wegen der Bären?“

„Wegen der Bären“, wiederholte er, räusperte sich dann aber, „Ich frag mich nur, was McMonaghan hier will. Um eine Karte zu finden, die diese Höhle noch zeigt, mussten die schon sehr tief graben.“

„Ich glaube, das haben die auch. Ich hörte, sie haben was von den Deutschen. Aus dem Krieg“, sagte sie und er starrte sie an.

„Wie bitte?“, fragte er nach und sie zuckte die Achseln.

„Ich weiß auch nicht, was das soll, aber mal ehrlich“, sagte sie leise und musterte den Spalt skeptisch, „Ich denke nicht, dass hier so bald jemand vorbeikommt. Also wenn Sie irgend­eine Idee haben, wie wir hier anders rauskommen …“

Er musterte sie, in seinen Augen etwas Genervtes.

„Ich sagte doch, ich kenne mich hier nicht aus“, murmelte er und fuhr sich verstohlen über die Stirn, „Hören Sie Leutnant, ich will keine Panik verbreiten, aber das ist jetzt langsam die Zeit, wo die Bären auf Jagd gehen. Ich kann nicht ausschließen, dass …“

Er stoppte und Ludmilla folgte seinem Blick zu den anderen, die aufgestanden waren. Seth hatte eine große Spraydose aus seinem Rucksack geholt. Tierabwehrspray offenkundig, doch er kramte jetzt auch eine Taschenlampe hervor, sowie einen Elektroschocker. Seth testete ihn mit einem kurzen Knistern.

„Hören Sie Botha“, sagte er und warf einen vergewissernden Blick zu Megan, „tut uns leid, wenn es hier Missverständnisse gab, aber wir gehen da jetzt rein und nehmen die Kamera mit. Die Akkus halten nicht ewig und wenn Sie hier warten wollen, bitte, aber versuchen Sie nicht, uns aufzuhalten.“

Botha sah ihn an, als ob er einen Verrückten vor sich hätte.

„Viel Spaß“, lachte er dann aber und zog mit demonstrativer Gleichgültigkeit eine kleine fingerdicke LED-Taschenlampe aus der Hosentasche, „Nur was glauben Sie, was Sie da finden? Den Goldschatz vom Toplitzsee?“

„Das wissen Sie doch viel besser als ich“, sagte Seth und nahm achselzuckend seine Sachen auf, „Aber was auch immer. Wer mitwill … seien Sie mein Gast. Wer nicht, dos widanja.“

Er winkte Megan zu kommen und sie blickte hilflos zu ihnen, machte jedoch keine Anstalten, sich ihm zu widersetzen. Sie griff ihren Rucksack und strich Sascha, die sie missmutig anstarrte, mit einem unglücklichen Lächeln durch das Haar.

„Wenn ihr hierbleiben wollt, ist das okay. Wir schicken euch jemand, wenn wir rauskommen“, sagte sie und nickte ihnen zu, um dann Seth hinterherzulaufen.

„Ja, wenn“, murmelte Botha kopfschüttelnd, schlug dann jedoch wütend gegen den Stein, „Fuck!“

Er schien sich zu fragen, was er tun sollte und schließlich blickte er zu Ludmilla, aber die Wahrheit war, dass auch sie es nicht wusste. Sie konnte die beiden nicht zwingen zu bleiben, zumal der Gedanke hier zu warten, ihr auch nicht behagte.

„Wir können Sie nicht einfach gehen lassen“, sagte sie und musterte Botha, der jetzt mit seiner Taschenlampe aus dem Spalt leuchtete, „Es ist noch zu hell dafür.“

„Und sinnlos obendrein, wenn es keiner sieht“, murmelte er bitter, winkte dann jedoch Sascha zu sich und griff seine Schrotflinte, „Ich muss doch bescheuert sein. Kommt.“

Ludmilla griff hastig ihre Sachen und sie liefen den anderen nach. Seth und Megan waren noch nicht weit gekommen. Man hörte ihre leisen Stimmen, doch sie waren bereits hinter einer Biegung des gewundenen Tunnels verschwunden. Das Licht der Kamera schimmerte aus einer Abzweigung, wo sich der Gang teilte und Botha rief ihnen nach.

Seth erschien hinter einem Felsvorsprung und kniff geblendet von Bothas kleiner Taschenlampe die Augen zusammen.

„Ich wusste, dass Sie kein Narr sind“, sagte er knapp und sah zu Megan, die jetzt, im Gegensatz zu ihm, mit deutlicher Er­leichterung in der Miene neben ihm auftauchte, „Dahinten ist ein Luftzug. Wahrscheinlich geht es da raus.“

Botha hob seine Lampe und sah in den abzweigenden Gang vor ihnen, dann wieder zu Seth.

„Da geht’s abwärts“, sagte er stumm und schaute in den anderen Gang, „Wieso nicht da lang?“

„Da können Sie ja langgehen“, murrte Seth feindselig, doch Megan gab jetzt ein ärgerliches Geräusch von sich.

„Seth“, zischte sie und zuckte verlegen die Achseln, „Tut mir leid, wir sind mit den Nerven alle etwas runter. Nicht wahr?“

Seth zog eine Grimasse, nickte dann jedoch.

„Wir gehen jedenfalls hier lang“, beharrte er und wandte sich ab, doch Botha schob sich an ihm vorbei an die Spitze.

„Lassen Sie mich wenigstens vorangehen“, sagte er und steckte seine Taschenlampe an eine Halterung unter dem Lauf seiner Schrotflinte, „Und Sie erzählen mir inzwischen, was Sie hier wirklich suchen.“

Seth und Megan sahen sich an, doch Botha leuchtete jetzt in einen klaffenden Spalt in der Felswand und ging bereits los.

„Sollten wir nicht lieber ruhig sein?“, fragte Megan, aber Botha lachte nur und lief weiter, ohne sich umzudrehen.

