LUDMILLA
Ortszentrum von Guzeripl, Kreisverkehr Lesnajastraße

Mittwoch, 3. Januar 2018
11:24 MSK / UTC+3

Das Heck des verunfallten Kleinlasters sah aus, als wenn dort eine Bombe eingeschlagen hätte. Nur noch einen verdrehten Haufen Blech hatte die Kollision mit dem Laternenpfahl hinter­lassen und Ludmilla hatte Mühe, das Bild mit der noch fast intakten Fahrerkabine zu vereinen. Griesgrämig auf einer Ziga­rette kauend saß dort der Fahrer auf seinem Sitz und sprudelte einen Redeschwall in sein Smartphone, während Schucho mit mürrischer Miene danebenstand.

Wie üblich spielten seine Finger mit dem Funkgerät und Ludmilla musste lächeln. Im beheizten Wagen sitzend, mit einem Klemmbrett auf den Knien, hatte sie den deutlich angenehmeren Part bei der Aufnahme des Unfalls. Das Privileg des höheren Rangs, dachte sie amüsiert und schaute nach vorn durch die Windschutzscheibe des Lada Niwa.

Die Straße zum Reservat war hinter der kleinen Brücke über die Belaja gesperrt und ein dunkelgrüner Armeelaster stand auf­fällig unauffällig unter den dick verschneiten Bäumen. Davor langweilten sich ein paar Soldaten im Schnee und Ludmilla seufzte leise.

Sie war nicht oft hier gewesen seit den Vorfällen im Reser­vat, doch jedes Mal fühlte sie einen Stich im Herzen. Sie fragte sich, was hinter den Bergen vorging und für einen Moment hatte sie Bothas aufrecht sitzenden Leichnam vor Augen. Doch dann klopfte es plötzlich an ihre Seitenscheibe und sie sah auf.

Dick in eine Winterjacke mit Fellkapuze gehüllt, stand dort ein bärtiger Mann im Schnee und sie hob zu einer ärgerlichen Erwiderung auf die Störung an, als sie das stille gutmütige Lächeln in dem Gesicht erkannte.

„Doktor Tanner“, entfuhr es ihr und sie stieg schnell aus dem Wagen, „Ich … ich wusste nicht, dass Sie noch in Russland sind.“

„Unsere Ausgrabung ging bis letzte Woche. Aber morgen fliege ich zurück“, sagte er achselzuckend und sah zur Brücke, „Sie denken nicht, dass die mich vielleicht weiterlassen, oder?“

Sie stutzte kurz, doch dann bemerkte sie einen kleinen Blu­menstrauß in seiner Hand.

„Oh“, murmelte sie, „Nein, ich fürchte nicht. Aber wenn Sie wollen, kann ich die Soldaten da bitten, die Blumen abzulegen.“

Sie kam sich dumm vor, aber Tanner schien die Idee zu gefallen.

„Das wäre nett“, sagte er und reichte ihr den Strauß.

Sie legte ihn ab auf ihren Sitz und registrierte dabei Schuchos irritierten Blick. Sie machte ein genervtes Okay-Zeichen und wandte sich wieder Tanner zu.

„Er ist etwas misstrauisch“, lachte sie entschuldigend, doch Tanner reagierte nur mit einem freudlosen Lächeln.

„Sicher eine gute Eigenschaft für einen Polizisten“, bemerkte er in Gedanken, schaute aber erneut zum Reservat.

„Schon komisch das alles“, sagte sie hilflos und er nickte.

„Weiß irgendjemand, wie es weitergeht?“, fragte er und sie zuckte die Achseln.

„Alles ist unter staatlicher Verwaltung seit Beljakow ver­schwunden ist“, sagte sie und er verzog skeptisch den Mund.

„Staatliche Verwaltung“, wiederholte er, „Ich nehme an, dem Präsidenten würde es gefallen, sich neben einer Säbelzahnkatze ablichten zu lassen, aber, was heißt verschwunden? Verschwun­den so wie Seth, oder … ?“

„Letzteres“, sagte Ludmilla und er musterte sie irritiert.