„Die Tiere wittern uns eine Meile. Und je mehr sie von uns hören, umso besser. Reden Sie ruhig. Ich warte“, sagte er und nach kurzem Zögern räusperte sich Megan.

„Wie Sie vielleicht wissen, verlief hier im Zweiten Weltkrieg kurz die Frontlinie, aber haben Sie schon mal was vom Sonderkommando K gehört?“, fragte sie, doch er schüttelte den Kopf, „Es war eine geplante Expedition des Ahnenerbes. Der Forschungsgemeinschaft der SS und sie planten die sogenannte wehrwissenschaftliche und rassenkundliche Totalerforschung des Kaukasus.“

„Und?“

„Na ja, sie hatten eine Menge solcher Projekte. In Finnland, Schweden oder im Himalaja. Sie haben wahrscheinlich den Film mit Brad Pitt gesehen, aber der Punkt ist, dass das Son­derkommando K nie seine Arbeit aufnahm. Heinrich Himmler persönlich ließ das Unternehmen nach der Niederlage von Stalingrad abblasen.“

„Aber da endet die Story nicht“, riet Botha und lachte, offen­bar wenig beeindruckt, „Oder? Was hat das mit uns zu tun?“

„Nun, während der Dreharbeiten zu unserer Doku über den Jurassic Park des Dritten Reiches in Polen haben wir deutsche Akten in russischen Militärarchiven ausgewertet. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam vieles ans Licht und wir fanden Hinweise, dass es doch eine Expedition gab. Wir wissen nicht wieso, aber es ist sicher, dass Mitglieder des Ahnenerbes während der Sommeroffensive 42 in der Gegend waren. Sie bewegten sich mit der 5. SS-Panzerdivision und offensichtlich stießen sie hier auf etwas.“

„Genau hier?“, zweifelte Ludmilla, aber Megan nickte.

„Die Berichte erwähnen ein Höhlensystem unter dem Ismail-Gebirgszug. Wir haben alte Karten verglichen und wir nehmen an, sie meinten dieses hier.“

„Und auf was sind sie gestoßen?“

„Dazu ist nichts überliefert, aber es muss einige Leute beim Ahnenerbe so elektrisiert haben, dass sie noch im Oktober 44 und gegen den ausdrücklichen Willen Himmlers heimlich eine Expedition ausrüsteten, um hierherzugelangen“, sagte sie und nickte, als Botha stehenblieb, „Doch wirklich.“

„Ruhe!“, zischte er jedoch und starrte in die Dunkelheit, dabei konzentriert eine Reihe wuchtiger Felsblöcke in einem kleinen Raum vor ihnen ableuchtend.

Das Gewehr in die Hüfte gestützt, griff er jetzt vorsichtig in seine Hosentasche und förderte den Fetzen eines Stofftaschen­tuchs hervor. Er formte ein Kügelchen mit einer Hand und stopfte es in sein rechtes Ohr, legte die Waffe dann wieder an. Es war unheimlich und Ludmilla merkte, wie ihre Hand nervös mit dem Griff ihrer Pistole spielte.

„Bleib hinter mir“, raunte sie Sascha zu und lauschte eben­falls, aber sie hörte nichts.

Sekunden vergingen, doch dann setzte er das Gewehr wieder ab.

„Ich dachte, da war was“, murmelte er und ging langsam weiter, gab Megan dann ein Zeichen, „Sie erwähnten eine Expedition.“

„Ja und das Verrückte ist, dass der Krieg da praktisch schon verloren war. Die Wehrmacht war in vollem Rückzug, der Kaukasus weit hinter der Front. Ein Selbstmordkommando.“

„Klingt so“, bemerkte Botha nur und blickte durch den Raum mit den Felsen, bevor er weiterging, „Was wurde aus denen?“

Er sah zu ihr, als sie nicht antwortete und sie zuckte die Achseln.

„Man hat nie wieder von ihnen gehört. Wir haben ein paar Namen. Ein Professor Ittenbach, Altgermanist, sowie noch andere. Einige werden später noch einmal erwähnt, aber wir sind sicher, dass das nur auf dem Papier ist und die SS ihre Identitäten gezielt verschleierte. Die Wahrheit ist, dass es nie­manden gibt, der diese Leute nach dem 18. Oktober 1944 noch einmal gesehen hat.“

Ludmilla wusste nicht, was sie daraus machen sollte. Die Geschichte klang seltsam, aber Megan schien ehrlich überzeugt. Sie sah jetzt jedoch zu Seth, der sich hingekniet hatte und irgendetwas auf dem Boden untersuchte.

„Aber das sind nur Geschichten“, sagte Ludmilla und mus­terte ihn, doch Seth erhob sich wieder und warf kopfschüttelnd einige kleine Steinchen durch den Raum.

„Oh nein“, sagte er, „Ganz und gar nicht. Auf Trödelmärkten tauchen immer wieder Abzeichen und Ausrüstungsteile aus der Zeit auf. Wir haben mit einem Professor der Universität Maikop gesprochen und er hat uns eine alte Brieftasche mit dem Logo des Ahnenerbes gezeigt. Sondengänger hatten die Sachen neben den Überresten einiger deutscher Gebirgsjäger gefunden, die bei einer Lawine auf der Südseite des Ebrus verschüttet wurden.“

„Das sind zweihundert Kilometer von hier.“

„Ja schön und zweitausend bis Berlin. Was wollen Sie mir damit sagen?“, schnappte er zurück und sie rollte die Augen.

„Dass Sie nichts von hier haben“, versuchte sie, ruhig zu bleiben und räusperte sich, „Und dass Sie uns immer noch nicht gesagt haben, was Sie eigentlich wollen.“

„Tja, raten Sie doch mal“, sagte Seth und sah demonstrativ zu Botha, der ihn jedoch nur kalt anblickte, „Mal ehrlich, was könnte ein deutscher SS-Top-Ethnologe hier gesucht haben? Keine Idee?“

„Sagen Sie’s doch einfach“, murrte Botha.

„Na was wohl? Die waren hier, um ihren Übermenschen zu finden. Den Stammvater der arischen Rasse. Den Neandertaler, und zwar lebendig“, sagte Seth und Ludmilla hörte, wie sie ungläubig ächzte.

„Das kann nicht Ihr Ernst sein“, entfuhr es ihr und auch Botha schüttelte den Kopf, jetzt offenkundig sicher, es mit einem Irren zu tun zu haben, aber Seth winkte nur ab.

„Ist mir völlig klar, dass Sie das nicht zugeben wollen.“

„Bullshit“, murmelte Botha und wandte sich ab.

Offenbar nicht an weiteren Ausführungen interessiert und Seth schaute ihm beleidigt nach. Ihm schien etwas auf der Zun­ge zu liegen, doch Megan warf ihm jetzt einen missmutigen Blick zu und er konzentrierte sich wieder darauf, den Boden nach irgendwelchen Auffälligkeiten abzusuchen. Sascha beob­achtete ihn dabei misstrauisch und Ludmilla räusperte sich.

„Wer weiß, vielleicht findet er ja wirklich was“, sagte sie leise und mehr zu sich selbst, doch Sascha verzog den Mund.

„Wenn es Urmenschen gibt, dann bestimmt nicht hier“, sagte sie stumm, doch ihre Miene war irritierend düster dabei und Ludmilla fragte sich, was sie so sicher machte.

Es schien jedenfalls nicht mit Wissenschaft zu tun zu haben, doch vor ihnen verwandelte sich der Raum jetzt wieder in einen schmalen Gang. Botha signalisierte ihnen, zu warten und schritt dann vorsichtig sichernd hindurch. Er kam außer Sicht, nur das Flackern seiner Lampe noch sichtbar, aber dann rief er etwas.

Die anderen folgten ihm und eine länglich geschwungene Höhle mit einem schrägen Boden sowie ebenso gelagerter Decke tat sich vor ihnen auf. In der Ferne ein leises Rauschen und Ludmilla musste an die dutzenden Bäche denken, die von den Bergen hinab in die Moltschepa stürzten.

„Wasser“, bemerkte auch Megan, „Vielleicht geht’s da raus.“

„Vielleicht“, murmelte Botha bloß, als neben ihnen Seth vor­sichtig zu einer Ansammlung kleiner Steine balancierte, die sich in einer ausgewaschenen Mulde gesammelt hatten.

„Seht mal“, rief er und hob einen scharfkantigen Stein auf, „Ein Faustkeil. Oder?“

Es sah nur wie ein gewöhnlicher Felssplitter für Ludmilla aus und auch Seth schien es jetzt zu merken. Enttäuscht warf er ihn wieder weg und das Stück rollte über den schrägen Boden hinab, bis es in einer Felsspalte verschwand. Man hörte ein feines Klappern, als der Stein weiter fiel, aber da war noch etwas und Ludmilla horchte auf. Sie sah auch Sascha aufmerk­sam hinter sich blicken, doch das Geräusch war nicht zu fassen vor dem Hintergrund des rauschenden Wassers.

„Shit“, entfuhr es Seth derweil und sie drehte sich zu ihm, „Was ist das denn?“

Er starrte angewidert auf etwas Klebriges an seinem Schuh.

„Was Sie gesagt haben“, kommentierte Botha nur und kniete sich neben einem dunklen Fleck auf den Boden, stocherte dann kurz mit seinem Messer in der riechenden Masse, „Bär. Frisch.“

Das Wort jagte Ludmilla einen Schauer über den Rücken.

„Vielleicht sollten wir zurück“, sagte sie und Seth starrte sie an.

„Wie bitte?“, fuhr er sie wütend an, blickte zwischen ihr und Botha hin und her, „Stecken Sie unter einer Decke, oder was?“

Botha verdrehte nur die Augen. Er schien ebenfalls an Rück­kehr zu denken und tatsächlich war Seth allein in seiner Mei­nung.

„Vielleicht ist es wirklich besser“, sagte Megan und zuckte hilflos die Achseln, als Seth nur abfällig murrte.

„Idioten“, murmelte er und lief weiter, während Megan ihm seufzend hinterherblickte, sich dann aber zu Ludmilla drehte.

„Er ist sonst nicht so“, sagte sie leise, „Er hat … er ist nervös. Das hier ist, wofür er seit Jahren lebt.“

„Natürlich“, murmelte Ludmilla nur.

Das letzte, was sie gebrauchen konnten, war Streit. Nervöse Menschen machten Fehler. Gefährliche Fehler, wusste sie, als ihr erneut Saschas Miene auffiel. Sie blickte immer noch in die Richtung, aus der sie gekommen waren, doch ihre blassen Lip­pen waren jetzt einen Spaltbreit geöffnet.

„Ich hör was“, hauchte sie und dann ließ ein tiefes Grollen Ludmilla die Haare zu Berge stehen.

Etwas war in dem Gang hinter ihnen und dann spürte sie auch schon Bothas feste Hand auf ihrer Schulter.

„Kommen Sie“, sagte er knapp, „Wir können nicht mehr zurück. Los!“

Niemand widersprach und sie eilten, so schnell der schiefe Boden es erlaubte, zum Ausgang der Höhle. Der Gang machte hier einen Knick und war in beide Richtungen nur wenige Meter einsehbar, aber Botha schien es für eine besser zu ver­teidigende Stelle zu halten. Mit ausdrucksloser Miene visierte er in die große Höhle, aber es war nichts zu sehen.

Er murmelte leise einen Fluch und stand wieder auf.

„Äußerste Vorsicht“, raunte er Ludmilla zu und räusperte sich, als sie ihn kritisch musterte, „Behalten Sie’s für sich, aber Raubtiere schleichen sich auf einen Meter ran, ohne dass Sie es merken.“

„Sie machen doch Witze“, sagte sie stumm und er lächelte schief.