Seth Rosenberg hatte sich über Nacht mit einer Fähre nach Georgien abgesetzt, aber Beljakow war wie vom Erdboden ver­schluckt. Man hatte Aksjonowa und Sascha befragt, doch auch sie hatten nichts gewusst. Angeblich …

„Man kann doch nicht einfach so verschwinden“, murmelte Tanner, aber Ludmilla zuckte nur stumm die Achseln.

Für die Presse war Beljakows plötzliches Verschwinden ein gefundenes Fressen gewesen. Es war nur natürlich bei dem reichsten Mann Adygejas, aber niemand hatte eine Verbindung zu dem Reservat gezogen. Nach allem, was sie wusste, hatten die Wolfsattacken aufgehört und die wenigen Artikel, die es über die Angelegenheit gab, hatten nur von Problemen mit einem privaten Rewilding-Projekt gesprochen.

Die meisten Berichte hatte es über das deutsche Flugzeug gegeben. Wilde Spekulationen über Geheimwaffen und Gold hauptsächlich und Ludmilla seufzte.

Sie hatte nichts von Müggenburg erzählt. Für sie war er nur Migunow, alles andere sinnlos …

„Ich kenne nur die Aussage von Doktor Kim. Bevor sie ihn abgeschoben haben“, sagte sie und blickte kurz vorsichtig über die Schulter, „Er ist der letzte, der Beljakow sah und soweit ich weiß, hat das Einsatzteam der Spezialpolizei kurz darauf nur noch seinen leeren Rollstuhl vorgefunden. Auch etwas Blut, aber zu wenig, um mehr daraus abzuleiten.“

„Erstaunlich“, sagte Tanner nachdenklich und ein winziges Lächeln spielte um seine Mundwinkel, „Wenn man bedenkt, was man sonst alles mit einem Blutstropfen anfangen kann.“

Sie zuckte erneut die Schultern.

„Manchmal zu viel, manchmal zu wenig“, sagte sie und ver­suchte ein Lachen, „Aber nie so wie man es gerade braucht.“

„Das Übliche“, sagte er, räusperte sich dann jedoch und zeigte auf den Strauß, „Entschuldigung, aber ich glaube, ich mache das doch lieber selbst. Darf ich?“

Ludmilla nickte nur. Sie gab ihm die Blumen zurück und er verabschiedete sich mit einem Nicken. Wie verloren stapfte er durch den Schnee davon und sie sah ihm hinterher. Als ob er es merken würde, drehte er sich jedoch noch einmal um und rief etwas.

Sie wollte antworten, doch in diesem Moment kam Schucho zurück und Tanner hatte sich bereits wieder umgedreht.

„Was hat der Typ da gesagt?“, fragte er und lehnte sich miss­mutig an den Wagen, aber sie konnte plötzlich nicht anders als zu grinsen.

„Du bist doch nicht etwa eifersüchtig?“, lachte sie, doch er schaute sie nur demonstrativ gelangweilt an.

„Quatsch“, sagte er, aber sie musterte ihn weiter amüsiert, bis er genervt die Achseln zuckte, „Was, Mila? Interessiert mich doch gar nicht. Ich … ich hab mich mit Dascha verabredet.“

„Dascha. So, so“, sagte sie bloß und er rollte die Augen.

„Was gibt’s da zu kichern?“, fragte er, aber sie konnte sich nicht helfen und begann, zu lachen.

„Ach Tjoma“, sprudelte es aus ihr heraus und sie lachte nur noch mehr als er ärgerlich die Arme in die Seiten stemmte, „Sie würde einem Riesenbaby wie dir nicht mal die Uhrzeit sagen.“

„Zu witzig“, brummte er beleidigt, musste dann jedoch eben­falls lachen, „Nun sag schon, was er wollte. Interessiert mich jetzt eben doch.“

„Auf einmal, klar“, ahmte sie belustigt seine Stimme nach, wurde dann jedoch ernst und aus einem Impuls heraus lehnte sie sich neben ihm an den Wagen, rückte dann an ihn heran, bis sie seine Wärme spürte, „Es war dieser amerikanische Wissen­schaftler, du Dummie. Er hat nur gesagt, dass ich Sascha grüßen soll, falls ich sie sehe.“

Schucho musterte sie verblüfft.

„Dieses Mädchen?“, stotterte er und beinah klang es schüch­tern.

„Ja, er sagt, sie wäre die Zukunft.“

***