„Ich wünschte. Als ich noch in Südafrika war, fanden wir einmal eine Frau, die von einer Löwin getötet wurde. Sie hatte noch ihre Sichel und ein abgeschnittenes Grasbüschel in der Hand.“

Er zuckte die Achseln, drehte sich dann jedoch weg und gab ein Zeichen weiterzugehen. Er übernahm wieder die Spitze der Gruppe und Ludmilla zog als Letzte ihre Waffe. Sie überprüfte die Patronenkammer und lief den anderen hinterher. Nervös über die Felsen des jetzt niedriger werdenden Ganges stolpernd, hatte sie ständig das Gefühl, dass etwas direkt hinter ihr war. Irgendetwas, aber tatsächlich war nie etwas zu hören, wenn sie kurz anhielt, um sich zu vergewissern.

Das beinah Lauteste war das Keuchen ihres Atems, doch vorne sah man jetzt erneut eine größere kuppelförmige Felsen­kammer im Licht von Seths Kamera auftauchen. Das Rauschen wurde wieder lauter und verwandelte sich beim Näherkommen in ein Tosen.

Ein gewaltiger Wasserfall schoss neben einem schmalen Gang in die Tiefe und Ludmilla starrte stumm den Verlauf hinab. Es ging nicht senkrecht nach unten, doch der Winkel war steil und die Felsen im Laufe der Jahrtausende rund und glatt gescheuert.

Glitschiger moosgrüner Belag darauf und der Fall so tief, dass das Licht des Kamerascheinwerfers den Grund nicht erreichte. Um die hundert Meter, schätzte sie automatisch, sah Botha dann jedoch zu einem Tunnel auf der anderen Seite zeigen.

„Wir müssen da lang“, wies er zu einem überspülten Pfad hinter dem Wasserfall, „Ich hoffe, alle haben ihre Regenschir­me dabei.“

Er winkte hastig und sie sprangen durch die Wasserwand in eine enge stickig-feuchte Höhle dahinter. Alles glänzte, der Boden aalglatt, und sie hatte Mühe, ihr Gleichgewicht zu halten.

Dann schrie Megan plötzlich und ein riesiger Schatten schälte sich aus dem Hintergrund. Ein gewaltiges Brüllen erklang und noch bevor Ludmilla realisierte, was eigentlich geschah, rannte der Bär bereits auf sie zu. Dann spürte sie nur noch wie sie über den Rand des Wasserfalls kippte. Um sie herum schreiende, sich überschlagende Leiber. Wie auf einer Rutsche harte Stöße und Gischt, die ihr in die Augen sprühte. Es klatschte und überall war nur noch Wasser, Schwärze und das entsetzliche Gefühl zu ertrinken.

Dann kam sie wieder an die schäumende Oberfläche. Licht flackerte und sie griff danach, aber es war nur eine treibende Taschenlampe. Wild trug die Strömung Ludmilla davon, als plötzlich etwas brutal an ihrem Arm riss und sie fühlte, wie sie aus dem Wasser gezogen wurde.

Sie schrie panisch, doch dann merkte sie, dass es nicht der Bär war, sondern Megan, die sie aus einem tiefen runden Becken auf einen Felsvorsprung zerrte. Dann packte eine weitere Hand mit zu und sie sah auch Seth.

„Haben Sie die Scheißkamera gesehen?“, war seine erste Frage, doch sie konnte nur husten.

„Was … ?“, keuchte sie, blickte dann jedoch abgelenkt zur Seite, wo man von einer Stelle, wo das reißende Wasser unter einen Felsenbogen verschwand, das ferne Brüllen des Bären hörte.

Zu ihrer Linken sah sie jetzt jedoch auch Botha aus dem erstaunlich warmen und vermutlich geothermisch aufgeheizten Wasser krabbeln. Er stöhnte, griff dann aber an einer Stelle in das dunkle Wasser, wo etwas hell schimmerte und hatte plötz­lich seine Schrotflinte in der Hand. Ludmilla fasste erschrocken an ihr Holster, doch es war leer und sie verkniff den Mund.

Botha aber blickte jetzt wild zu ihnen und dann durch die Höhle. Der Bär, dachte Ludmilla erst, doch dann begriff sie, was er suchte …

„Sascha!“, schrie er und niemand antwortete, aber dann hörte man klägliches Wimmern auf der anderen Seite des Beckens.

Ludmilla richtete ihre Lampe in die Richtung und sah das Mädchen weinend auf einem winzigen Felsen hocken. Sascha schaute ängstlich in das schäumende, mit einem leichten Nebel überzogene Wasser, doch es war völlig klar, dass sie es nie allein durch die Strömung schaffen würde.

„Wir holen dich!“, rief Botha, doch Seth starrte ihn jetzt an.

„Das ist nur Ihre Schuld. Warum haben Sie nicht geschossen Sie verdammter Idiot?“, fluchte er und Botha rollte genervt die Augen, doch offenbar jetzt unter Schmerzen.

„Weil das alles nur schlimmer gemacht hätte“, stöhnte er frustriert, „Der wollte nichts von uns. Der hatte Angst!“

„Angst wovor?“, stutzte Seth und Botha fuhr sich durch das nasse Haar, sein Blick jedoch weiter auf das Mädchen gerichtet.

„Homotherium latidens“, murmelte er, ohne Seth anzusehen und man merkte, wie er einen Weg suchte, um zu Sascha zu kommen.

„Und was ist das?“, blaffte Seth und diesmal sah Botha ihn an.

„Na was wohl du dämliches Arschloch?“, platzte es dann aus ihm heraus, „Es ist eine verdammte Säbelzahnkatze! 400 Kilo Muskeln, gefährlich wie ein Löwe und schnell wie ein Panther. Zufrieden?“

Seth starrte ihn an.

„Mein Gott“, ächzte Megan und Ludmilla fühlte, wie ihr das Herz in die Knie sank.

Die Reihe dunkler Ausgänge in den hohen Felswänden hinter ihr wurde ihr auf einmal unheimlich bewusst. Sie saßen hier wie am Boden eines riesigen Fleischkessels.

„Helfen Sie mir“, sagte Botha jetzt jedoch.

Er setzte vorsichtig einen Fuß ins Wasser, aber Ludmilla stoppte ihn, als sie sah, wie sich seine Miene dabei verzog.

„Lassen Sie das“, hielt sie ihn auf und musterte seine Hüfte, wo er merkwürdig unbeweglich war, „Was haben Sie da?“

„Ich sagte doch Rheuma“, versuchte er ein Grinsen, doch irgendwie glaubte sie ihm nicht und drehte sich zu Seth.

„Wie gut können Sie schwimmen?“, fragte sie ernst und er hob abwehrend die Hände.

„Gar nicht gut“, schluckte er und sah zu den Tunneln, „Wir sollten erst mal Hilfe holen. So wie ich das sehe, ist sie nicht in Gefahr dort und es nutzt niemandem, wenn …“

„Schon gut, vergessen Sie’s“, schnitt sie ihn ab, als man plötzlich ein merkwürdiges Geräusch von oben hörte.

Etwas schlitterte den Wasserfall herunter und dann klatschte auch schon eine schwere Masse ins Wasser. Direkt neben Sascha und ein riesiger Kopf, wie der eines Löwen, tauchte auf.

Das Mädchen kreischte. Es sprang ins Wasser, wurde aber sofort von der Strömung weggerissen und Ludmilla überlegte nicht. Sie warf sich ins Wasser, während neben ihr Botha ent­setzlich laut zu feuern begann. Sie wusste nicht, ob er traf, aber es war ihr egal.

Ihr einziger Gedanke war, zu dem Mädchen zu kommen, bevor die Bestie es erreichte. Sie griff etwas Weiches, aber dann war die Strömung zu stark. Es riss sie unter den Felsen und fort in die Finsternis.

***

TANNER
Kordon B, Fahrstuhlschacht

17:03 MSK / UTC+3

Tanner presste sich dicht an die Leiter. Die Augen geschlossen und bewusst ein- und ausatmend versuchte er, das Schwindel­gefühl zu überwinden, welches ihn übermannt hatte. Kleine Sterne tanzten wie winzige Sonnen vor seinen Augen, doch immerhin nicht mehr so viele wie noch vor ein paar Sekunden und er konnte nicht ewig warten. Er atmete durch und öffnete die Augen.

„Mist“, murmelte er leise und schaute vorsichtig nach unten, wo der Boden des Fahrstuhlschachts nur noch als schwarzes Quadrat zu erahnen war.

Gut die Hälfte des Schachts hatte er geschafft, doch sein Op­timismus, in einer halben Stunde oben zu sein, war längst dahin. Immer langsamer war er geworden und für einen Moment glaubte er, die Schwindelattacken kämen zurück. Doch dann ging es wieder und er kletterte langsam höher. Dabei immer wieder vorsichtig zu der offenen Fahrstuhltür über ihm schau­end.

Nichts war dort zu sehen, doch das war genau das Problem. Er wusste, das Männchen war dort, aber es hatte offenkundig eingesehen, dass es hier im Schacht nicht an ihn herankam.

Musste es auch nicht, dachte Tanner unglücklich.

Die Säbelzahnkatze musste nur warten, bis er herauskam oder geschwächt herunterfiel. Mit dem Weibchen, das mit dem jäge­rischen Instinkt seiner Art immer eine Etage irgendwo unter ihm blieb, hatte er keine Möglichkeit zu entkommen und das war vielleicht noch nicht einmal das Schlimmste.

Je höher er kam, umso größer war die Gefahr, dass die beiden Raubtiere die Menschen oben entdecken würden. Tanner hatte die ganze Zeit gehofft, es würde irgendwann eine weitere Tür im Treppenhaus den Tieren den Weg nach oben versperren, doch entweder waren sie alle offen oder es gab einfach keine.

Er fluchte erneut. Er lockte die Tiere nur nach oben und die Menschen dort würden keine Chance haben. Frustriert ließ er seinen Blick über die Wände des Fahrstuhlschachts wandern.

Stahlstreben, alte Bretter, einige Rohre …

Rohre, durchfuhr es ihn.

Hastig brachte er sich in eine bessere Position und kramte sein Schweizer Offizierstaschenmesser heraus. Er betrachtete es kurz und fing an, gegen das Rohr zu schlagen. Es gab nur ein Klicken, aber er war sicher, dass es hallte. Irgendwo …

Dreimal kurz, dreimal lang, dreimal kurz. Wenn es ein Signal gab, was die anderen verstehen würden, dann SOS. Er schlug weiter gegen das Rohr. So doll er konnte schließlich, aber auch nach gut einer Minute kam keine Antwort und er bemerkte, dass er ins Schwitzen gekommen war. Enttäuscht steckte er das Messer wieder weg und kletterte weiter. Meter für Meter, dabei stetig verfolgt von den unheimlichen Geräuschen der Säbel­zahnkatzen im Flur.

Immer wieder hörte er sie vor den offenen Türen des Fahr­stuhlschachts, aber er sah sie jetzt nicht mehr. Fast, als ob sie das Interesse an ihm als Beute verloren hatten und nur noch mit ihm spielten. Ein entsetzliches Spiel und er versuchte, sich nur noch auf die schmutzig-versotteten Sprossen der Leiter zu fokussieren. Nichts sonst. Gar nichts und auf eine merkwürdige Art und Weise klappte es so gut, dass er überrascht war, als er merkte, wie weit er schon gekommen war.

Vier oder fünf Stockwerke noch bis oben, realisierte er und fuhr sich über die Stirn. Dann begann er, laut zu rufen. Es hallte durch den ganzen Gang und tatsächlich hörte man plötzlich jemanden antworten. Nah, über ihm.

Viel zu nah und bereits im Treppenhaus, begriff Tanner ent­setzt und plötzlich schien der Strahl einer Taschenlampe in den Fahrstuhlschacht.

„Doktor Tanner?“, rief jemand, der sich nach dem Mann aus dem Kontrollraum anhörte und Tanner schrie ihn an zu ver­schwinden.

Aber der Mann verstand nicht und dann hörte man bereits die beiden Tiere über die Treppe nach oben rennen. Dann schrilles Schreien und Tanner begann, so schnell er konnte, nach oben zu klettern. Er hörte Knirschen und reißende Geräusche durch die Tür und wider besseres Wissen sah er hin. Der Mann lag halb verdeckt, doch man sah überall glänzendes Blut auf dem Linoleumboden und das Hinterteil des Weibchens, während die Tiere offensichtlich fraßen. Es fauchte wütend und Übelkeit übermannte Tanner, als er plötzlich begriff.

Die Tür zum Treppenhaus. Er konnte sie schließen, solange die Tiere mit ihrer Beute beschäftigt waren und er zwang sich, wegzuschauen. So schnell und lautlos wie möglich kletterte er zu der Etage darüber und balancierte dann über den schmalen Tritt in den Flur.

Wieder sah er nur Kisten, an den Wänden Besen und einen Wischmop, sowie dutzende Plastikkanister mit Reinigungs­lauge. Nichts, was als Waffe zu gebrauchen war und er hielt sich nicht auf. Mit wild klopfendem Herzen eilte er um die Ecke ins Treppenhaus und zu seiner unendlichen Erleichterung sah er am Fuß der Treppe eine massive Gittertür.

Sie war offen, doch es gab einen Riegel und er schlich hinun­ter. Das Geräusch der fressenden Tiere hinter der Ecke ihn jetzt beinahe lähmend. Mehr Blut auf dem Boden fiel ihm auf, aber dann packte er die Tür. Er schob, doch sie bewegte sich nicht.

„Nein!“, entfuhr es ihm, doch dann ruckte sie mit einem lauten Quietschen.

Die Fressgeräusche erstarben und Tanner warf sich verzwei­felt gegen die Tür. Hinter der Ecke hörte er die Tiere kommen. Das Weibchen sprang wild fauchend um die Ecke, doch in diesem Moment schlug die Tür zu und er schob den Riegel vor. Genau als das Tier gegen die Gitterstäbe krachte.

„Bastard!“, platzte es mit einem wirren Lachen aus ihm heraus und er rannte zurück nach oben.

Gleich würde er oben sein und er schlug einen Haken, um die nächste Treppe zu nehmen. Er sah hoch und ihm gefror das Blut in den Adern.

Vor ihm stand das Männchen.

Es war nicht bei der Beute geblieben und es sprang sofort. Tanner duckte sich, aber auf den stählernen Stufen hatte das Tier keinen guten Halt und landete neben ihm. Er rotierte herum und rannte in den Flur. Stolperte dort über die Kisten, während hinter ihm das Tier bereits wieder nachsetzte. Er wusste, dass er tot war und griff den nächstbesten Gegenstand.

Einen der Plastikkanister. Er schleuderte ihn auf die riesige Säbelzahnkatze, doch das Tier zerfetzte ihn mit einem Pranken­hieb. Ein Regen intensiv chemisch riechender Reinigungslauge ergoss sich über seinen Kopf und es fauchte verwirrt. Kleine Seifenblasen jetzt in seinem Maul. Es kam näher, doch plötzlich rutschte es auf dem nun glitschigen Boden und Tanner reagierte nur. Er packte einen weiteren Kanister und riss die einfache Verschlusslasche auf. Dabei rückwärts zum Fahrstuhl rennend und mehr Lauge auf den Boden kippend.

Es schien ihm so sinnlos, doch dann sprang das Tier und wie er gehofft hatte, schlitterte es hilflos über die dicke Seifenlauge. Es fauchte wütend und bleckte seine riesigen Zähne, bereit zu dem letzten Angriff.

Keinen Meter mehr war es entfernt, doch dann schwang sich Tanner um die Türkante des Schachts ins Innere, während neben ihm 400 Kilo Säbelzahnkatze keinen Halt mehr fanden. Wie in Zeitlupe segelte das Tier in die Tiefe und erst das Ge­räusch, als es vierzig Meter unter ihm auf den Boden krachte, riss Tanner wieder zurück in die Gegenwart.

Mit einem irren Gefühl totaler und fassungsloser Erleichte­rung schwang er sich zurück in den Flur, als er vor sich etwas Großes realisierte. Einen Mann mit einem Betäubungsgewehr und neben ihm Aksjonowa, die ihn entsetzt anstarrte.

„Was ist passiert?“, stieß sie hervor und blickte auf die nassen Fußstapfen der Säbelzahnkatze auf dem Boden, „Mein Gott …“

„Ja“, sagte Tanner nur stumm und zeigte zu dem bewaffneten Mann, „Sagen Sie ihm, ein Weibchen ist eine Etage unter uns ausgesperrt. Doktor Kim ist unten. Ich weiß nicht genau, welche Ebene. Dritte von unten, glaube ich.“

Aksjonowa drehte sich zu dem Mann, doch er verstand wohl auch so und lief hastig die Treppe hinab, während sie schockiert an den Rand des Fahrstuhls trat, um herunterzuschauen.

„Nicht sehr wendig die Biester“, sagte er leer, aber sie schüt­telte immer noch entgeistert den Kopf.

„Sie haben es getötet“, ächzte sie, „wissen Sie, wie lange diese Spezies überlebt hat? Es sind die letzten ihrer Art.“

Tanner starrte sie eine Sekunde lang an.

„Da scheiß ich doch drauf!“, platzte es dann aus ihm heraus, als er plötzlich realisierte, was sie da gesagt hatte.

Tanner schluckte. Es war unglaublich, doch alles machte plötzlich Sinn. Kims Worte. Die seltsamen kleinen Augen der Tiere, das fehlende Brüllen und er begriff, dass diese Tiere nicht aus einem Labor stammen konnten.

Sie waren echt.

Überlebende Fossilien, aber da war noch etwas in Aksjonowas Augen.

„Die Hubschrauber sind nicht zurückgekehrt“, sagte sie und Tanner glaubte, sich verhört zu haben.

„Alle?“, ächzte er, doch sie nickte nur.

***

LUDMILLA
Reservat, Höhlensystem unter dem Ismail-Berg

17:22 MSK / UTC+3

Das Tosen des Wassers übertönte alles in der winzigen Fels­spalte. Wie eine undurchdringliche Wand schoss es irgendwo direkt vor Ludmilla von dem steinigen Überhang herab, unter den sie sich in Sicherheit gerollt hatte.

Zumindest war es das, was sie glauben wollte. Nass, zitternd vor Angst und ohne die im Strudel verlorene Lampe wie blind in der absoluten Schwärze der Höhle, betete Ludmilla, dass die Säbelzahnkatze sie nicht finden würde.

Das Tier war irgendwo da draußen. Sie hatte es gehört. Dicht hinter ihnen.

Ihnen …

Sie hatte keine Ahnung, wo Sascha war, seit die Strömung sie von ihr fortgerissen hatte und eine Woge der Übelkeit wogte durch Ludmillas Körper. Übelkeit und Scham. Scham, dass sie hier lag und das Mädchen irgendwo da draußen war.

Wenn, überhaupt …

„Bljad“, murmelte sie elend.

Sie hatte keine Ahnung, was sie tun sollte.

Sie wusste nicht einmal, wo sie sich befand oder wie lange sie durch den Tunnel getrieben worden war. Sekunden oder Minuten, bevor sie es in diese Nische geschafft hatte. Sie erinnerte sich nur noch an die Steine, gegen die ihr Körper ständig geschlagen war. Die verzweifelten Versuche, Halt zu finden, schließlich den Luftmangel.

Das Fauchen des Tieres und dann die Schreie.

Ludmilla unterdrückte ein Schluchzen. Sie wollte sich nicht vorstellen, dass Sascha etwas passiert war und sie verbannte den unerträglichen Gedanken, als sie plötzlich etwas durch den Wasserfall hörte. Irgendetwas undefinierbares und sie erstarrte vor Angst. Machte sich noch kleiner, als ob es irgendetwas nüt­zen würde. Heißkalte Panikwellen jagten ihren Nacken herab und furchtbarste Bilder schossen durch Ludmillas Kopf.

Vergeblich starrte sie in die absolute Schwärze vor ihr, doch natürlich sah sie nichts. Nur Finsternis und selbst das Geräusch war eigentlich kein richtiges Geräusch. Mehr ein tiefes Brum­men, dass man mehr spürte als hörte. Welches jede Faser ihres Leibes zu vibrieren lassen schien.

Und dann kam etwas langsam durch den Wasservorhang. Man merkte, wie das Rauschen sich veränderte und Ludmilla verspannte sich in Erwartung des Kommenden.

Sie wusste, es war vorbei.

Alles aus, doch dann rauschte das Wasser plötzlich wieder normal und man hörte etwas vor dem Wasserfall laut Platschen.

Das Tier entfernte sich und Ludmilla löste sich aus ihrer Erstarrung. Sie spürte Blut ihre Unterlippe herunterlaufen, wo sie zugebissen haben musste. Sie wischte es weg und begann, um sich zu tasten. Kleine Steine, Schlick und sie stöhnte erschrocken auf, als irgendwas über ihre Hand krabbelte.

Angeekelt schüttelte sie die kleine Kreatur ab, doch plötzlich schien es überall auf ihr zu krabbeln. Ludmilla schüttelte sich und atmete durch. Sie musste hier weg. Sie musste Sascha finden und tastete vorsichtig mit ihrem ausgestreckten Arm nach vorn, bis die Finger den Wasserfall spürten. Sie kroch darauf zu und ächzte leise, bevor sie langsam ihren Kopf durch den Vorhang aus Wasser schob. Ihr Herz wie wild rasend.

Jederzeit erwartete sie einen tödlichen Prankenhieb. Einen Biss, ein schreckliches Brüllen, aber es passierte nichts. Das Tier war fort und dann war sie plötzlich wie elektrisiert, als sie erneut den feinen Luftzug spürte.

Ein Ausweg, durchfuhr es sie und irgendwie hörten sich die Geräusche jetzt auch anders an. Alles schien zu hallen. Wie in einem großen Raum und sie tastete sich vor. Sie berührte das Wasser und dann einen großen runden Felsen, der sie an jenen erinnerte, an dem sie sich vorhin aus dem Strom gezogen hatte. Erstaunlich schwach erschien ihr die Strömung. Viel schwächer als es ihr in der Panik vorhin vorgekommen war und sie über­legte, sich hineingleiten zu lassen.

„Einfach machen Mila“, sprach sie sich leise Mut zu und stützte sich auf, als ein Plätschern ihr das Herz stehenbleiben ließ.

Ganz nahe und ihr wurde übel. Die Säbelzahnkatze war gar nicht weg. Sie hatte sie nur aus ihrer Deckung gelockt und Lud­milla schloss die Augen. Es plätscherte erneut und sie hoffte nur noch, dass alles schnell gehen möge, als plötzlich Licht ihr Gesicht traf.

„Ich dachte, ihr seid alle weg“, hörte sie Saschas weinerliche Stimme und sie starrte das Mädchen an.

Mit ihrer Taschenlampe in der Hand, die Strähnen klatsch­nass im Gesicht hängend, stand sie brusthoch im Wasser. Ein Bild des Elends und Ludmilla rutschte ergriffen zu ihr ins Was­ser, um sie an sich zu pressen. So fest sie nur konnte und für einen Moment fragte sie sich, wer wem besser tat.

„Alles gut, Kleines“, raunte sie dann und griff hastig nach der Lampe, „Hast du es gesehen?“

Sascha schüttelte kläglich den Kopf, zeigte dann aber in die Richtung, aus der sie gekommen sein mussten.

„Ich glaub, es ist zu den anderen“, sagte sie und Ludmilla schluckte, nickte dann jedoch mit neu gefundener Kraft.

„Sie müssen sich alleine helfen. Komm jetzt, wir müssen hier weg. Hier muss irgendwo ein Ausgang sein“, sagte sie, aber Sascha zeigte jetzt zu ihrem Gesicht.

„Du blutest“, sagte sie leise und Ludmilla ächzte stumm, auf einmal realisierend, wie verhängnisvoll es war.

Sie merkte deutlich, wie es über ihren Mundwinkel ran. Hinab über das Kinn und dann ins Wasser. Sie unterdrückte einen Fluch, als sie aus der Entfernung plötzlich etwas ins Wasser fallen hörte. Unregelmäßig und dann ein Schnauben.

„Schwimm!“, fuhr sie Sascha an und sie packte das Mädchen.

Zog sie mehr hinter sich her, als dass sie schwamm, aber hinter ihnen wurde das verfolgende Tier jetzt lauter. Schnell kam es näher und Ludmilla steuerte auf einen niedrigen Felsen­durchgang zu. Sie wusste nicht, ob es eine Sackgasse war, aber es gab nichts zu überlegen. Sie schob Saschas schmalen Körper hindurch und warf sich hinterher. In einen engen Tunnel, der fast bis zur Decke unter Wasser stand. Gewunden und voller Kanten, die ihr gegen die Schienbeine schlugen, doch das Gute war, dass der Tunnel zu eng für die Säbelzahnkatze zu sein schien.

Sie fauchte wütend am Eingang und man hörte schabende Geräusche, aber dann waren sie um eine Ecke herum und man hörte nichts mehr. Vor ihnen aber öffnete sich der Tunnel zu einem kleinen Raum mit einem Steinufer rechts, wo das Wasser sanft anlandete, bevor es ein Stück weiter erneut in einer Felsspalte verschwand.

„Da drüben“, wies Sascha auf einige schmale Tunnel vor ihnen hin und sie kletterten aus dem Wasser, als eine Ahnung Ludmilla sich plötzlich umdrehen ließ.

Sie blickte hoch und stöhnte auf. Mehrere große schwarze Löcher waren dort in der Felswand zu erkennen und aus einem hörte man das Kratzen von Krallen. Das Tier kam dort durch und sie schob Sascha schnell in einen der Tunnel, wo der Luft­zug am stärksten war.

„Du musst allein weiter“, sagte sie leer und stöhnte elend, als Sascha sie anstarrte, „Es … es kann mich wittern.“

Ein weiterer Blutstropfen sickerte über ihren Mundwinkel herab und sie drückte Sascha die Lampe in die Hand.

„Ich kann nicht“, wimmerte das Mädchen, „Bitte.“

Sie sah jämmerlich aus und zitterte, doch Ludmilla begriff, dass sie nicht gehen würde. Dann brach das riesige Tier hinter ihnen aus dem Loch und sie rannten los. Wieder durch einen schmalen Gang, doch bei weitem nicht so eng, wie der andere.

Die Säbelzahnkatze würde problemlos hindurchpassen, dach­te Ludmilla seltsam rational und stürzte in eine kleine Höhle, dann schon wieder weiter in einen nächsten Tunnel. Das entsetzliche Geräusch der Krallen auf dem Steinboden direkt hinter ihnen. Meter bloß noch und Sascha verschwand vor ihr um eine Ecke.

Der Tunnel machte dort einen scharfen Rechtsknick und sie rannte herum, als sie hinter sich Luftzug spürte. Das Tier hatte sie eingeholt und Ludmilla schlug einen verzweifelten Haken.

Sinnlos, dachte sie noch, aber das Tier bekam seine eigene Masse nicht unter Kontrolle. Mit einem dumpfen Klatschen krachte es mit dem Kopf gegen die Felswand. Betäubt sich schüttelnd, aber Ludmilla wusste, dass sie bestenfalls Sekunden gewonnen hatten. Sie stürmte weiter Sascha hinterher, als diese plötzlich stehenblieb.

„Lauf!“, schrie Ludmilla fassungslos, doch dann sah auch sie die hangargroße Höhle, die sich vor ihr auftat und auch die Felskante.

Wild schwankend konnte sie gerade noch abbremsen und starrte entsetzt hinunter auf den unterirdischen See, der gut zehn Meter unter ihr lag. Am Rand ein steiniges Ufer, nahezu surreal voll mit dutzenden aufgestellten Kreuzen und alles bedeckt von einem feinen weißen Dunst, der den See im Strahl der Taschen­lampe wie einen verwunschenen schwarzen Spiegel aussehen ließ.

Wie aus einer anderen Welt, durchfuhr es sie, doch es gab keinen Weg hinunter. Sie konnten hier nicht weg und hinter sich hörte sie jetzt Schritte. Die Säbelzahnkatze tapste näher und Ludmilla wusste, dass sie keine andere Wahl mehr hatten.

„Halt dich fest“, sagte sie und griff Saschas schmale Hand, als sie mitten im See ein seltsames dreieckiges Segel, dann einen schlanken Rumpf wie den eines Schiffes ausmachte.

So groß, dass sich ein ferner Teil ihres Verstandes fragte, warum sie es nicht gleich gesehen hatte. Dann aber war die Säbelzahnkatze heran. Das Tier knurrte, bereit zum Sprung, doch unten schoss plötzlich eine Signalrakete in die Höhe.

Es blitzte grell und die Hölle brach los, als binnen Sekunden hunderte Geschosse aus einem Maschinengewehr um sie herum in den Fels hagelten. Sascha schrie und sie sprangen in die Tiefe.

***